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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

zufälligen Vorzüge des Besitzes und der Geburt für nichts gelten, und nur die
persönlichen Qualitäten jedem Individuum seine Stellung im sozialen Orga¬
nismus anweisen. Man könnte sich denken, daß alle Schulen, von der Volks¬
schule bis zur Universität, jedem in gleicher Weise zugänglich wären. Hier im
freien Wettkampf der Fähigkeiten vollzöge sich stufenweise die Auslese der Taug¬
lichen und danach ihr Beruf und ihre Ranghöhe: wer es über die Elementar¬
schule nicht hinausbringt, wird zu den niederen Handleistungen bestimmt, die
Mittelschule entläßt zum Handwerk und zum Kleinhandel, und so schrittweise
in die Höhe. Wer möchte bezweifeln, daß bei solcher gerechter Auslese manch
Sprößling alteuropäischer Adelsgeschlechter es höchstens bis zum Lastträger und
Steinklopfer, manch Sohn ehrsamer Handwerksleute dagegen bis zum Minister
brächte? Da wäre ja nun das schönste politische Programm und eine wunder¬
volle Losung für eine neue Partei.

Aber die Logik des Einfalls stimmtnicht, sobald man nur ein wenig tiefernachdenkt.

Zunächst ist diese sogenannte Gerechtigkeit außerordentlich hart, viel härter
als die bisherige Unbilligkeit. Gewiß ist das Niveau der Intelligenz durch
alle Schichten ziemlich gleich und das Verhältnis von Begabten und Unbegabten
überall ungefähr dasselbe. Und gewiß bildet die Begabung nur einen Faktor
unter vielen, die zusammen erst die Leistung hervorbringen. Aber diese Tat¬
sache wird subjektiv so gut wir gar nicht empfunden, da das Streben des
Menschen sich nach seiner Umgebung zu richten pflegt. In einer Bauernfamilie
wollen die Söhne Bauern werden, in einer Offiziersfamilie Offiziere; und beide
sind zufrieden, wenn sie dieses Ziel erreicht haben; und besitzt der Bauernsohn
ein größeres Gut, erreicht der Offizierssohn einen höheren Rang als der Vater,
so werden beide, subjektiv in gleicher Weise, die Empfindung haben, es weiter¬
gebracht zu haben, während dem Bauernsohn sein Rangabstand vom Offizier
nicht zum Bewußtsein kommt. Der Segen dieses Zustandes ist so groß, daß
es daneben nichts verschlägt, wenn hier einer es bis zum Major, dort einer
zum Regierungsrat bringt, dessen angeborene Intelligenz weder zum Offizier
noch zum Staatsbeamten ausreicht. Denke man sich dagegen jenen "gerechten"
Zustand verwirklicht, bei dem der einzelne durch kein Milieu gestützt wird und
wonach zwar jedem jede hohe Stufe offensteht, jeder aber auch in Gefahr ist.
auf jede niedere Stufe zurückzusinken, so ist Handlanger und Steinklopfer sein
ein Unglück und eine Schande. Daß einzelne gänzlich unter ihr Milieu hinab¬
fallen, kommt zwar auch jetzt nicht selten vor, aber mehr infolge moralischer
Mängel als aus ungenügender Begabung. Bei jenem fingierten Zustand kon¬
sequent individueller Rangordnung aber wäre es nun die Regel, daß Sohn
und Vater, Bruder und Bruder durch alle Abgründe sozialer Unterschiede ge-
trennt wären -- und wer möchte in solch einer Gesellschaft, felbst wenn sie
möglich wäre, leben wollen?

Sie ist aber keineswegs möglich. Denn schon die einfachste Voraussetzung einer
individuellen Rangordnung, die Wertbestimmung des einzelnen, ist unerfüllbar.


Politik der Rangordnung

zufälligen Vorzüge des Besitzes und der Geburt für nichts gelten, und nur die
persönlichen Qualitäten jedem Individuum seine Stellung im sozialen Orga¬
nismus anweisen. Man könnte sich denken, daß alle Schulen, von der Volks¬
schule bis zur Universität, jedem in gleicher Weise zugänglich wären. Hier im
freien Wettkampf der Fähigkeiten vollzöge sich stufenweise die Auslese der Taug¬
lichen und danach ihr Beruf und ihre Ranghöhe: wer es über die Elementar¬
schule nicht hinausbringt, wird zu den niederen Handleistungen bestimmt, die
Mittelschule entläßt zum Handwerk und zum Kleinhandel, und so schrittweise
in die Höhe. Wer möchte bezweifeln, daß bei solcher gerechter Auslese manch
Sprößling alteuropäischer Adelsgeschlechter es höchstens bis zum Lastträger und
Steinklopfer, manch Sohn ehrsamer Handwerksleute dagegen bis zum Minister
brächte? Da wäre ja nun das schönste politische Programm und eine wunder¬
volle Losung für eine neue Partei.

Aber die Logik des Einfalls stimmtnicht, sobald man nur ein wenig tiefernachdenkt.

