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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Augustus

Laster, und jedes Geficht war voll von Abscheu und von Haß, und keiner war
da, der für ihn sprach, der ihn lobte, der ihn entschuldigte, der sich an Gutes
von ihm erinnerte. .

Er ließ alles geschehen, er ließ sich in die Zelle und aus der Zelle vor
die Richter und vor die Zeugen führen, er blickte verwundert und traurig aus
kranken Augen in die vielen bösen, entrüsteten, gehässigen Gesichter, und in
jedem sah er unter der Rinde von Haß und Entstellung einen heimlichen
Liebreiz und Schein des Herzens glimmen. Alle diese hatten ihn einst geliebt,
und er keinen von ihnen, nun tat er allen Abbitte und suchte bei jedem sich
an etwas Gutes zu erinnern.

Am Ende wurde er in ein Gefängnis gesteckt und niemand durfte zu ihm
kommen, da sprach er in Fieberträumen mit seiner Mutter und mit seiner ersten
Geliebten, mit dem Paten Binßwanger und mit der nordischen Dame vom
Schiff, und wenn er erwachte und furchtbare Tage einsam und verloren saß,
dann litt er alle Pein der Sehnsucht und Verlassenheit und schmachtete nach
demi Anblick von Menschen wie er nie nach irgendeinem Genusse oder nach
irgendeinem Besitz geschmachtet hatte.

Und als er aus dem Gefängnisse kam, da war er krank und alt und
niemand kannte ihn mehr. Die Welt ging ihren Gang, man fuhr und ritt
und promenierte in den Gassen, Früchte und Blumen, Spielzeug und Zeitungen
wurden feilgeboten, nur an Augustus wandte sich niemand. Schöne Frauen,
die er einst bei Musik und Champagner in seinen Armen gehalten hatte, fuhren
in Equipagen an ihm vorbei, und hinter ihren Wagen schlug der Staub über
Augustus zusammen.

Die furchtbare Leere und Einsamkeit aber, in welcher er mitten in seinem
prächtigen Leben erstickt war, die hatte ihn ganz verlassen. Wenn er in ein
Haustor trat, um sich für Augenblicke vor der Sonnenglut zu schützen, oder
wenn er im Hof eines Hinterhauses um einen Schluck Wasser bat, dann wun¬
derte er sich darüber, wie mürrisch und feindselig ihn die Menschen anhörten
dieselben, die ihm früher auf stolze und lieblose Worte dankbar und mit leuch¬
tenden Augen geantwortet hatten. Ihn aber freute und ergriff und rührte jetzt
der Anblick jedes Menschen, er liebte die Kinder, die er spielen und zur Schule
gehen sah, und er liebte die alten Leute, die vor ihren: Häuschen auf der Bank
saßen und die welken Hände an der Sonne wärmten. Wenn er einen jungen
Burschen sah, der ein Mädchen mit sehnsüchtigen Blicken verfolgte, oder einen
Arbeiter, der heimkehrend am Feierabend seine Kinder auf die Arme nahm?,
oder einen feinen klugen Arzt, der still und eilig im Wagen dahinfuhr und an
seine Kranken dachte, oder auch eine arme schlecht gekleidete Dirne, die am Abend
in der Vorstadt bei einer Laterne wartete und sogar ihm, dem Verstoßenen
ihre Liebe anbot, dann waren alle diese seine Brüder und Schwestern, und jeder
trug die Erinnerung an eine geliebte Mutter und an eine bessere Herkunft oder
das heimliche Zeichen einer schöneren und edleren Bestimmung an sich, und jeder


Augustus

Laster, und jedes Geficht war voll von Abscheu und von Haß, und keiner war
da, der für ihn sprach, der ihn lobte, der ihn entschuldigte, der sich an Gutes
von ihm erinnerte. .

Er ließ alles geschehen, er ließ sich in die Zelle und aus der Zelle vor
die Richter und vor die Zeugen führen, er blickte verwundert und traurig aus
kranken Augen in die vielen bösen, entrüsteten, gehässigen Gesichter, und in
jedem sah er unter der Rinde von Haß und Entstellung einen heimlichen
Liebreiz und Schein des Herzens glimmen. Alle diese hatten ihn einst geliebt,
und er keinen von ihnen, nun tat er allen Abbitte und suchte bei jedem sich
an etwas Gutes zu erinnern.

Am Ende wurde er in ein Gefängnis gesteckt und niemand durfte zu ihm
kommen, da sprach er in Fieberträumen mit seiner Mutter und mit seiner ersten
Geliebten, mit dem Paten Binßwanger und mit der nordischen Dame vom
Schiff, und wenn er erwachte und furchtbare Tage einsam und verloren saß,
dann litt er alle Pein der Sehnsucht und Verlassenheit und schmachtete nach
demi Anblick von Menschen wie er nie nach irgendeinem Genusse oder nach
irgendeinem Besitz geschmachtet hatte.

Und als er aus dem Gefängnisse kam, da war er krank und alt und
niemand kannte ihn mehr. Die Welt ging ihren Gang, man fuhr und ritt
und promenierte in den Gassen, Früchte und Blumen, Spielzeug und Zeitungen
wurden feilgeboten, nur an Augustus wandte sich niemand. Schöne Frauen,
die er einst bei Musik und Champagner in seinen Armen gehalten hatte, fuhren
in Equipagen an ihm vorbei, und hinter ihren Wagen schlug der Staub über
Augustus zusammen.

