Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Eigenart der Geschlechter

zeigen sich wohl Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen und zwischen den
einzelnen Altersstufen, aber von durchgreifend wesentlicher Art sind sie nicht.

Starkes Interesse beanspruchte der Vortrag von Dr. Otto Lipmann-Klein-
glienicke über die statistische Untersuchungen von Geschlechtsunterschieden. Lipmann
hatte sich die dankenswerte Aufgabe gestellt, "die in der Literatur vorliegenden
sehr verschiedenartigen Formulierungen über Geschlechtsunterschiede auf eine
möglichst eindeutige Formulierung zu bringen und sie dann rechnerisch zu ver¬
arbeiten." Seine bezüglich der statistischen Methode ganz vorzüglich ausgeführten
Untersuchungen gipfelten in dem Ergebnisse, daß erstens "die Jntervariabilität
der männlichen Individuen bei der Mehrzahl der untersuchten Leistungen und
Eigenschaften größer ist als die der weiblichen, zweitens daß die Überlegenheit
der Knaben sich meist darin äußert, daß sie im übernormalen Viertel sich in
der Mehrheit befinden, daß dagegen in den Fällen, in denen eine Überlegenheit
der Mädchen zu konstatieren ist, diese darin in Erscheinung tritt, daß die
Mädchen sich im umernormalen Viertel in der Minorität befinden, drittens daß
je größere Geschlechtsunterschiede man konstruieren will, man auf desto weniger
Eigenschaften beschränkt ist."

Die Verhandlungen des Kongresses über die Eigenart der Geschlechter
wurden in wirkungsvoller Weise durch eine von Professor W. Stern organisierte
Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter ergänzt. Leider ist
es bei der Fülle des Materials, das diese Ausstellung zur vergleichenden Psychologie
der Geschlechter brachte, unmöglich, an dieser Stelle ausführlich über die Re¬
sultate dieser Untersuchungen zu berichten.

Fassen wir unter kritischer Würdigung der Einzelresultate den Gesamteindruck
all dieser von psychologischer Grundlage ausgehenden Untersuchungen zusammen,
so kann man sich nicht des Gefühls erwehren, daß all diese Ergebnisse nur
vorläufige sein können und bisher noch keine feste Basis darstellen, auf der man
sicher weiterbauen dürfte. Aber nicht nur die Resultate tragen im ganzen ge¬
nommen den Charakter einer gewissen Unbestimmtheit, sondern vor allem --
und hier liegt vielleicht auch der Hauptgrund für die Relativität der Ergebnisse --
ist es die Methode der Untersuchungen, die mancher Verbesserungen bedarf.
Beiden Ansichten wurde in der sich an den Vorträgen anschließenden Debatte in
starkem Maße Ausdruck gegeben, selbstverständlich unter voller Würdigung der
Schwierigkeiten, die sich für die psychologischen Untersuchungen aus dem Mangel
an exakten Vorarbeiten ergaben. Von den Einwänden ist in erster Linie her¬
vorzuheben, daß das bisherige Material doch dem Umfange nach zu gering ist,
um daraus so wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen; vor allem darf man die
badischen Erfahrungen nicht überschätzen' denn bei dem geringen Prozentsatz der
am Unterricht teilnehmenden Mädchen kann man selbstverständlich nicht von einer
eigentlichen Koedukation sprechen, um so weniger, als ja die Mädchen hier in
einen Knabenschulplan eingezwängt werden. Für die badische Untersuchung fällt
auch sehr stark ins Gewicht, daß nach Professor Cohns Angaben die höhere


Die Eigenart der Geschlechter

zeigen sich wohl Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen und zwischen den
einzelnen Altersstufen, aber von durchgreifend wesentlicher Art sind sie nicht.

Starkes Interesse beanspruchte der Vortrag von Dr. Otto Lipmann-Klein-
glienicke über die statistische Untersuchungen von Geschlechtsunterschieden. Lipmann
hatte sich die dankenswerte Aufgabe gestellt, „die in der Literatur vorliegenden
sehr verschiedenartigen Formulierungen über Geschlechtsunterschiede auf eine
möglichst eindeutige Formulierung zu bringen und sie dann rechnerisch zu ver¬
arbeiten." Seine bezüglich der statistischen Methode ganz vorzüglich ausgeführten
Untersuchungen gipfelten in dem Ergebnisse, daß erstens „die Jntervariabilität
der männlichen Individuen bei der Mehrzahl der untersuchten Leistungen und
Eigenschaften größer ist als die der weiblichen, zweitens daß die Überlegenheit
der Knaben sich meist darin äußert, daß sie im übernormalen Viertel sich in
der Mehrheit befinden, daß dagegen in den Fällen, in denen eine Überlegenheit
der Mädchen zu konstatieren ist, diese darin in Erscheinung tritt, daß die
Mädchen sich im umernormalen Viertel in der Minorität befinden, drittens daß
je größere Geschlechtsunterschiede man konstruieren will, man auf desto weniger
Eigenschaften beschränkt ist."

