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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Erdeulen und Bündnisse

das für eine bestimmte Reihe von Jahren abgeschlossen ist und im Falle der
Nichterneuerung automatisch erlischt. Unser Bündnis mit Österreich"Ungarn
ist ein "ewiges" Bündnis, und Bismarck hatte gewünscht, seine Bindungskraft
dadurch noch mehr zu verstärken, daß es auf beiden Seiten von den Par¬
lamenten ratifiziert werden sollte. Eine Entente hat eine geringere Bindungs¬
kraft als ein Bündnis. Man könnte an den Unterschied zwischen einer Ehe
und einer Liebschaft denken; Erdeulen sind ja auch als "Extratour" oder als
"Flirt" bezeichnet worden. Bei der Stärke des Bindungsgrades ist vor allem
das Willensmoment zu betonen. Ist der Wille zur Einigung stark, so erzeugt
er bei einem selbst einen starken Glauben an die Dauer der Einigung, und man
ist zu festen Abmachungen bereit. Ist der Wille zur Einigung weniger stark
und zweifelt man selbst an ihrer Dauer, so wird man vorziehen, sich nur lose
zu binden, um möglichst leicht wieder abschwenken zu können. Der Wert aller
Willenserklärungen, im Leben der Individuen wie der Staaten, liegt in dem
Vorhandensein eben des Willens, der in der Erklärung zum Ausdruck kommt.
Je stärker die Bindungskraft eines Bündnisses ist, desto schwerer wird den
Staaten der Entschluß gemacht, es wieder aufzulösen. Aber wenn auf der
einen oder anderen Seite der Wille, es aufrecht zu erhalten, nicht mehr besteht,
so ist die Willenserklärung entwertet. Bismarck betont in seinen "Gedanken
und Erinnerungen", daß die Haftbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten
eine bedingte ist, sobald sie in dem Kampfe ums Dasein auf die Probe gestellt
werden. "Keine Nation," sagt er, "wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf
dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden
zu wählen."

Wenn man Bündnisse und Erdeulen miteinander vergleicht, so ist zweifellos
das Bündnis das stabilere, und die Entente das labilere, wandlungsfähigere
Verhältnis. Aber die Bedeutung, die eine Willenseinigung zwischen zwei
Staaten hat, hängt weit mehr von dem Inhalt als von der Form der Ver¬
einbarungen ab. Bei ihrer politischen Bewertung darf man sich nicht durch die
völkerrechtlichen oder diplomatischen Förmlichkeiten irreführen lassen, die bei der
Festlegung einer gemeinsamen Politik üblich sind. Es geschieht immer wieder,
daß politische Entscheidungen von größter Bedeutung in ganz unformeller Weise
vollzogen werden. Eine formlose Unterhaltung zwischen zwei Staatsmännern
oder Diplomaten, etwa nach einem Diner bei Zigarre und Kaffee, kann eine
ebenso nachhaltige Willenseinigung ihrer Staaten begründen, wie ein in aller
Form ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Englands Zustimmung zu der
französischen Okkupation von Tunis, die nicht nur den Anstoß zu der neueren
französischen Kolonialpolitik gegeben, sondern die die Aufteilung Afrikas und
die ganze moderne Weltpolitik eingeleitet hat, erfolgte in einer rein privaten
Unterhaltung zwischen Lord Salisbury und dem französischen Minister
Waddington auf dem Berliner Kongreß. Gerade für die Erdeulen der Gegen¬
wart ist es charakteristisch, daß sie an keine bestimmte völkerrechtliche oder


Erdeulen und Bündnisse

das für eine bestimmte Reihe von Jahren abgeschlossen ist und im Falle der
Nichterneuerung automatisch erlischt. Unser Bündnis mit Österreich»Ungarn
ist ein „ewiges" Bündnis, und Bismarck hatte gewünscht, seine Bindungskraft
dadurch noch mehr zu verstärken, daß es auf beiden Seiten von den Par¬
lamenten ratifiziert werden sollte. Eine Entente hat eine geringere Bindungs¬
kraft als ein Bündnis. Man könnte an den Unterschied zwischen einer Ehe
und einer Liebschaft denken; Erdeulen sind ja auch als „Extratour" oder als
„Flirt" bezeichnet worden. Bei der Stärke des Bindungsgrades ist vor allem
das Willensmoment zu betonen. Ist der Wille zur Einigung stark, so erzeugt
er bei einem selbst einen starken Glauben an die Dauer der Einigung, und man
ist zu festen Abmachungen bereit. Ist der Wille zur Einigung weniger stark
und zweifelt man selbst an ihrer Dauer, so wird man vorziehen, sich nur lose
zu binden, um möglichst leicht wieder abschwenken zu können. Der Wert aller
Willenserklärungen, im Leben der Individuen wie der Staaten, liegt in dem
Vorhandensein eben des Willens, der in der Erklärung zum Ausdruck kommt.
Je stärker die Bindungskraft eines Bündnisses ist, desto schwerer wird den
Staaten der Entschluß gemacht, es wieder aufzulösen. Aber wenn auf der
einen oder anderen Seite der Wille, es aufrecht zu erhalten, nicht mehr besteht,
so ist die Willenserklärung entwertet. Bismarck betont in seinen „Gedanken
und Erinnerungen", daß die Haftbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten
eine bedingte ist, sobald sie in dem Kampfe ums Dasein auf die Probe gestellt
werden. „Keine Nation," sagt er, „wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf
dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden
zu wählen."

