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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

daß zu ihrer Begründung, zumal nach den großen Verfechtern des Individua¬
lismus im neunzehnten Jahrhundert, hier nichts gesagt zu werden braucht.

Versucht man diese Lehre in die Praxis umzusetzen und ein politisches
Programm daraus abzuleiten, so kann es nur dieses sein: statt Gleichheit der
politischen Rechte ihre Verschiedenheit je nach der Rangstufe des Individuums.
Ist das möglich?

Eins muß vorausgeschickt werden: eine Politik der Rangordnung auf
Grund der Lehre von der Ungleichheit der Menschen hat nichts gemein mit
dem alten Feudalstaat, wie er vor dem Revolutionszeitalter in Europa be¬
standen hatte, mit seiner Privilegierung gewisser Stände auf Kosten der übrigen
und systematischer Unterdrückung dieser übrigen. Was uns von jenen prinzipiell
unterscheidet, ist im Aufbau der menschlichen Rangordnung die Fixierung der
unteren Grenze. Das achtzehnte Jahrhundert proklamierte die Gleichheit der
Menschenrechte. Das erkennen wir, wie gesagt, nicht mehr an; aber darum ist
jenes Ideal nicht falsch oder erfolglos gewesen. Der große Gewinn, den wir
dem Humanitätszeitalter verdanken, ist die Erkenntnis, daß der Mensch unter
ein gewisses Niveau nicht sinken kann, daß er nicht zur Sache werden, nicht
als bloßes Mittel gelten darf. Der Umstand, daß jemand ein Mensch ist,
gibt ihm eine bestimmte, durch nichts zu verscherzende Würde; ja, damit noch
nicht genug, zu den allgemeinen Menschenrechten gehört für unser Gewissen
auch die Pflicht, diese unterste Grenze beständig zu heben. Das Recht des
Proletariers, nach oben zu drängen, und unsere Pflicht, ihm dabei behilflich zu
sein, gehört mit zu den Grundlagen des Europäismus. Soll es demnach eine
Rangordnung geben, so darf sie niemals erreicht oder erhalten werden durch
Niederhaltung der unteren Klassen, und wir werden jeden derartigen Versuch
als unmoralisch verachten und bekämpfen; sondern es wird verlangt, sich über
die tieferen Stufen zu erheben, und während das untere Niveau stetig aufsteigt,
hängt die Möglichkeit einer Rangordnung davon ab, ob die höheren Schichten
mitzusteigen die Kraft und den Willen haben.

Dies mußten wir vorausschicken. Wenden wir uns nun unseren, Thema
zu, so lautet die erste und schwierigste Frage: Wonach soll die Rangordnung
vorgenommen werden?

Da scheint es nun für uns moderne Menschen die Selbstverständlichste aller
Forderungen zu sein, daß sie jedenfalls nicht nach den Zufälligkeiten der Geburt
und des Besitzes, sondern vielmehr nach den persönlichen Eigenschaften der Be¬
gabung und des Charakters sich richten soll, daß es sich also nicht um soziale,
sondern um individuelle Schichtung handeln muß. Nehmen wir diese Unter¬
scheidung an und bestimmen wir unser Programm genauer als Rangordnung
nach dem individuellen Kulturwert, so ergeben sich mit einem Male die aller¬
größten Schwierigkeiten.

Es scheint ja zunächst die gerechteste aller Weltordnungen zu sein, und
sogar der liberale Mann könnte seine Freude daran haben, wenn einmal die


Politik der Rangordnung

daß zu ihrer Begründung, zumal nach den großen Verfechtern des Individua¬
lismus im neunzehnten Jahrhundert, hier nichts gesagt zu werden braucht.

Versucht man diese Lehre in die Praxis umzusetzen und ein politisches
Programm daraus abzuleiten, so kann es nur dieses sein: statt Gleichheit der
politischen Rechte ihre Verschiedenheit je nach der Rangstufe des Individuums.
Ist das möglich?

Eins muß vorausgeschickt werden: eine Politik der Rangordnung auf
Grund der Lehre von der Ungleichheit der Menschen hat nichts gemein mit
dem alten Feudalstaat, wie er vor dem Revolutionszeitalter in Europa be¬
standen hatte, mit seiner Privilegierung gewisser Stände auf Kosten der übrigen
und systematischer Unterdrückung dieser übrigen. Was uns von jenen prinzipiell
unterscheidet, ist im Aufbau der menschlichen Rangordnung die Fixierung der
unteren Grenze. Das achtzehnte Jahrhundert proklamierte die Gleichheit der
Menschenrechte. Das erkennen wir, wie gesagt, nicht mehr an; aber darum ist
jenes Ideal nicht falsch oder erfolglos gewesen. Der große Gewinn, den wir
dem Humanitätszeitalter verdanken, ist die Erkenntnis, daß der Mensch unter
ein gewisses Niveau nicht sinken kann, daß er nicht zur Sache werden, nicht
als bloßes Mittel gelten darf. Der Umstand, daß jemand ein Mensch ist,
gibt ihm eine bestimmte, durch nichts zu verscherzende Würde; ja, damit noch
nicht genug, zu den allgemeinen Menschenrechten gehört für unser Gewissen
auch die Pflicht, diese unterste Grenze beständig zu heben. Das Recht des
Proletariers, nach oben zu drängen, und unsere Pflicht, ihm dabei behilflich zu
sein, gehört mit zu den Grundlagen des Europäismus. Soll es demnach eine
Rangordnung geben, so darf sie niemals erreicht oder erhalten werden durch
Niederhaltung der unteren Klassen, und wir werden jeden derartigen Versuch
als unmoralisch verachten und bekämpfen; sondern es wird verlangt, sich über
die tieferen Stufen zu erheben, und während das untere Niveau stetig aufsteigt,
hängt die Möglichkeit einer Rangordnung davon ab, ob die höheren Schichten
mitzusteigen die Kraft und den Willen haben.

