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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

wähnt. Es ist richtig beobachtet worden, daß für unser deutsches Empfinden
das meiste, was von der Antike herüberkommt, zumal fast alles römische, "an
dem rhetorischen Erbe" trägt, während wir gerade "das Unbelauschte und Stille,
das auf sich selber Gestellte und unbewußt Kräftige" als unserer Eigenart ge¬
mäß empfinden. Als wesensfremd empfinden wir die zu starke Neigung zur
Stilisierung an der Antike: sie strebt danach, zu schnell harmonisch abzuschließen und
wird, weil die schöne Form als Hauptbedürfnis empfunden wird, der ganzen Fülle des
Inhalts nicht immer gerecht, die Form wird dann leicht bloß Schmuck und Zierde. Wir
verzichten lieber auf die unbedingte Schönheit der Form, damit doch nur ja der
wertvolle Inhalt zu starkem Ausdruck komme, und bleiben uns dauernd bewußt, daß
immer ein Rest bleibt -- auf allen Gebieten der Kultur -- für den keine klar zu
fassende Form schon vorhanden wäre. Sieht die Antike oft die Dissonanzen
überhaupt noch nicht und gelangt daher leichter zur Harmonie, so verzichten
wir lieber auf eine Harmonie um jeden Preis, lassen aber bei unserem uner¬
bittlichen Wahrheits- und Wirklichkeitssinn die erkannten Dissonanzen antönen,
in der Hoffnung, es werde einst gelingen, auch sie aufzulösen. Die "Andacht
zum Unbedeutenden" ist uns so urgemäß, wie sie der Antike ursremd war.
Nicht jene mechanisch zählende und messende Andacht, die nach einem Wort des
Präsidenten Wilson, Schule und Universität geradezu zu Agenturen des
Philistertums werden läßt, sondern jene Andacht, die sich bewußt bleibt, daß
das unendlich Kleine zum ausschlaggebenden Faktor im Gefüge des Ganzen
werden kann, während dem Hellenen das Un-Bedeutende gleichwertig mit dem
nichts Bedeutenden war.

Die Sonderaufgabe der humanistischen Schulen muß es einmal bilden, auf
Grund von Quellenkenntnis eine Vorstellung davon zu erwecken, wie infolge der
hervorragenden Sonderbegabung des Hellenen nach der intellektuellen und
ästhetischen Seite, in Anbetracht des damals vergleichsweise geringeren Stoff¬
inhalts und -umfangs, ein in seiner Art Höchstes an Vollendung des Ausdrucks
geleistet worden ist, das dadurch seine unverlierbare Vorbildlichkeit, eben seine
propädeutische Bedeutung erhält. Und die Aufgabe wird weiter dahin gehen,
die Wirkungen dieser Leistung im Lauf der geschichtlichen Entwicklung, zumal
vermittels des Römertums auch für die Gestaltung deutscher Verhältnisse ein¬
sehen zu lehren. Wird dabei auch die Einsicht in die Grenzen des antiken
Könnens, die Einsicht, daß ihre Formen für den reichen Inhalt nicht mehr
ausreichen, erkannt, so bleibt doch die Bewertung der auf "Verstand und Maß
und Klarheit" gerichteten "Griechheit" in der Geschichte gerechtfertigt. Die
Sonderaufgabe wiederum der realen Vollanstalten, wobei Realgymnasium und
Oberrealschule sich unter sich auseinandersetzen müssen, wird es sein, nebst einer
breiteren Einführung in die unsere heutigen Zustände bedingenden naturwissen¬
schaftlichen Grundlagen, aus den Quellen diejenigen Einflüsse auf die deutsche
Volkskultur kennen zu lehren, die von Frankreich und England ausgegangen
sind. Diese werden bei den Gymnasien wesentlich dem Geschichtsunterricht und


Humanisten und Germanisten

wähnt. Es ist richtig beobachtet worden, daß für unser deutsches Empfinden
das meiste, was von der Antike herüberkommt, zumal fast alles römische, „an
dem rhetorischen Erbe" trägt, während wir gerade „das Unbelauschte und Stille,
das auf sich selber Gestellte und unbewußt Kräftige" als unserer Eigenart ge¬
mäß empfinden. Als wesensfremd empfinden wir die zu starke Neigung zur
Stilisierung an der Antike: sie strebt danach, zu schnell harmonisch abzuschließen und
wird, weil die schöne Form als Hauptbedürfnis empfunden wird, der ganzen Fülle des
Inhalts nicht immer gerecht, die Form wird dann leicht bloß Schmuck und Zierde. Wir
verzichten lieber auf die unbedingte Schönheit der Form, damit doch nur ja der
wertvolle Inhalt zu starkem Ausdruck komme, und bleiben uns dauernd bewußt, daß
immer ein Rest bleibt — auf allen Gebieten der Kultur — für den keine klar zu
fassende Form schon vorhanden wäre. Sieht die Antike oft die Dissonanzen
überhaupt noch nicht und gelangt daher leichter zur Harmonie, so verzichten
wir lieber auf eine Harmonie um jeden Preis, lassen aber bei unserem uner¬
bittlichen Wahrheits- und Wirklichkeitssinn die erkannten Dissonanzen antönen,
in der Hoffnung, es werde einst gelingen, auch sie aufzulösen. Die „Andacht
zum Unbedeutenden" ist uns so urgemäß, wie sie der Antike ursremd war.
Nicht jene mechanisch zählende und messende Andacht, die nach einem Wort des
Präsidenten Wilson, Schule und Universität geradezu zu Agenturen des
Philistertums werden läßt, sondern jene Andacht, die sich bewußt bleibt, daß
das unendlich Kleine zum ausschlaggebenden Faktor im Gefüge des Ganzen
werden kann, während dem Hellenen das Un-Bedeutende gleichwertig mit dem
nichts Bedeutenden war.

