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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

herangebildet in der Zeit der liberalen Ära von 1861 bis 1864 und verbittert
durch die immer schärfer wirkende Reaktion, vermochte in den Terroristen keine
Verbrecher zu sehen, sondern lediglich Opfer der herrschenden Negierungsprinzipien.
Das Publikum, Studenten, vielfach Söhne des höchsten Adels, applaudierte in
den öffentlichen Sitzungen dem Freispruch eines politischen Mörders und beleidigte
Richter und Geschworene in gröbster Weise, die in dem politischen Mord nur
das gemeine Verbrechen erkennen konnten, und so wandte man sich auch mit
um so besserem Gewissen an die bewährten Grundlagen des Russentums, an die
Orthodoxie ,,. . it vous manque quelczus ckoss, c'est is pravo8lapis" hatte
Wjasemski an Nesselrode geschrieben! Das waren ganz allgemein die Gründe
aus der inneren Politik, die die russische Regierung zwangen, sich im Zartmn
Polen -- wo inzwischen nach dem Zustandekommen eines Bündnisses zwischen
der "Narodnaja Wolja" und dem (polnischen) "Proletariat" der Terror gleich¬
falls als Kampfmittel der Sozialisten anerkannt ward -- nach Bundesgenossen
umzusehen, und sie bediente sich dazu der Petersburger Liberalen, die sich seit
dem Jahre 1866 einen Mittelpunkt in der Monatsschrift "Wjestnik Jewropy"
geschaffen hatten. Ihr Vertreter war der bekannte, weit und breit geschützte
Rechtsanwalt W. D. Svassowicz (den interessanten Lebenslauf dieses für die
gesamte Polenfrage bedeutenden Mannes s. Zukunft Polens Bd. II Kapitel X.)




In einem autokratisch regierten Lande spielt die Auffassung des Selbst¬
herrschers, der doch die Richtung der Gesamtpolitik angeben sollte, für jedes
politische Problem eine besonders schwerwiegende Rolle, und diese wird um so
gewichtiger, je eigenartiger die Persönlichkeit des Selbstherrschers ist. Von dem
Charakter des Zarbefreiers haben uns die Historiker noch keine abgeschlossene
Meinung gegeben: hochfliegender Ehrgeiz und Idealismus kämpften in ihm um
die Vorherrschaft, während er von dynastischen und nationalen Stimmungen
hin und her gezerrt wurde. Seine Politik ist nach innen und außen unklar,
vollzieht sich ruckweise, sprunghaft. Was davon auf das persönliche Konto des
Zaren zu setzen ist, was sich aus den Umständen, aus den Abhängigkeiten
erklärt, kann hier nicht im einzelnen untersucht werden.

Nur einige Worte über die Persönlichkeit des Zaren seien hier eingeflochten.
In der Zeit der großen Reformen steht Alexander der Zweite vor uns als der
weitblickende Herrscher, der, nachdem er sich einmal von der UnHaltbarkeit der
von seinem Vater überkommenen Zustände überzeugt hatte, tief einschneidend
zugriff: als Selbstherrscher. Der Gedanke, daß jede staatliche Initiative nur
von ihm ausgehen könnte, beherrscht sein Wesen, und die Auffassung, daß jede
Anregung, die nicht von ihm selbst ausging, einen Angriff auf seine selbstherr¬
lichen Rechte bedeute, hat seinen sämtlichen Regierungshandlungen den Stempel
aufgedrückt. Der Zarbefreier ist zugleich ein Radikaler und ein Zauberer
gewesen; ein Radikaler, wenn es galt, einen einmal aufgegriffenen Plan der


Russische Polenpolitik

herangebildet in der Zeit der liberalen Ära von 1861 bis 1864 und verbittert
durch die immer schärfer wirkende Reaktion, vermochte in den Terroristen keine
Verbrecher zu sehen, sondern lediglich Opfer der herrschenden Negierungsprinzipien.
Das Publikum, Studenten, vielfach Söhne des höchsten Adels, applaudierte in
den öffentlichen Sitzungen dem Freispruch eines politischen Mörders und beleidigte
Richter und Geschworene in gröbster Weise, die in dem politischen Mord nur
das gemeine Verbrechen erkennen konnten, und so wandte man sich auch mit
um so besserem Gewissen an die bewährten Grundlagen des Russentums, an die
Orthodoxie ,,. . it vous manque quelczus ckoss, c'est is pravo8lapis" hatte
Wjasemski an Nesselrode geschrieben! Das waren ganz allgemein die Gründe
aus der inneren Politik, die die russische Regierung zwangen, sich im Zartmn
Polen — wo inzwischen nach dem Zustandekommen eines Bündnisses zwischen
der „Narodnaja Wolja" und dem (polnischen) „Proletariat" der Terror gleich¬
falls als Kampfmittel der Sozialisten anerkannt ward — nach Bundesgenossen
umzusehen, und sie bediente sich dazu der Petersburger Liberalen, die sich seit
dem Jahre 1866 einen Mittelpunkt in der Monatsschrift „Wjestnik Jewropy"
geschaffen hatten. Ihr Vertreter war der bekannte, weit und breit geschützte
Rechtsanwalt W. D. Svassowicz (den interessanten Lebenslauf dieses für die
gesamte Polenfrage bedeutenden Mannes s. Zukunft Polens Bd. II Kapitel X.)




