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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Ligcnart der Geschlechter

psychologischen Wissenschaft und den starken Gegenwartsforderungen der anderen
Richtungen besteht, erklärt sich auch die Tatsache, daß auf dem Bieslauer
Kongreß die Konsequenzen aus den sozialen Verhältnissen im vollen Umfange
gezogen werden konnten, noch nicht aber diejenigen, die sich aus der körperlichen
und geistigen Eigenart der Geschlechter ergeben. Diesen Standpunkt vertrat
auch im großen und ganzen Schulrat Dr. Wvchgram-Lübeck in seinem Vor¬
trage über die Probleme der Differenzierung der Geschlechter in Unterricht und
Erziehung. Noch geben uns die rein intellektuellen Differenzen keinen Anhalts¬
punkt zur Begründung unterrichtlich-erzieherischer Maßregeln. Sind sie aber
festgestellt, dann erhebt sich immer noch die Frage, ob man die Unterschiede
betonen soll oder nicht. Vielleicht überspannt man überhaupt die Bedeutung
des rein Intellektuellen, und mit Recht mahnte Kerschensteiner, auch die Willens-
eigenschaften nicht zu gering zu schätzen. Von dem individualisierenden Stand¬
punkt allein aus kann man das Problem auch nicht lösen, dann müßte man
eigentlich nach Begabungen, nicht aber nach Geschlechtern scheiden. Alle Differenzen
aber selbst zugegeben, bleibt immer noch die Frage, ob die Zwecke der Ge¬
meinschaftserziehung nicht noch ausschlaggebender sind als die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern. In einer Beziehung herrschte wohl allseits Über¬
einstimmung, nämlich daß mindestens Versuchsschulen auf koedukationeller Grund¬
lage erwünscht seien und daß selbstverständlich überall da, wo wie in den
kleineren Städten die Zulassung der Mädchen zu den höheren Knabenschulen
aus sozialen Gründen notwendig sei, sie unbedingt einzutreten habe.

Wohl hat der diesjährige Kongreß nicht mit einem leicht greifbaren
Ergebnis geschlossen, aber dennoch hat er wie vielleicht keiner seiner beiden
Vorgänger den unlösbaren Zusammenhang zwischen Schulreform und Gegen¬
wartskultur gezeigt. Einen Markstein in der pädagogischen Geschichte bedeutet
es aber auch, daß auf dieser Tagung zum ersten Male bei einem pädagogischen
Problem von allgemeinster Bedeutung die weibliche Erziehung nicht nur eine
theoretisch gleichberechtigte Rolle gespielt hat, sondern geradezu im Mittelpunkt
des Interesses stand. Auch hier zeigt sich wiever das Verdienst des Bundes
die Schulreformfrage in den großen Zusammenhang der Kulturentwicklung
hineingestellt zu haben, getreu dem Motto, das ihm Aloys Fischer im Januar¬
heft der "Tat" mitgab: "Das pädagogische Gewissen der Gegenwart zu sein
und der Schöpfer des Bildungswesens der Zukunft!"




Die Ligcnart der Geschlechter

psychologischen Wissenschaft und den starken Gegenwartsforderungen der anderen
Richtungen besteht, erklärt sich auch die Tatsache, daß auf dem Bieslauer
Kongreß die Konsequenzen aus den sozialen Verhältnissen im vollen Umfange
gezogen werden konnten, noch nicht aber diejenigen, die sich aus der körperlichen
und geistigen Eigenart der Geschlechter ergeben. Diesen Standpunkt vertrat
auch im großen und ganzen Schulrat Dr. Wvchgram-Lübeck in seinem Vor¬
trage über die Probleme der Differenzierung der Geschlechter in Unterricht und
Erziehung. Noch geben uns die rein intellektuellen Differenzen keinen Anhalts¬
punkt zur Begründung unterrichtlich-erzieherischer Maßregeln. Sind sie aber
festgestellt, dann erhebt sich immer noch die Frage, ob man die Unterschiede
betonen soll oder nicht. Vielleicht überspannt man überhaupt die Bedeutung
des rein Intellektuellen, und mit Recht mahnte Kerschensteiner, auch die Willens-
eigenschaften nicht zu gering zu schätzen. Von dem individualisierenden Stand¬
punkt allein aus kann man das Problem auch nicht lösen, dann müßte man
eigentlich nach Begabungen, nicht aber nach Geschlechtern scheiden. Alle Differenzen
aber selbst zugegeben, bleibt immer noch die Frage, ob die Zwecke der Ge¬
meinschaftserziehung nicht noch ausschlaggebender sind als die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern. In einer Beziehung herrschte wohl allseits Über¬
einstimmung, nämlich daß mindestens Versuchsschulen auf koedukationeller Grund¬
lage erwünscht seien und daß selbstverständlich überall da, wo wie in den
kleineren Städten die Zulassung der Mädchen zu den höheren Knabenschulen
aus sozialen Gründen notwendig sei, sie unbedingt einzutreten habe.