Wenn man Bündnisse und Erdeulen miteinander vergleicht, so ist zweifellos
das Bündnis das stabilere, und die Entente das labilere, wandlungsfähigere
Verhältnis. Aber die Bedeutung, die eine Willenseinigung zwischen zwei
Staaten hat, hängt weit mehr von dem Inhalt als von der Form der Ver¬
einbarungen ab. Bei ihrer politischen Bewertung darf man sich nicht durch die
völkerrechtlichen oder diplomatischen Förmlichkeiten irreführen lassen, die bei der
Festlegung einer gemeinsamen Politik üblich sind. Es geschieht immer wieder,
daß politische Entscheidungen von größter Bedeutung in ganz unformeller Weise
vollzogen werden. Eine formlose Unterhaltung zwischen zwei Staatsmännern
oder Diplomaten, etwa nach einem Diner bei Zigarre und Kaffee, kann eine
ebenso nachhaltige Willenseinigung ihrer Staaten begründen, wie ein in aller
Form ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Englands Zustimmung zu der
französischen Okkupation von Tunis, die nicht nur den Anstoß zu der neueren
französischen Kolonialpolitik gegeben, sondern die die Aufteilung Afrikas und
die ganze moderne Weltpolitik eingeleitet hat, erfolgte in einer rein privaten
Unterhaltung zwischen Lord Salisbury und dem französischen Minister
Waddington auf dem Berliner Kongreß. Gerade für die Erdeulen der Gegen¬
wart ist es charakteristisch, daß sie an keine bestimmte völkerrechtliche oder


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[0398] Erdeulen und Bündnisse das für eine bestimmte Reihe von Jahren abgeschlossen ist und im Falle der Nichterneuerung automatisch erlischt. Unser Bündnis mit Österreich»Ungarn ist ein „ewiges" Bündnis, und Bismarck hatte gewünscht, seine Bindungskraft dadurch noch mehr zu verstärken, daß es auf beiden Seiten von den Par¬ lamenten ratifiziert werden sollte. Eine Entente hat eine geringere Bindungs¬ kraft als ein Bündnis. Man könnte an den Unterschied zwischen einer Ehe und einer Liebschaft denken; Erdeulen sind ja auch als „Extratour" oder als „Flirt" bezeichnet worden. Bei der Stärke des Bindungsgrades ist vor allem das Willensmoment zu betonen. Ist der Wille zur Einigung stark, so erzeugt er bei einem selbst einen starken Glauben an die Dauer der Einigung, und man ist zu festen Abmachungen bereit. Ist der Wille zur Einigung weniger stark und zweifelt man selbst an ihrer Dauer, so wird man vorziehen, sich nur lose zu binden, um möglichst leicht wieder abschwenken zu können. Der Wert aller Willenserklärungen, im Leben der Individuen wie der Staaten, liegt in dem Vorhandensein eben des Willens, der in der Erklärung zum Ausdruck kommt. Je stärker die Bindungskraft eines Bündnisses ist, desto schwerer wird den Staaten der Entschluß gemacht, es wieder aufzulösen. Aber wenn auf der einen oder anderen Seite der Wille, es aufrecht zu erhalten, nicht mehr besteht, so ist die Willenserklärung entwertet. Bismarck betont in seinen „Gedanken und Erinnerungen", daß die Haftbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten eine bedingte ist, sobald sie in dem Kampfe ums Dasein auf die Probe gestellt werden. „Keine Nation," sagt er, „wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen." Wenn man Bündnisse und Erdeulen miteinander vergleicht, so ist zweifellos das Bündnis das stabilere, und die Entente das labilere, wandlungsfähigere Verhältnis. Aber die Bedeutung, die eine Willenseinigung zwischen zwei Staaten hat, hängt weit mehr von dem Inhalt als von der Form der Ver¬ einbarungen ab. Bei ihrer politischen Bewertung darf man sich nicht durch die völkerrechtlichen oder diplomatischen Förmlichkeiten irreführen lassen, die bei der Festlegung einer gemeinsamen Politik üblich sind. Es geschieht immer wieder, daß politische Entscheidungen von größter Bedeutung in ganz unformeller Weise vollzogen werden. Eine formlose Unterhaltung zwischen zwei Staatsmännern oder Diplomaten, etwa nach einem Diner bei Zigarre und Kaffee, kann eine ebenso nachhaltige Willenseinigung ihrer Staaten begründen, wie ein in aller Form ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Englands Zustimmung zu der französischen Okkupation von Tunis, die nicht nur den Anstoß zu der neueren französischen Kolonialpolitik gegeben, sondern die die Aufteilung Afrikas und die ganze moderne Weltpolitik eingeleitet hat, erfolgte in einer rein privaten Unterhaltung zwischen Lord Salisbury und dem französischen Minister Waddington auf dem Berliner Kongreß. Gerade für die Erdeulen der Gegen¬ wart ist es charakteristisch, daß sie an keine bestimmte völkerrechtliche oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/398>, abgerufen am 24.08.2024.