Zunächst ist diese sogenannte Gerechtigkeit außerordentlich hart, viel härter
als die bisherige Unbilligkeit. Gewiß ist das Niveau der Intelligenz durch
alle Schichten ziemlich gleich und das Verhältnis von Begabten und Unbegabten
überall ungefähr dasselbe. Und gewiß bildet die Begabung nur einen Faktor
unter vielen, die zusammen erst die Leistung hervorbringen. Aber diese Tat¬
sache wird subjektiv so gut wir gar nicht empfunden, da das Streben des
Menschen sich nach seiner Umgebung zu richten pflegt. In einer Bauernfamilie
wollen die Söhne Bauern werden, in einer Offiziersfamilie Offiziere; und beide
sind zufrieden, wenn sie dieses Ziel erreicht haben; und besitzt der Bauernsohn
ein größeres Gut, erreicht der Offizierssohn einen höheren Rang als der Vater,
so werden beide, subjektiv in gleicher Weise, die Empfindung haben, es weiter¬
gebracht zu haben, während dem Bauernsohn sein Rangabstand vom Offizier
nicht zum Bewußtsein kommt. Der Segen dieses Zustandes ist so groß, daß
es daneben nichts verschlägt, wenn hier einer es bis zum Major, dort einer
zum Regierungsrat bringt, dessen angeborene Intelligenz weder zum Offizier
noch zum Staatsbeamten ausreicht. Denke man sich dagegen jenen „gerechten"
Zustand verwirklicht, bei dem der einzelne durch kein Milieu gestützt wird und
wonach zwar jedem jede hohe Stufe offensteht, jeder aber auch in Gefahr ist.
auf jede niedere Stufe zurückzusinken, so ist Handlanger und Steinklopfer sein
ein Unglück und eine Schande. Daß einzelne gänzlich unter ihr Milieu hinab¬
fallen, kommt zwar auch jetzt nicht selten vor, aber mehr infolge moralischer
Mängel als aus ungenügender Begabung. Bei jenem fingierten Zustand kon¬
sequent individueller Rangordnung aber wäre es nun die Regel, daß Sohn
und Vater, Bruder und Bruder durch alle Abgründe sozialer Unterschiede ge-
trennt wären — und wer möchte in solch einer Gesellschaft, felbst wenn sie
möglich wäre, leben wollen?

Sie ist aber keineswegs möglich. Denn schon die einfachste Voraussetzung einer
individuellen Rangordnung, die Wertbestimmung des einzelnen, ist unerfüllbar.


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[0409] Politik der Rangordnung zufälligen Vorzüge des Besitzes und der Geburt für nichts gelten, und nur die persönlichen Qualitäten jedem Individuum seine Stellung im sozialen Orga¬ nismus anweisen. Man könnte sich denken, daß alle Schulen, von der Volks¬ schule bis zur Universität, jedem in gleicher Weise zugänglich wären. Hier im freien Wettkampf der Fähigkeiten vollzöge sich stufenweise die Auslese der Taug¬ lichen und danach ihr Beruf und ihre Ranghöhe: wer es über die Elementar¬ schule nicht hinausbringt, wird zu den niederen Handleistungen bestimmt, die Mittelschule entläßt zum Handwerk und zum Kleinhandel, und so schrittweise in die Höhe. Wer möchte bezweifeln, daß bei solcher gerechter Auslese manch Sprößling alteuropäischer Adelsgeschlechter es höchstens bis zum Lastträger und Steinklopfer, manch Sohn ehrsamer Handwerksleute dagegen bis zum Minister brächte? Da wäre ja nun das schönste politische Programm und eine wunder¬ volle Losung für eine neue Partei. Aber die Logik des Einfalls stimmtnicht, sobald man nur ein wenig tiefernachdenkt. Zunächst ist diese sogenannte Gerechtigkeit außerordentlich hart, viel härter als die bisherige Unbilligkeit. Gewiß ist das Niveau der Intelligenz durch alle Schichten ziemlich gleich und das Verhältnis von Begabten und Unbegabten überall ungefähr dasselbe. Und gewiß bildet die Begabung nur einen Faktor unter vielen, die zusammen erst die Leistung hervorbringen. Aber diese Tat¬ sache wird subjektiv so gut wir gar nicht empfunden, da das Streben des Menschen sich nach seiner Umgebung zu richten pflegt. In einer Bauernfamilie wollen die Söhne Bauern werden, in einer Offiziersfamilie Offiziere; und beide sind zufrieden, wenn sie dieses Ziel erreicht haben; und besitzt der Bauernsohn ein größeres Gut, erreicht der Offizierssohn einen höheren Rang als der Vater, so werden beide, subjektiv in gleicher Weise, die Empfindung haben, es weiter¬ gebracht zu haben, während dem Bauernsohn sein Rangabstand vom Offizier nicht zum Bewußtsein kommt. Der Segen dieses Zustandes ist so groß, daß es daneben nichts verschlägt, wenn hier einer es bis zum Major, dort einer zum Regierungsrat bringt, dessen angeborene Intelligenz weder zum Offizier noch zum Staatsbeamten ausreicht. Denke man sich dagegen jenen „gerechten" Zustand verwirklicht, bei dem der einzelne durch kein Milieu gestützt wird und wonach zwar jedem jede hohe Stufe offensteht, jeder aber auch in Gefahr ist. auf jede niedere Stufe zurückzusinken, so ist Handlanger und Steinklopfer sein ein Unglück und eine Schande. Daß einzelne gänzlich unter ihr Milieu hinab¬ fallen, kommt zwar auch jetzt nicht selten vor, aber mehr infolge moralischer Mängel als aus ungenügender Begabung. Bei jenem fingierten Zustand kon¬ sequent individueller Rangordnung aber wäre es nun die Regel, daß Sohn und Vater, Bruder und Bruder durch alle Abgründe sozialer Unterschiede ge- trennt wären — und wer möchte in solch einer Gesellschaft, felbst wenn sie möglich wäre, leben wollen? Sie ist aber keineswegs möglich. Denn schon die einfachste Voraussetzung einer individuellen Rangordnung, die Wertbestimmung des einzelnen, ist unerfüllbar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/409>, abgerufen am 22.07.2024.