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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Augustus

war ihni lieb und merkwürdig und gab ihni Anlaß zum Nachdenken, und keiner
war schlechter, als er selbst sich fühlte.

Augustus beschloß, durch die Welt zu wandern und einen Ort zu suchen,
wo es ihm möglich wäre, den Menschen irgendwie zu nützen und ihnen sein,
Liebe zu zeigen. Er mußte sich daran gewöhnen, daß sein Anblick niemanden
mehr froh machte; sein Gesicht war eingefallen, seine Kleider und Schuhe waren
die eines Bettlers, auch seine Stimme und sein Gang hatten nichts mehr von
dem, was einst die Leute erfreut und bezaubert hatte. Die Kinder fürchteten
ihn, weil sein struppiger grauer Bart lang herunterhing, die Wohlgekleideten
scheuten seine Nähe, in der sie sich unwohl und beschmutzt fühlten, und die
Armen mißtrauten ihm als einem Fremden, der ihnen ihre paar Bissen weg¬
schnappen wollte. So hatte er Mühe, den Menschen zu dienen. Aber er lernte
und ließ sich nichts verdrießen. Er sah ein kleines Kind sich nach der Türklinke
des Bäckerladens strecken und sie mit dem Händchen nicht erreichen. Dem konnte
er helfen, und manchmal fand sich auch einer, der noch ärmer war als er selbst,
ein Blinder oder Gelähmter, dem er ein wenig auf seinem Wege helfen und
wohltun konnte. Und wo er das nicht konnte, da gab er doch freudig das
Wenige, was er hatte, einen hellen gütigen Blick und einen brüderlichen Gruß,
eine Gebärde des Verstehens und des Mitleidens. Er lernte es auf seinen
Wegen den Leuten ansehen, was sie von ihm erwarteten, woran sie Freude
haben würden: der eine an einem lauten frischen Gruß, der andere an einem
stillen Blick und wieder einer daran, daß man ihm auswich und ihn nicht störte.
Er wunderte sich täglich, wieviel Elend es auf der Welt gäbe, und wie vergnügt
doch die Menschen sein können, und er fand es herrlich und begeisternd, immer
wieder zu sehen, wie neben jedem Leid ein frohes Lachen, neben jedem Toten-
geläut ein Kindergesang, neben jeder Not und Gemeinheit eine Artigkeit, ein
Witz, ein Trost, ein Lächeln zu finden war.

Das Menschenleben schien ihm vorzüglich eingerichtet. Wenn er um eine
Ecke bog und es kam ihm eine Horde Schulbuben entgegengesprungen, wie blitzte
da Mut und Lebenslust und junge Schönheit aus allen Augen, und wenn sie
ihn ein wenig säuselten und plagten, so war das nicht so schlimm; es war
sogar zu begreifen, er fand sich selber, wenn er sich in einem Schaufenster oder
beim Trinken im Brunnen gespiegelt sah, recht welk und dürftig von Ansehen.
Nein, für ihn konnte es sich nicht mehr darum handeln, den Leuten zu gefallen
oder Macht auszuüben, davon hatte er genug gehabt. Für ihn war es jetzt
schön und erbaulich, andere auf jenen Bahnen streben und sich fühlen zu sehen,
die er einst gegangen war, und wie alle Menschen so eifrig und mit soviel
Kraft und Stolz und Freude ihren Zielen nachgingen, das war ihm ein wunder¬
bares Schauspiel. .

, Indessen wurde es Winter und wieder Sommer, Augustus lag lange Zeit
in einem Armenspital krank, und hier genoß er still und dankbar das Glücks
arme niedergeworfene Menschen mit hundert zähen Kräften und Wünschen am


Augustus

war ihni lieb und merkwürdig und gab ihni Anlaß zum Nachdenken, und keiner
war schlechter, als er selbst sich fühlte.

Augustus beschloß, durch die Welt zu wandern und einen Ort zu suchen,
wo es ihm möglich wäre, den Menschen irgendwie zu nützen und ihnen sein,
Liebe zu zeigen. Er mußte sich daran gewöhnen, daß sein Anblick niemanden
mehr froh machte; sein Gesicht war eingefallen, seine Kleider und Schuhe waren
die eines Bettlers, auch seine Stimme und sein Gang hatten nichts mehr von
dem, was einst die Leute erfreut und bezaubert hatte. Die Kinder fürchteten
ihn, weil sein struppiger grauer Bart lang herunterhing, die Wohlgekleideten
scheuten seine Nähe, in der sie sich unwohl und beschmutzt fühlten, und die
Armen mißtrauten ihm als einem Fremden, der ihnen ihre paar Bissen weg¬
schnappen wollte. So hatte er Mühe, den Menschen zu dienen. Aber er lernte
und ließ sich nichts verdrießen. Er sah ein kleines Kind sich nach der Türklinke
des Bäckerladens strecken und sie mit dem Händchen nicht erreichen. Dem konnte
er helfen, und manchmal fand sich auch einer, der noch ärmer war als er selbst,
ein Blinder oder Gelähmter, dem er ein wenig auf seinem Wege helfen und
wohltun konnte. Und wo er das nicht konnte, da gab er doch freudig das
Wenige, was er hatte, einen hellen gütigen Blick und einen brüderlichen Gruß,
eine Gebärde des Verstehens und des Mitleidens. Er lernte es auf seinen
Wegen den Leuten ansehen, was sie von ihm erwarteten, woran sie Freude
haben würden: der eine an einem lauten frischen Gruß, der andere an einem
stillen Blick und wieder einer daran, daß man ihm auswich und ihn nicht störte.
Er wunderte sich täglich, wieviel Elend es auf der Welt gäbe, und wie vergnügt
doch die Menschen sein können, und er fand es herrlich und begeisternd, immer
wieder zu sehen, wie neben jedem Leid ein frohes Lachen, neben jedem Toten-
geläut ein Kindergesang, neben jeder Not und Gemeinheit eine Artigkeit, ein
Witz, ein Trost, ein Lächeln zu finden war.