Wohl hat der diesjährige Kongreß nicht mit einem leicht greifbaren
Ergebnis geschlossen, aber dennoch hat er wie vielleicht keiner seiner beiden
Vorgänger den unlösbaren Zusammenhang zwischen Schulreform und Gegen¬
wartskultur gezeigt. Einen Markstein in der pädagogischen Geschichte bedeutet
es aber auch, daß auf dieser Tagung zum ersten Male bei einem pädagogischen
Problem von allgemeinster Bedeutung die weibliche Erziehung nicht nur eine
theoretisch gleichberechtigte Rolle gespielt hat, sondern geradezu im Mittelpunkt
des Interesses stand. Auch hier zeigt sich wiever das Verdienst des Bundes
die Schulreformfrage in den großen Zusammenhang der Kulturentwicklung
hineingestellt zu haben, getreu dem Motto, das ihm Aloys Fischer im Januar¬
heft der „Tat" mitgab: „Das pädagogische Gewissen der Gegenwart zu sein
und der Schöpfer des Bildungswesens der Zukunft!"




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[0384] Die Ligcnart der Geschlechter psychologischen Wissenschaft und den starken Gegenwartsforderungen der anderen Richtungen besteht, erklärt sich auch die Tatsache, daß auf dem Bieslauer Kongreß die Konsequenzen aus den sozialen Verhältnissen im vollen Umfange gezogen werden konnten, noch nicht aber diejenigen, die sich aus der körperlichen und geistigen Eigenart der Geschlechter ergeben. Diesen Standpunkt vertrat auch im großen und ganzen Schulrat Dr. Wvchgram-Lübeck in seinem Vor¬ trage über die Probleme der Differenzierung der Geschlechter in Unterricht und Erziehung. Noch geben uns die rein intellektuellen Differenzen keinen Anhalts¬ punkt zur Begründung unterrichtlich-erzieherischer Maßregeln. Sind sie aber festgestellt, dann erhebt sich immer noch die Frage, ob man die Unterschiede betonen soll oder nicht. Vielleicht überspannt man überhaupt die Bedeutung des rein Intellektuellen, und mit Recht mahnte Kerschensteiner, auch die Willens- eigenschaften nicht zu gering zu schätzen. Von dem individualisierenden Stand¬ punkt allein aus kann man das Problem auch nicht lösen, dann müßte man eigentlich nach Begabungen, nicht aber nach Geschlechtern scheiden. Alle Differenzen aber selbst zugegeben, bleibt immer noch die Frage, ob die Zwecke der Ge¬ meinschaftserziehung nicht noch ausschlaggebender sind als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In einer Beziehung herrschte wohl allseits Über¬ einstimmung, nämlich daß mindestens Versuchsschulen auf koedukationeller Grund¬ lage erwünscht seien und daß selbstverständlich überall da, wo wie in den kleineren Städten die Zulassung der Mädchen zu den höheren Knabenschulen aus sozialen Gründen notwendig sei, sie unbedingt einzutreten habe. Wohl hat der diesjährige Kongreß nicht mit einem leicht greifbaren Ergebnis geschlossen, aber dennoch hat er wie vielleicht keiner seiner beiden Vorgänger den unlösbaren Zusammenhang zwischen Schulreform und Gegen¬ wartskultur gezeigt. Einen Markstein in der pädagogischen Geschichte bedeutet es aber auch, daß auf dieser Tagung zum ersten Male bei einem pädagogischen Problem von allgemeinster Bedeutung die weibliche Erziehung nicht nur eine theoretisch gleichberechtigte Rolle gespielt hat, sondern geradezu im Mittelpunkt des Interesses stand. Auch hier zeigt sich wiever das Verdienst des Bundes die Schulreformfrage in den großen Zusammenhang der Kulturentwicklung hineingestellt zu haben, getreu dem Motto, das ihm Aloys Fischer im Januar¬ heft der „Tat" mitgab: „Das pädagogische Gewissen der Gegenwart zu sein und der Schöpfer des Bildungswesens der Zukunft!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/384>, abgerufen am 24.08.2024.