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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Erdeulen und Bündnisse

diplomatische Form gebunden sind. Liszts Definition, wonach sie durch einen
Notenwechsel erfolgten, ist zu eng.

Da die Politik von Menschen gemacht wird, so müssen die Beziehungen
zwischen den Staaten notwendig durch die persönlichen Beziehungen der
Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten beeinflußt werden. Das persön¬
liche Vertrauen oder Mißtrauen zwischen den Staatsmännern des einen und
des anderen Landes spielt in der internationalen Politik eine weit größere
Rolle, als die Vertreter der materiellen Geschichtsauffassung zugeben wollen,
nach denen die unpersönlichen, materiellen Verhältnisse den wesentlichsten Aus¬
schlag in den Beziehungen der Nationen geben sollen. Das ist tatsächlich nicht
der Fall; und es ist kein Zufall, wenn wir gerade bei Bismarck so häufig der
Wendung von der Notwendigkeit der Erhaltung vertrauensvoller Beziehungen
zu den anderen Staaten begegnen. Weder Bündnisse noch Erdeulen sind ohne
das gegenseitige Vertrauen der leitenden Staatsmänner denkbar.

Das Wort "Entente" ist nicht neu, aber es ist eigentlich erst durch die
englisch-französische IZntsnte corclials modern und populär geworden; und es
wird jetzt fast unterschiedslos angewandt. Indes sind die freundschaftlichen Be¬
ziehungen zwischen den Staaten einer sehr mannigfaltigen Abstufung fähig, und
es ist daher ein Nachteil, daß nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch das eine
Wort Entente herhalten muß, um Freundschaftsverhältnisse sehr verschiedenen
Grades zu bezeichnen. Der Zeitungsleser, der immerfort das Wort Entente
wiederholt findet, muß von den Staatenbeziehnngen ein stereotypes Bild erhalten,
das der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit schlecht entspricht. Im allgemeinen hat
man sich bei uns daran gewöhnt, unter Entente ein Verhältnis zu verstehen,
das einem förmlichen Bündnis sehr nahe käme, und das im Fall einer politischen
Krisis sich mit Leichtigkeit in ein festes Bündnis verwandeln ließe. So hat
man z. B. die neue französisch-spanische Entente, die sich ausschließlich auf
Marokko beschränkt, und die Spanien dort von der bisherigen Rivalität Frank-
reichs befreit, auf eine Stufe mit der englisch-französischen Entente gestellt, und
ihr trotz ihres rein lokalen Zieles eine europäische Bedeutung beigelegt. Man
darf ferner auch nicht übersehen, daß eine Entente zwischen zwei Staaten während
ihrer Dauer ihren Charakter ändern kann.

Gerade bei der englisch-französischen Entente sehen wir, daß sie eine Reihe
verschiedener Stadien durchgemacht hat. Sie begann mit einer Entspannung
zwischen beiden Ländern, die sehr wesentlich durch den Pariser Besuch König
Eduards im Jahre 1903 zustande gebracht wurde. Das zweite Stadium bildete
der Abschluß des Vertrages vom 8. April 1904) der eine Reihe aufreizender
kolonialpolitischer Streitfragen schiedlich-friedlich aus der Welt schaffte. Das
dritte Stadium wurde erreicht, als Deutschland der Marokkopolitik Frankreichs
entgegentrat, und England gezwungen wurde, Frankreich bei der Durchführung
des Vereinbarten zu unterstützen: auf der Konferenz von Algeciras verfolgten
Frankreich und England eine identische Politik. Die politische Intimität, die


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Erdeulen und Bündnisse

diplomatische Form gebunden sind. Liszts Definition, wonach sie durch einen
Notenwechsel erfolgten, ist zu eng.

Da die Politik von Menschen gemacht wird, so müssen die Beziehungen
zwischen den Staaten notwendig durch die persönlichen Beziehungen der
Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten beeinflußt werden. Das persön¬
liche Vertrauen oder Mißtrauen zwischen den Staatsmännern des einen und
des anderen Landes spielt in der internationalen Politik eine weit größere
Rolle, als die Vertreter der materiellen Geschichtsauffassung zugeben wollen,
nach denen die unpersönlichen, materiellen Verhältnisse den wesentlichsten Aus¬
schlag in den Beziehungen der Nationen geben sollen. Das ist tatsächlich nicht
der Fall; und es ist kein Zufall, wenn wir gerade bei Bismarck so häufig der
Wendung von der Notwendigkeit der Erhaltung vertrauensvoller Beziehungen
zu den anderen Staaten begegnen. Weder Bündnisse noch Erdeulen sind ohne
das gegenseitige Vertrauen der leitenden Staatsmänner denkbar.