Das Menschenleben schien ihm vorzüglich eingerichtet. Wenn er um eine
Ecke bog und es kam ihm eine Horde Schulbuben entgegengesprungen, wie blitzte
da Mut und Lebenslust und junge Schönheit aus allen Augen, und wenn sie
ihn ein wenig säuselten und plagten, so war das nicht so schlimm; es war
sogar zu begreifen, er fand sich selber, wenn er sich in einem Schaufenster oder
beim Trinken im Brunnen gespiegelt sah, recht welk und dürftig von Ansehen.
Nein, für ihn konnte es sich nicht mehr darum handeln, den Leuten zu gefallen
oder Macht auszuüben, davon hatte er genug gehabt. Für ihn war es jetzt
schön und erbaulich, andere auf jenen Bahnen streben und sich fühlen zu sehen,
die er einst gegangen war, und wie alle Menschen so eifrig und mit soviel
Kraft und Stolz und Freude ihren Zielen nachgingen, das war ihm ein wunder¬
bares Schauspiel. .

, Indessen wurde es Winter und wieder Sommer, Augustus lag lange Zeit
in einem Armenspital krank, und hier genoß er still und dankbar das Glücks
arme niedergeworfene Menschen mit hundert zähen Kräften und Wünschen am


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[0583] Augustus war ihni lieb und merkwürdig und gab ihni Anlaß zum Nachdenken, und keiner war schlechter, als er selbst sich fühlte. Augustus beschloß, durch die Welt zu wandern und einen Ort zu suchen, wo es ihm möglich wäre, den Menschen irgendwie zu nützen und ihnen sein, Liebe zu zeigen. Er mußte sich daran gewöhnen, daß sein Anblick niemanden mehr froh machte; sein Gesicht war eingefallen, seine Kleider und Schuhe waren die eines Bettlers, auch seine Stimme und sein Gang hatten nichts mehr von dem, was einst die Leute erfreut und bezaubert hatte. Die Kinder fürchteten ihn, weil sein struppiger grauer Bart lang herunterhing, die Wohlgekleideten scheuten seine Nähe, in der sie sich unwohl und beschmutzt fühlten, und die Armen mißtrauten ihm als einem Fremden, der ihnen ihre paar Bissen weg¬ schnappen wollte. So hatte er Mühe, den Menschen zu dienen. Aber er lernte und ließ sich nichts verdrießen. Er sah ein kleines Kind sich nach der Türklinke des Bäckerladens strecken und sie mit dem Händchen nicht erreichen. Dem konnte er helfen, und manchmal fand sich auch einer, der noch ärmer war als er selbst, ein Blinder oder Gelähmter, dem er ein wenig auf seinem Wege helfen und wohltun konnte. Und wo er das nicht konnte, da gab er doch freudig das Wenige, was er hatte, einen hellen gütigen Blick und einen brüderlichen Gruß, eine Gebärde des Verstehens und des Mitleidens. Er lernte es auf seinen Wegen den Leuten ansehen, was sie von ihm erwarteten, woran sie Freude haben würden: der eine an einem lauten frischen Gruß, der andere an einem stillen Blick und wieder einer daran, daß man ihm auswich und ihn nicht störte. Er wunderte sich täglich, wieviel Elend es auf der Welt gäbe, und wie vergnügt doch die Menschen sein können, und er fand es herrlich und begeisternd, immer wieder zu sehen, wie neben jedem Leid ein frohes Lachen, neben jedem Toten- geläut ein Kindergesang, neben jeder Not und Gemeinheit eine Artigkeit, ein Witz, ein Trost, ein Lächeln zu finden war. Das Menschenleben schien ihm vorzüglich eingerichtet. Wenn er um eine Ecke bog und es kam ihm eine Horde Schulbuben entgegengesprungen, wie blitzte da Mut und Lebenslust und junge Schönheit aus allen Augen, und wenn sie ihn ein wenig säuselten und plagten, so war das nicht so schlimm; es war sogar zu begreifen, er fand sich selber, wenn er sich in einem Schaufenster oder beim Trinken im Brunnen gespiegelt sah, recht welk und dürftig von Ansehen. Nein, für ihn konnte es sich nicht mehr darum handeln, den Leuten zu gefallen oder Macht auszuüben, davon hatte er genug gehabt. Für ihn war es jetzt schön und erbaulich, andere auf jenen Bahnen streben und sich fühlen zu sehen, die er einst gegangen war, und wie alle Menschen so eifrig und mit soviel Kraft und Stolz und Freude ihren Zielen nachgingen, das war ihm ein wunder¬ bares Schauspiel. . , Indessen wurde es Winter und wieder Sommer, Augustus lag lange Zeit in einem Armenspital krank, und hier genoß er still und dankbar das Glücks arme niedergeworfene Menschen mit hundert zähen Kräften und Wünschen am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/583>, abgerufen am 22.07.2024.