Die Verhandlungen des Kongresses über die Eigenart der Geschlechter
wurden in wirkungsvoller Weise durch eine von Professor W. Stern organisierte
Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter ergänzt. Leider ist
es bei der Fülle des Materials, das diese Ausstellung zur vergleichenden Psychologie
der Geschlechter brachte, unmöglich, an dieser Stelle ausführlich über die Re¬
sultate dieser Untersuchungen zu berichten.

Fassen wir unter kritischer Würdigung der Einzelresultate den Gesamteindruck
all dieser von psychologischer Grundlage ausgehenden Untersuchungen zusammen,
so kann man sich nicht des Gefühls erwehren, daß all diese Ergebnisse nur
vorläufige sein können und bisher noch keine feste Basis darstellen, auf der man
sicher weiterbauen dürfte. Aber nicht nur die Resultate tragen im ganzen ge¬
nommen den Charakter einer gewissen Unbestimmtheit, sondern vor allem —
und hier liegt vielleicht auch der Hauptgrund für die Relativität der Ergebnisse —
ist es die Methode der Untersuchungen, die mancher Verbesserungen bedarf.
Beiden Ansichten wurde in der sich an den Vorträgen anschließenden Debatte in
starkem Maße Ausdruck gegeben, selbstverständlich unter voller Würdigung der
Schwierigkeiten, die sich für die psychologischen Untersuchungen aus dem Mangel
an exakten Vorarbeiten ergaben. Von den Einwänden ist in erster Linie her¬
vorzuheben, daß das bisherige Material doch dem Umfange nach zu gering ist,
um daraus so wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen; vor allem darf man die
badischen Erfahrungen nicht überschätzen' denn bei dem geringen Prozentsatz der
am Unterricht teilnehmenden Mädchen kann man selbstverständlich nicht von einer
eigentlichen Koedukation sprechen, um so weniger, als ja die Mädchen hier in
einen Knabenschulplan eingezwängt werden. Für die badische Untersuchung fällt
auch sehr stark ins Gewicht, daß nach Professor Cohns Angaben die höhere