Dies mußten wir vorausschicken. Wenden wir uns nun unseren, Thema
zu, so lautet die erste und schwierigste Frage: Wonach soll die Rangordnung
vorgenommen werden?

Da scheint es nun für uns moderne Menschen die Selbstverständlichste aller
Forderungen zu sein, daß sie jedenfalls nicht nach den Zufälligkeiten der Geburt
und des Besitzes, sondern vielmehr nach den persönlichen Eigenschaften der Be¬
gabung und des Charakters sich richten soll, daß es sich also nicht um soziale,
sondern um individuelle Schichtung handeln muß. Nehmen wir diese Unter¬
scheidung an und bestimmen wir unser Programm genauer als Rangordnung
nach dem individuellen Kulturwert, so ergeben sich mit einem Male die aller¬
größten Schwierigkeiten.

Es scheint ja zunächst die gerechteste aller Weltordnungen zu sein, und
sogar der liberale Mann könnte seine Freude daran haben, wenn einmal die


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[0408] Politik der Rangordnung daß zu ihrer Begründung, zumal nach den großen Verfechtern des Individua¬ lismus im neunzehnten Jahrhundert, hier nichts gesagt zu werden braucht. Versucht man diese Lehre in die Praxis umzusetzen und ein politisches Programm daraus abzuleiten, so kann es nur dieses sein: statt Gleichheit der politischen Rechte ihre Verschiedenheit je nach der Rangstufe des Individuums. Ist das möglich? Eins muß vorausgeschickt werden: eine Politik der Rangordnung auf Grund der Lehre von der Ungleichheit der Menschen hat nichts gemein mit dem alten Feudalstaat, wie er vor dem Revolutionszeitalter in Europa be¬ standen hatte, mit seiner Privilegierung gewisser Stände auf Kosten der übrigen und systematischer Unterdrückung dieser übrigen. Was uns von jenen prinzipiell unterscheidet, ist im Aufbau der menschlichen Rangordnung die Fixierung der unteren Grenze. Das achtzehnte Jahrhundert proklamierte die Gleichheit der Menschenrechte. Das erkennen wir, wie gesagt, nicht mehr an; aber darum ist jenes Ideal nicht falsch oder erfolglos gewesen. Der große Gewinn, den wir dem Humanitätszeitalter verdanken, ist die Erkenntnis, daß der Mensch unter ein gewisses Niveau nicht sinken kann, daß er nicht zur Sache werden, nicht als bloßes Mittel gelten darf. Der Umstand, daß jemand ein Mensch ist, gibt ihm eine bestimmte, durch nichts zu verscherzende Würde; ja, damit noch nicht genug, zu den allgemeinen Menschenrechten gehört für unser Gewissen auch die Pflicht, diese unterste Grenze beständig zu heben. Das Recht des Proletariers, nach oben zu drängen, und unsere Pflicht, ihm dabei behilflich zu sein, gehört mit zu den Grundlagen des Europäismus. Soll es demnach eine Rangordnung geben, so darf sie niemals erreicht oder erhalten werden durch Niederhaltung der unteren Klassen, und wir werden jeden derartigen Versuch als unmoralisch verachten und bekämpfen; sondern es wird verlangt, sich über die tieferen Stufen zu erheben, und während das untere Niveau stetig aufsteigt, hängt die Möglichkeit einer Rangordnung davon ab, ob die höheren Schichten mitzusteigen die Kraft und den Willen haben. Dies mußten wir vorausschicken. Wenden wir uns nun unseren, Thema zu, so lautet die erste und schwierigste Frage: Wonach soll die Rangordnung vorgenommen werden? Da scheint es nun für uns moderne Menschen die Selbstverständlichste aller Forderungen zu sein, daß sie jedenfalls nicht nach den Zufälligkeiten der Geburt und des Besitzes, sondern vielmehr nach den persönlichen Eigenschaften der Be¬ gabung und des Charakters sich richten soll, daß es sich also nicht um soziale, sondern um individuelle Schichtung handeln muß. Nehmen wir diese Unter¬ scheidung an und bestimmen wir unser Programm genauer als Rangordnung nach dem individuellen Kulturwert, so ergeben sich mit einem Male die aller¬ größten Schwierigkeiten. Es scheint ja zunächst die gerechteste aller Weltordnungen zu sein, und sogar der liberale Mann könnte seine Freude daran haben, wenn einmal die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/408>, abgerufen am 22.07.2024.