Die furchtbare Leere und Einsamkeit aber, in welcher er mitten in seinem
prächtigen Leben erstickt war, die hatte ihn ganz verlassen. Wenn er in ein
Haustor trat, um sich für Augenblicke vor der Sonnenglut zu schützen, oder
wenn er im Hof eines Hinterhauses um einen Schluck Wasser bat, dann wun¬
derte er sich darüber, wie mürrisch und feindselig ihn die Menschen anhörten
dieselben, die ihm früher auf stolze und lieblose Worte dankbar und mit leuch¬
tenden Augen geantwortet hatten. Ihn aber freute und ergriff und rührte jetzt
der Anblick jedes Menschen, er liebte die Kinder, die er spielen und zur Schule
gehen sah, und er liebte die alten Leute, die vor ihren: Häuschen auf der Bank
saßen und die welken Hände an der Sonne wärmten. Wenn er einen jungen
Burschen sah, der ein Mädchen mit sehnsüchtigen Blicken verfolgte, oder einen
Arbeiter, der heimkehrend am Feierabend seine Kinder auf die Arme nahm?,
oder einen feinen klugen Arzt, der still und eilig im Wagen dahinfuhr und an
seine Kranken dachte, oder auch eine arme schlecht gekleidete Dirne, die am Abend
in der Vorstadt bei einer Laterne wartete und sogar ihm, dem Verstoßenen
ihre Liebe anbot, dann waren alle diese seine Brüder und Schwestern, und jeder
trug die Erinnerung an eine geliebte Mutter und an eine bessere Herkunft oder
das heimliche Zeichen einer schöneren und edleren Bestimmung an sich, und jeder


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[0582] Augustus Laster, und jedes Geficht war voll von Abscheu und von Haß, und keiner war da, der für ihn sprach, der ihn lobte, der ihn entschuldigte, der sich an Gutes von ihm erinnerte. . Er ließ alles geschehen, er ließ sich in die Zelle und aus der Zelle vor die Richter und vor die Zeugen führen, er blickte verwundert und traurig aus kranken Augen in die vielen bösen, entrüsteten, gehässigen Gesichter, und in jedem sah er unter der Rinde von Haß und Entstellung einen heimlichen Liebreiz und Schein des Herzens glimmen. Alle diese hatten ihn einst geliebt, und er keinen von ihnen, nun tat er allen Abbitte und suchte bei jedem sich an etwas Gutes zu erinnern. Am Ende wurde er in ein Gefängnis gesteckt und niemand durfte zu ihm kommen, da sprach er in Fieberträumen mit seiner Mutter und mit seiner ersten Geliebten, mit dem Paten Binßwanger und mit der nordischen Dame vom Schiff, und wenn er erwachte und furchtbare Tage einsam und verloren saß, dann litt er alle Pein der Sehnsucht und Verlassenheit und schmachtete nach demi Anblick von Menschen wie er nie nach irgendeinem Genusse oder nach irgendeinem Besitz geschmachtet hatte. Und als er aus dem Gefängnisse kam, da war er krank und alt und niemand kannte ihn mehr. Die Welt ging ihren Gang, man fuhr und ritt und promenierte in den Gassen, Früchte und Blumen, Spielzeug und Zeitungen wurden feilgeboten, nur an Augustus wandte sich niemand. Schöne Frauen, die er einst bei Musik und Champagner in seinen Armen gehalten hatte, fuhren in Equipagen an ihm vorbei, und hinter ihren Wagen schlug der Staub über Augustus zusammen. Die furchtbare Leere und Einsamkeit aber, in welcher er mitten in seinem prächtigen Leben erstickt war, die hatte ihn ganz verlassen. Wenn er in ein Haustor trat, um sich für Augenblicke vor der Sonnenglut zu schützen, oder wenn er im Hof eines Hinterhauses um einen Schluck Wasser bat, dann wun¬ derte er sich darüber, wie mürrisch und feindselig ihn die Menschen anhörten dieselben, die ihm früher auf stolze und lieblose Worte dankbar und mit leuch¬ tenden Augen geantwortet hatten. Ihn aber freute und ergriff und rührte jetzt der Anblick jedes Menschen, er liebte die Kinder, die er spielen und zur Schule gehen sah, und er liebte die alten Leute, die vor ihren: Häuschen auf der Bank saßen und die welken Hände an der Sonne wärmten. Wenn er einen jungen Burschen sah, der ein Mädchen mit sehnsüchtigen Blicken verfolgte, oder einen Arbeiter, der heimkehrend am Feierabend seine Kinder auf die Arme nahm?, oder einen feinen klugen Arzt, der still und eilig im Wagen dahinfuhr und an seine Kranken dachte, oder auch eine arme schlecht gekleidete Dirne, die am Abend in der Vorstadt bei einer Laterne wartete und sogar ihm, dem Verstoßenen ihre Liebe anbot, dann waren alle diese seine Brüder und Schwestern, und jeder trug die Erinnerung an eine geliebte Mutter und an eine bessere Herkunft oder das heimliche Zeichen einer schöneren und edleren Bestimmung an sich, und jeder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/582>, abgerufen am 22.07.2024.