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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Phänomen Laruso

abseits von den großen Straßen Italiens beim Landwein das zu begreifen
suchen, was er an unbewußt sich gehender Schönheit dort täglich von den
Stimmen umherziehender zerlumpter Bänkelsänger zu hören bekommt. Zu be¬
greifen suchen: auch das genießen zu können setzt mehr voraus, als man ge¬
meinhin glaubt. Verlangt das Verständnis für jene Jahrtausende alte Kultur
der Stimmkunst und ihrer anatomischen Voraussetzungen, jene Kultur, auf
deren Höhe, getragen von der künstlerischen Vergangenheit eines ganzen Volkes,
dieser unscheinbare Italiener mit dem plumpen, häßlichen Körper steht.

Wer es begreifen gelernt hat, was Feuer und Farbe der Stimme ist,
nur der mag Caruso seinen Riesenlohn zahlen helfen. Wer es nicht kann oder nicht
will, soll trotz der Orchidee im Knopfloch bei derberer Kost bleiben. Und der
Barbar mag weiterhin Salz auf Malosoll schütten und den Nervenchock, der
von den (reichlich verblühten) Riesenstimmen der Vary und van Dock ausgeht,
diesem wundervollen Blühen und Schwelgen vorziehen.

Ein anderes noch: wir haben in Deutschland das hochdramatische Fach
geschaffen und sind auf diesem Felde fast unumstrittene Herrscher. Für Leonore
und Brünnhild die Verquickung von Ton und Spiel zu schaffen, war uns vor¬
behalten. Unbekannt aber oder wenigstens ungepflegt ist bei uns die Kunst
geblieben, Verdis und Bizets Menschen lebendig zu machen. Hier herrscht bei
uns im Glänze seines Ruhmes der Typ des Tenors, wie er auf Ansichts¬
karten posierend ein Backfischherz füllt; der Tenor, der Sänger bleibt, der das
Dramatische seiner Aufgaben mit ewig sich gleich bleibenden, starren Theater¬
gebärden von sich schiebt.

Wo wir Beethovens Pathetik darstellen sollen, wo die Tragik monu¬
mentaler und bewußter Figuren wie der Wagnerschen zu verkörpern ist, löst
man auf unseren Bühnen Aufgaben, an denen südliche Menschen immer scheitern
werden. Da aber, wo nicht solche spezifisch deutsche Menschen darzustellen sind,
versagt man bei uns. Versagt, weil wir die einfachsten Voraussetzungen dieser
Kunst verlernt haben. Weil uns der Sinn für die selbstverständliche Schönheit
von Bewegung und Miene verloren gegangen ist. Man sehe sich doch einmal
eine Verdiszene guten deutschen Durchschnitts an: keine Bewegung, die wie es
natürlich wäre, in einem Zug abläuft. Alles zerlegt sich in kleine Stationen,
in einzelne Phasen: als ob man den Filu einer solchen Bewegung nicht rasch
abschnurren ließe, sondern die einzelnen Bilder in Sekundenintervallen pro¬
jizierte. Weshalb haben wir auf unseren Opernbühnen so verschwindend wenig
Menschen, die gehen können, wie man eben geht? Weshalb ist es allenthalben
ein Stampfen, Rütteln und Taumeln, als triebe ein schlecht geregeltes Uhrwerk
diese Glieder, nicht warmes, fühlendes Leben?

Und nun diese Bajazzoszene: da marschiert im Komödiantenzug ein kleiner
plumper Kerl. Opernstar? Ach nein, ganz im Hintergrund, ganz bescheiden.
Eine glaubhafte Nebenfigur zunächst, nichts weiter. Gemütlich und lustig ^
Bajazzo. Bumm -- auf Fell der großen Trommel, die der dicke Polichinell


Das Phänomen Laruso

abseits von den großen Straßen Italiens beim Landwein das zu begreifen
suchen, was er an unbewußt sich gehender Schönheit dort täglich von den
Stimmen umherziehender zerlumpter Bänkelsänger zu hören bekommt. Zu be¬
greifen suchen: auch das genießen zu können setzt mehr voraus, als man ge¬
meinhin glaubt. Verlangt das Verständnis für jene Jahrtausende alte Kultur
der Stimmkunst und ihrer anatomischen Voraussetzungen, jene Kultur, auf
deren Höhe, getragen von der künstlerischen Vergangenheit eines ganzen Volkes,
dieser unscheinbare Italiener mit dem plumpen, häßlichen Körper steht.

Wer es begreifen gelernt hat, was Feuer und Farbe der Stimme ist,
nur der mag Caruso seinen Riesenlohn zahlen helfen. Wer es nicht kann oder nicht
will, soll trotz der Orchidee im Knopfloch bei derberer Kost bleiben. Und der
Barbar mag weiterhin Salz auf Malosoll schütten und den Nervenchock, der
von den (reichlich verblühten) Riesenstimmen der Vary und van Dock ausgeht,
diesem wundervollen Blühen und Schwelgen vorziehen.

Ein anderes noch: wir haben in Deutschland das hochdramatische Fach
geschaffen und sind auf diesem Felde fast unumstrittene Herrscher. Für Leonore
und Brünnhild die Verquickung von Ton und Spiel zu schaffen, war uns vor¬
behalten. Unbekannt aber oder wenigstens ungepflegt ist bei uns die Kunst
geblieben, Verdis und Bizets Menschen lebendig zu machen. Hier herrscht bei
uns im Glänze seines Ruhmes der Typ des Tenors, wie er auf Ansichts¬
karten posierend ein Backfischherz füllt; der Tenor, der Sänger bleibt, der das
Dramatische seiner Aufgaben mit ewig sich gleich bleibenden, starren Theater¬
gebärden von sich schiebt.

Wo wir Beethovens Pathetik darstellen sollen, wo die Tragik monu¬
mentaler und bewußter Figuren wie der Wagnerschen zu verkörpern ist, löst
man auf unseren Bühnen Aufgaben, an denen südliche Menschen immer scheitern
werden. Da aber, wo nicht solche spezifisch deutsche Menschen darzustellen sind,
versagt man bei uns. Versagt, weil wir die einfachsten Voraussetzungen dieser
Kunst verlernt haben. Weil uns der Sinn für die selbstverständliche Schönheit
von Bewegung und Miene verloren gegangen ist. Man sehe sich doch einmal
eine Verdiszene guten deutschen Durchschnitts an: keine Bewegung, die wie es
natürlich wäre, in einem Zug abläuft. Alles zerlegt sich in kleine Stationen,
in einzelne Phasen: als ob man den Filu einer solchen Bewegung nicht rasch
abschnurren ließe, sondern die einzelnen Bilder in Sekundenintervallen pro¬
jizierte. Weshalb haben wir auf unseren Opernbühnen so verschwindend wenig
Menschen, die gehen können, wie man eben geht? Weshalb ist es allenthalben
ein Stampfen, Rütteln und Taumeln, als triebe ein schlecht geregeltes Uhrwerk
diese Glieder, nicht warmes, fühlendes Leben?

Und nun diese Bajazzoszene: da marschiert im Komödiantenzug ein kleiner
plumper Kerl. Opernstar? Ach nein, ganz im Hintergrund, ganz bescheiden.
Eine glaubhafte Nebenfigur zunächst, nichts weiter. Gemütlich und lustig ^
Bajazzo. Bumm — auf Fell der großen Trommel, die der dicke Polichinell


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/386>, abgerufen am 22.07.2024.