Die Sonderaufgabe der humanistischen Schulen muß es einmal bilden, auf
Grund von Quellenkenntnis eine Vorstellung davon zu erwecken, wie infolge der
hervorragenden Sonderbegabung des Hellenen nach der intellektuellen und
ästhetischen Seite, in Anbetracht des damals vergleichsweise geringeren Stoff¬
inhalts und -umfangs, ein in seiner Art Höchstes an Vollendung des Ausdrucks
geleistet worden ist, das dadurch seine unverlierbare Vorbildlichkeit, eben seine
propädeutische Bedeutung erhält. Und die Aufgabe wird weiter dahin gehen,
die Wirkungen dieser Leistung im Lauf der geschichtlichen Entwicklung, zumal
vermittels des Römertums auch für die Gestaltung deutscher Verhältnisse ein¬
sehen zu lehren. Wird dabei auch die Einsicht in die Grenzen des antiken
Könnens, die Einsicht, daß ihre Formen für den reichen Inhalt nicht mehr
ausreichen, erkannt, so bleibt doch die Bewertung der auf „Verstand und Maß
und Klarheit" gerichteten „Griechheit" in der Geschichte gerechtfertigt. Die
Sonderaufgabe wiederum der realen Vollanstalten, wobei Realgymnasium und
Oberrealschule sich unter sich auseinandersetzen müssen, wird es sein, nebst einer
breiteren Einführung in die unsere heutigen Zustände bedingenden naturwissen¬
schaftlichen Grundlagen, aus den Quellen diejenigen Einflüsse auf die deutsche
Volkskultur kennen zu lehren, die von Frankreich und England ausgegangen
sind. Diese werden bei den Gymnasien wesentlich dem Geschichtsunterricht und


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[0608] Humanisten und Germanisten wähnt. Es ist richtig beobachtet worden, daß für unser deutsches Empfinden das meiste, was von der Antike herüberkommt, zumal fast alles römische, „an dem rhetorischen Erbe" trägt, während wir gerade „das Unbelauschte und Stille, das auf sich selber Gestellte und unbewußt Kräftige" als unserer Eigenart ge¬ mäß empfinden. Als wesensfremd empfinden wir die zu starke Neigung zur Stilisierung an der Antike: sie strebt danach, zu schnell harmonisch abzuschließen und wird, weil die schöne Form als Hauptbedürfnis empfunden wird, der ganzen Fülle des Inhalts nicht immer gerecht, die Form wird dann leicht bloß Schmuck und Zierde. Wir verzichten lieber auf die unbedingte Schönheit der Form, damit doch nur ja der wertvolle Inhalt zu starkem Ausdruck komme, und bleiben uns dauernd bewußt, daß immer ein Rest bleibt — auf allen Gebieten der Kultur — für den keine klar zu fassende Form schon vorhanden wäre. Sieht die Antike oft die Dissonanzen überhaupt noch nicht und gelangt daher leichter zur Harmonie, so verzichten wir lieber auf eine Harmonie um jeden Preis, lassen aber bei unserem uner¬ bittlichen Wahrheits- und Wirklichkeitssinn die erkannten Dissonanzen antönen, in der Hoffnung, es werde einst gelingen, auch sie aufzulösen. Die „Andacht zum Unbedeutenden" ist uns so urgemäß, wie sie der Antike ursremd war. Nicht jene mechanisch zählende und messende Andacht, die nach einem Wort des Präsidenten Wilson, Schule und Universität geradezu zu Agenturen des Philistertums werden läßt, sondern jene Andacht, die sich bewußt bleibt, daß das unendlich Kleine zum ausschlaggebenden Faktor im Gefüge des Ganzen werden kann, während dem Hellenen das Un-Bedeutende gleichwertig mit dem nichts Bedeutenden war. Die Sonderaufgabe der humanistischen Schulen muß es einmal bilden, auf Grund von Quellenkenntnis eine Vorstellung davon zu erwecken, wie infolge der hervorragenden Sonderbegabung des Hellenen nach der intellektuellen und ästhetischen Seite, in Anbetracht des damals vergleichsweise geringeren Stoff¬ inhalts und -umfangs, ein in seiner Art Höchstes an Vollendung des Ausdrucks geleistet worden ist, das dadurch seine unverlierbare Vorbildlichkeit, eben seine propädeutische Bedeutung erhält. Und die Aufgabe wird weiter dahin gehen, die Wirkungen dieser Leistung im Lauf der geschichtlichen Entwicklung, zumal vermittels des Römertums auch für die Gestaltung deutscher Verhältnisse ein¬ sehen zu lehren. Wird dabei auch die Einsicht in die Grenzen des antiken Könnens, die Einsicht, daß ihre Formen für den reichen Inhalt nicht mehr ausreichen, erkannt, so bleibt doch die Bewertung der auf „Verstand und Maß und Klarheit" gerichteten „Griechheit" in der Geschichte gerechtfertigt. Die Sonderaufgabe wiederum der realen Vollanstalten, wobei Realgymnasium und Oberrealschule sich unter sich auseinandersetzen müssen, wird es sein, nebst einer breiteren Einführung in die unsere heutigen Zustände bedingenden naturwissen¬ schaftlichen Grundlagen, aus den Quellen diejenigen Einflüsse auf die deutsche Volkskultur kennen zu lehren, die von Frankreich und England ausgegangen sind. Diese werden bei den Gymnasien wesentlich dem Geschichtsunterricht und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/608>, abgerufen am 24.08.2024.