Das Wort „Entente" ist nicht neu, aber es ist eigentlich erst durch die
englisch-französische IZntsnte corclials modern und populär geworden; und es
wird jetzt fast unterschiedslos angewandt. Indes sind die freundschaftlichen Be¬
ziehungen zwischen den Staaten einer sehr mannigfaltigen Abstufung fähig, und
es ist daher ein Nachteil, daß nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch das eine
Wort Entente herhalten muß, um Freundschaftsverhältnisse sehr verschiedenen
Grades zu bezeichnen. Der Zeitungsleser, der immerfort das Wort Entente
wiederholt findet, muß von den Staatenbeziehnngen ein stereotypes Bild erhalten,
das der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit schlecht entspricht. Im allgemeinen hat
man sich bei uns daran gewöhnt, unter Entente ein Verhältnis zu verstehen,
das einem förmlichen Bündnis sehr nahe käme, und das im Fall einer politischen
Krisis sich mit Leichtigkeit in ein festes Bündnis verwandeln ließe. So hat
man z. B. die neue französisch-spanische Entente, die sich ausschließlich auf
Marokko beschränkt, und die Spanien dort von der bisherigen Rivalität Frank-
reichs befreit, auf eine Stufe mit der englisch-französischen Entente gestellt, und
ihr trotz ihres rein lokalen Zieles eine europäische Bedeutung beigelegt. Man
darf ferner auch nicht übersehen, daß eine Entente zwischen zwei Staaten während
ihrer Dauer ihren Charakter ändern kann.

Gerade bei der englisch-französischen Entente sehen wir, daß sie eine Reihe
verschiedener Stadien durchgemacht hat. Sie begann mit einer Entspannung
zwischen beiden Ländern, die sehr wesentlich durch den Pariser Besuch König
Eduards im Jahre 1903 zustande gebracht wurde. Das zweite Stadium bildete
der Abschluß des Vertrages vom 8. April 1904) der eine Reihe aufreizender
kolonialpolitischer Streitfragen schiedlich-friedlich aus der Welt schaffte. Das
dritte Stadium wurde erreicht, als Deutschland der Marokkopolitik Frankreichs
entgegentrat, und England gezwungen wurde, Frankreich bei der Durchführung
des Vereinbarten zu unterstützen: auf der Konferenz von Algeciras verfolgten
Frankreich und England eine identische Politik. Die politische Intimität, die


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[0399] Erdeulen und Bündnisse diplomatische Form gebunden sind. Liszts Definition, wonach sie durch einen Notenwechsel erfolgten, ist zu eng. Da die Politik von Menschen gemacht wird, so müssen die Beziehungen zwischen den Staaten notwendig durch die persönlichen Beziehungen der Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten beeinflußt werden. Das persön¬ liche Vertrauen oder Mißtrauen zwischen den Staatsmännern des einen und des anderen Landes spielt in der internationalen Politik eine weit größere Rolle, als die Vertreter der materiellen Geschichtsauffassung zugeben wollen, nach denen die unpersönlichen, materiellen Verhältnisse den wesentlichsten Aus¬ schlag in den Beziehungen der Nationen geben sollen. Das ist tatsächlich nicht der Fall; und es ist kein Zufall, wenn wir gerade bei Bismarck so häufig der Wendung von der Notwendigkeit der Erhaltung vertrauensvoller Beziehungen zu den anderen Staaten begegnen. Weder Bündnisse noch Erdeulen sind ohne das gegenseitige Vertrauen der leitenden Staatsmänner denkbar. Das Wort „Entente" ist nicht neu, aber es ist eigentlich erst durch die englisch-französische IZntsnte corclials modern und populär geworden; und es wird jetzt fast unterschiedslos angewandt. Indes sind die freundschaftlichen Be¬ ziehungen zwischen den Staaten einer sehr mannigfaltigen Abstufung fähig, und es ist daher ein Nachteil, daß nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch das eine Wort Entente herhalten muß, um Freundschaftsverhältnisse sehr verschiedenen Grades zu bezeichnen. Der Zeitungsleser, der immerfort das Wort Entente wiederholt findet, muß von den Staatenbeziehnngen ein stereotypes Bild erhalten, das der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit schlecht entspricht. Im allgemeinen hat man sich bei uns daran gewöhnt, unter Entente ein Verhältnis zu verstehen, das einem förmlichen Bündnis sehr nahe käme, und das im Fall einer politischen Krisis sich mit Leichtigkeit in ein festes Bündnis verwandeln ließe. So hat man z. B. die neue französisch-spanische Entente, die sich ausschließlich auf Marokko beschränkt, und die Spanien dort von der bisherigen Rivalität Frank- reichs befreit, auf eine Stufe mit der englisch-französischen Entente gestellt, und ihr trotz ihres rein lokalen Zieles eine europäische Bedeutung beigelegt. Man darf ferner auch nicht übersehen, daß eine Entente zwischen zwei Staaten während ihrer Dauer ihren Charakter ändern kann. Gerade bei der englisch-französischen Entente sehen wir, daß sie eine Reihe verschiedener Stadien durchgemacht hat. Sie begann mit einer Entspannung zwischen beiden Ländern, die sehr wesentlich durch den Pariser Besuch König Eduards im Jahre 1903 zustande gebracht wurde. Das zweite Stadium bildete der Abschluß des Vertrages vom 8. April 1904) der eine Reihe aufreizender kolonialpolitischer Streitfragen schiedlich-friedlich aus der Welt schaffte. Das dritte Stadium wurde erreicht, als Deutschland der Marokkopolitik Frankreichs entgegentrat, und England gezwungen wurde, Frankreich bei der Durchführung des Vereinbarten zu unterstützen: auf der Konferenz von Algeciras verfolgten Frankreich und England eine identische Politik. Die politische Intimität, die 2b*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/399>, abgerufen am 24.08.2024.