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327192"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Eigenart der Geschlechter</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1498" prev="#ID_1497"> zeigen sich wohl Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen und zwischen den<lb/>
einzelnen Altersstufen, aber von durchgreifend wesentlicher Art sind sie nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1499"> Starkes Interesse beanspruchte der Vortrag von Dr. Otto Lipmann-Klein-<lb/>
glienicke über die statistische Untersuchungen von Geschlechtsunterschieden. Lipmann<lb/>
hatte sich die dankenswerte Aufgabe gestellt, &#x201E;die in der Literatur vorliegenden<lb/>
sehr verschiedenartigen Formulierungen über Geschlechtsunterschiede auf eine<lb/>
möglichst eindeutige Formulierung zu bringen und sie dann rechnerisch zu ver¬<lb/>
arbeiten." Seine bezüglich der statistischen Methode ganz vorzüglich ausgeführten<lb/>
Untersuchungen gipfelten in dem Ergebnisse, daß erstens &#x201E;die Jntervariabilität<lb/>
der männlichen Individuen bei der Mehrzahl der untersuchten Leistungen und<lb/>
Eigenschaften größer ist als die der weiblichen, zweitens daß die Überlegenheit<lb/>
der Knaben sich meist darin äußert, daß sie im übernormalen Viertel sich in<lb/>
der Mehrheit befinden, daß dagegen in den Fällen, in denen eine Überlegenheit<lb/>
der Mädchen zu konstatieren ist, diese darin in Erscheinung tritt, daß die<lb/>
Mädchen sich im umernormalen Viertel in der Minorität befinden, drittens daß<lb/>
je größere Geschlechtsunterschiede man konstruieren will, man auf desto weniger<lb/>
Eigenschaften beschränkt ist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1500"> Die Verhandlungen des Kongresses über die Eigenart der Geschlechter<lb/>
wurden in wirkungsvoller Weise durch eine von Professor W. Stern organisierte<lb/>
Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter ergänzt. Leider ist<lb/>
es bei der Fülle des Materials, das diese Ausstellung zur vergleichenden Psychologie<lb/>
der Geschlechter brachte, unmöglich, an dieser Stelle ausführlich über die Re¬<lb/>
sultate dieser Untersuchungen zu berichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1501" next="#ID_1502"> Fassen wir unter kritischer Würdigung der Einzelresultate den Gesamteindruck<lb/>
all dieser von psychologischer Grundlage ausgehenden Untersuchungen zusammen,<lb/>
so kann man sich nicht des Gefühls erwehren, daß all diese Ergebnisse nur<lb/>
vorläufige sein können und bisher noch keine feste Basis darstellen, auf der man<lb/>
sicher weiterbauen dürfte. Aber nicht nur die Resultate tragen im ganzen ge¬<lb/>
nommen den Charakter einer gewissen Unbestimmtheit, sondern vor allem &#x2014;<lb/>
und hier liegt vielleicht auch der Hauptgrund für die Relativität der Ergebnisse &#x2014;<lb/>
ist es die Methode der Untersuchungen, die mancher Verbesserungen bedarf.<lb/>
Beiden Ansichten wurde in der sich an den Vorträgen anschließenden Debatte in<lb/>
starkem Maße Ausdruck gegeben, selbstverständlich unter voller Würdigung der<lb/>
Schwierigkeiten, die sich für die psychologischen Untersuchungen aus dem Mangel<lb/>
an exakten Vorarbeiten ergaben. Von den Einwänden ist in erster Linie her¬<lb/>
vorzuheben, daß das bisherige Material doch dem Umfange nach zu gering ist,<lb/>
um daraus so wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen; vor allem darf man die<lb/>
badischen Erfahrungen nicht überschätzen' denn bei dem geringen Prozentsatz der<lb/>
am Unterricht teilnehmenden Mädchen kann man selbstverständlich nicht von einer<lb/>
eigentlichen Koedukation sprechen, um so weniger, als ja die Mädchen hier in<lb/>
einen Knabenschulplan eingezwängt werden. Für die badische Untersuchung fällt<lb/>
auch sehr stark ins Gewicht, daß nach Professor Cohns Angaben die höhere</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0380] Die Eigenart der Geschlechter zeigen sich wohl Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen und zwischen den einzelnen Altersstufen, aber von durchgreifend wesentlicher Art sind sie nicht. Starkes Interesse beanspruchte der Vortrag von Dr. Otto Lipmann-Klein- glienicke über die statistische Untersuchungen von Geschlechtsunterschieden. Lipmann hatte sich die dankenswerte Aufgabe gestellt, „die in der Literatur vorliegenden sehr verschiedenartigen Formulierungen über Geschlechtsunterschiede auf eine möglichst eindeutige Formulierung zu bringen und sie dann rechnerisch zu ver¬ arbeiten." Seine bezüglich der statistischen Methode ganz vorzüglich ausgeführten Untersuchungen gipfelten in dem Ergebnisse, daß erstens „die Jntervariabilität der männlichen Individuen bei der Mehrzahl der untersuchten Leistungen und Eigenschaften größer ist als die der weiblichen, zweitens daß die Überlegenheit der Knaben sich meist darin äußert, daß sie im übernormalen Viertel sich in der Mehrheit befinden, daß dagegen in den Fällen, in denen eine Überlegenheit der Mädchen zu konstatieren ist, diese darin in Erscheinung tritt, daß die Mädchen sich im umernormalen Viertel in der Minorität befinden, drittens daß je größere Geschlechtsunterschiede man konstruieren will, man auf desto weniger Eigenschaften beschränkt ist." Die Verhandlungen des Kongresses über die Eigenart der Geschlechter wurden in wirkungsvoller Weise durch eine von Professor W. Stern organisierte Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter ergänzt. Leider ist es bei der Fülle des Materials, das diese Ausstellung zur vergleichenden Psychologie der Geschlechter brachte, unmöglich, an dieser Stelle ausführlich über die Re¬ sultate dieser Untersuchungen zu berichten. Fassen wir unter kritischer Würdigung der Einzelresultate den Gesamteindruck all dieser von psychologischer Grundlage ausgehenden Untersuchungen zusammen, so kann man sich nicht des Gefühls erwehren, daß all diese Ergebnisse nur vorläufige sein können und bisher noch keine feste Basis darstellen, auf der man sicher weiterbauen dürfte. Aber nicht nur die Resultate tragen im ganzen ge¬ nommen den Charakter einer gewissen Unbestimmtheit, sondern vor allem — und hier liegt vielleicht auch der Hauptgrund für die Relativität der Ergebnisse — ist es die Methode der Untersuchungen, die mancher Verbesserungen bedarf. Beiden Ansichten wurde in der sich an den Vorträgen anschließenden Debatte in starkem Maße Ausdruck gegeben, selbstverständlich unter voller Würdigung der Schwierigkeiten, die sich für die psychologischen Untersuchungen aus dem Mangel an exakten Vorarbeiten ergaben. Von den Einwänden ist in erster Linie her¬ vorzuheben, daß das bisherige Material doch dem Umfange nach zu gering ist, um daraus so wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen; vor allem darf man die badischen Erfahrungen nicht überschätzen' denn bei dem geringen Prozentsatz der am Unterricht teilnehmenden Mädchen kann man selbstverständlich nicht von einer eigentlichen Koedukation sprechen, um so weniger, als ja die Mädchen hier in einen Knabenschulplan eingezwängt werden. Für die badische Untersuchung fällt auch sehr stark ins Gewicht, daß nach Professor Cohns Angaben die höhere

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/380
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/380>, abgerufen am 24.08.2024.