In einem autokratisch regierten Lande spielt die Auffassung des Selbst¬
herrschers, der doch die Richtung der Gesamtpolitik angeben sollte, für jedes
politische Problem eine besonders schwerwiegende Rolle, und diese wird um so
gewichtiger, je eigenartiger die Persönlichkeit des Selbstherrschers ist. Von dem
Charakter des Zarbefreiers haben uns die Historiker noch keine abgeschlossene
Meinung gegeben: hochfliegender Ehrgeiz und Idealismus kämpften in ihm um
die Vorherrschaft, während er von dynastischen und nationalen Stimmungen
hin und her gezerrt wurde. Seine Politik ist nach innen und außen unklar,
vollzieht sich ruckweise, sprunghaft. Was davon auf das persönliche Konto des
Zaren zu setzen ist, was sich aus den Umständen, aus den Abhängigkeiten
erklärt, kann hier nicht im einzelnen untersucht werden.

Nur einige Worte über die Persönlichkeit des Zaren seien hier eingeflochten.
In der Zeit der großen Reformen steht Alexander der Zweite vor uns als der
weitblickende Herrscher, der, nachdem er sich einmal von der UnHaltbarkeit der
von seinem Vater überkommenen Zustände überzeugt hatte, tief einschneidend
zugriff: als Selbstherrscher. Der Gedanke, daß jede staatliche Initiative nur
von ihm ausgehen könnte, beherrscht sein Wesen, und die Auffassung, daß jede
Anregung, die nicht von ihm selbst ausging, einen Angriff auf seine selbstherr¬
lichen Rechte bedeute, hat seinen sämtlichen Regierungshandlungen den Stempel
aufgedrückt. Der Zarbefreier ist zugleich ein Radikaler und ein Zauberer
gewesen; ein Radikaler, wenn es galt, einen einmal aufgegriffenen Plan der


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[0556] Russische Polenpolitik herangebildet in der Zeit der liberalen Ära von 1861 bis 1864 und verbittert durch die immer schärfer wirkende Reaktion, vermochte in den Terroristen keine Verbrecher zu sehen, sondern lediglich Opfer der herrschenden Negierungsprinzipien. Das Publikum, Studenten, vielfach Söhne des höchsten Adels, applaudierte in den öffentlichen Sitzungen dem Freispruch eines politischen Mörders und beleidigte Richter und Geschworene in gröbster Weise, die in dem politischen Mord nur das gemeine Verbrechen erkennen konnten, und so wandte man sich auch mit um so besserem Gewissen an die bewährten Grundlagen des Russentums, an die Orthodoxie ,,. . it vous manque quelczus ckoss, c'est is pravo8lapis" hatte Wjasemski an Nesselrode geschrieben! Das waren ganz allgemein die Gründe aus der inneren Politik, die die russische Regierung zwangen, sich im Zartmn Polen — wo inzwischen nach dem Zustandekommen eines Bündnisses zwischen der „Narodnaja Wolja" und dem (polnischen) „Proletariat" der Terror gleich¬ falls als Kampfmittel der Sozialisten anerkannt ward — nach Bundesgenossen umzusehen, und sie bediente sich dazu der Petersburger Liberalen, die sich seit dem Jahre 1866 einen Mittelpunkt in der Monatsschrift „Wjestnik Jewropy" geschaffen hatten. Ihr Vertreter war der bekannte, weit und breit geschützte Rechtsanwalt W. D. Svassowicz (den interessanten Lebenslauf dieses für die gesamte Polenfrage bedeutenden Mannes s. Zukunft Polens Bd. II Kapitel X.) In einem autokratisch regierten Lande spielt die Auffassung des Selbst¬ herrschers, der doch die Richtung der Gesamtpolitik angeben sollte, für jedes politische Problem eine besonders schwerwiegende Rolle, und diese wird um so gewichtiger, je eigenartiger die Persönlichkeit des Selbstherrschers ist. Von dem Charakter des Zarbefreiers haben uns die Historiker noch keine abgeschlossene Meinung gegeben: hochfliegender Ehrgeiz und Idealismus kämpften in ihm um die Vorherrschaft, während er von dynastischen und nationalen Stimmungen hin und her gezerrt wurde. Seine Politik ist nach innen und außen unklar, vollzieht sich ruckweise, sprunghaft. Was davon auf das persönliche Konto des Zaren zu setzen ist, was sich aus den Umständen, aus den Abhängigkeiten erklärt, kann hier nicht im einzelnen untersucht werden. Nur einige Worte über die Persönlichkeit des Zaren seien hier eingeflochten. In der Zeit der großen Reformen steht Alexander der Zweite vor uns als der weitblickende Herrscher, der, nachdem er sich einmal von der UnHaltbarkeit der von seinem Vater überkommenen Zustände überzeugt hatte, tief einschneidend zugriff: als Selbstherrscher. Der Gedanke, daß jede staatliche Initiative nur von ihm ausgehen könnte, beherrscht sein Wesen, und die Auffassung, daß jede Anregung, die nicht von ihm selbst ausging, einen Angriff auf seine selbstherr¬ lichen Rechte bedeute, hat seinen sämtlichen Regierungshandlungen den Stempel aufgedrückt. Der Zarbefreier ist zugleich ein Radikaler und ein Zauberer gewesen; ein Radikaler, wenn es galt, einen einmal aufgegriffenen Plan der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/556>, abgerufen am 03.07.2024.