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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Eigenart der Geschlechter

drei verschiedenen Lebensperioden, im frühesten Kindesalter, in dem Alter bis
zur beginnenden Pubertät und in dem Alter während und nach der Pubertät.
Bei diesen Untersuchungen sollen selbstverständlich die pädagogisch kinderpsycho-
logische Wissenschaft und die pädagogische Praxis systematisch zusammenarbeiten.
Zum Schlüsse faßt Memnann seine persönliche Ansicht in einigen Thesen zu¬
sammen. Meumann glaubt, daß man schon jetzt nachweisen könne, daß die
psycho-physischen Differenzen beider Geschlechter geschlechtlich-konstitutionelle sind
und daß es eine bestimmt ausgeprägte geistige und körperliche Eigenart der
Geschlechter gebe in intellektueller, emotionaler und voluntativer Hinsicht; ferner,
daß die Stärke der psychischen Sexualcharaktere in den einzelnen Perioden sehr
verschieden ist, daß also die Forderung der Koedukation für die verschiedenen
Entwicklungsjahre eine ganz verschiedene Bedeutung hat. Meumann ist ferner
der Überzeugung, daß die Eigenart der Knaben keineswegs als absolut wert¬
voller oder überhaupt irgendwie als überlegen bezeichnet werden darf. Als
fundamentale Forderung stellt er somit die Gleichwertigkeit, aber nicht die
Gleichheit der Ziele und des Ganges der Bildung auf.

Meumanns Angaben werden in wirkungsvoller Weise durch den Vortrag
von Professor William Stern, dem bekannten Vertreter der differentiellen Psycho¬
logie an der Breslauer Universität, ergänzt. Nach Stern lassen sich bereits in
der Zeit der frühesten Kindheit deutliche Unterschiede in dem allgemein psychischen
Typus der Geschlechter beobachten (z. B. die verschiedene Art des Sprechen-
lernens und des Spielens), selbstverständlich sei aber bei derartigen Differenzen
die einseitige Verzerrung ins Sexuelle (vgl. die psycho-analytische Schule von
Freud) zurückzuweisen. Die Entwicklung in den späteren Kinderjahren zeigt nun,
daß eine Reihe von allgemeinsten Verhaltenseigenschaften sich im männlichen und
weiblichen Seelenleben immer stärker differenzieren, bis sie dann in der Pubertäts¬
zeit in entscheidender Weise um die Sexualität zentriert werden. Als wichtigste
Resultate für die quantitativen Unterschiede stellt Stern fest, daß bei den Knaben
zwar die Höchstleistungen größer sind, aber ebenso auch die Mindestleistungen,
daß also die größere Homogenität bei den Mädchen besteht und ferner, daß
das Entwicklungstempo beider Geschlechter auffallend verschiedene Kurven zeigt,
was durch die Untersuchungen von Heymans bestätigt wird. Bezüglich der
qualitativen Unterschiede scheint nach Stern die alte Auffassung recht zu haben,
daß den Mädchen die größere Rezeptivität und eine damit zusammenhängende
stärkere Fähigkeit zum Nachahmen eigen ist. In voluntativer Hinsicht, wobei
allerdings die Suggestionsfrage noch ungeklärt bleibe, zeige sich der größere
Fleiß und die bessere Lenksamkeit bei den Mädchen, bei den Knaben aber die
stärker entwickelte Selbständigkeit; vor allem aber glaubt Stern bei den Knaben
eine größere Originalität und eine erhöhte Begabung für das Konstruktiv-
Technische und sür die straffe logische Synthese feststellen zu können.

In der gesamten Stellungnahme zeigen die Mädchen wohl einen mehr
persönlich-subjektiven, die Knaben einen mehr sachlich-objektiven Charakter, eine


Die Eigenart der Geschlechter

drei verschiedenen Lebensperioden, im frühesten Kindesalter, in dem Alter bis
zur beginnenden Pubertät und in dem Alter während und nach der Pubertät.
Bei diesen Untersuchungen sollen selbstverständlich die pädagogisch kinderpsycho-
logische Wissenschaft und die pädagogische Praxis systematisch zusammenarbeiten.
Zum Schlüsse faßt Memnann seine persönliche Ansicht in einigen Thesen zu¬
sammen. Meumann glaubt, daß man schon jetzt nachweisen könne, daß die
psycho-physischen Differenzen beider Geschlechter geschlechtlich-konstitutionelle sind
und daß es eine bestimmt ausgeprägte geistige und körperliche Eigenart der
Geschlechter gebe in intellektueller, emotionaler und voluntativer Hinsicht; ferner,
daß die Stärke der psychischen Sexualcharaktere in den einzelnen Perioden sehr
verschieden ist, daß also die Forderung der Koedukation für die verschiedenen
Entwicklungsjahre eine ganz verschiedene Bedeutung hat. Meumann ist ferner
der Überzeugung, daß die Eigenart der Knaben keineswegs als absolut wert¬
voller oder überhaupt irgendwie als überlegen bezeichnet werden darf. Als
fundamentale Forderung stellt er somit die Gleichwertigkeit, aber nicht die
Gleichheit der Ziele und des Ganges der Bildung auf.

Meumanns Angaben werden in wirkungsvoller Weise durch den Vortrag
von Professor William Stern, dem bekannten Vertreter der differentiellen Psycho¬
logie an der Breslauer Universität, ergänzt. Nach Stern lassen sich bereits in
der Zeit der frühesten Kindheit deutliche Unterschiede in dem allgemein psychischen
Typus der Geschlechter beobachten (z. B. die verschiedene Art des Sprechen-
lernens und des Spielens), selbstverständlich sei aber bei derartigen Differenzen
die einseitige Verzerrung ins Sexuelle (vgl. die psycho-analytische Schule von
Freud) zurückzuweisen. Die Entwicklung in den späteren Kinderjahren zeigt nun,
daß eine Reihe von allgemeinsten Verhaltenseigenschaften sich im männlichen und
weiblichen Seelenleben immer stärker differenzieren, bis sie dann in der Pubertäts¬
zeit in entscheidender Weise um die Sexualität zentriert werden. Als wichtigste
Resultate für die quantitativen Unterschiede stellt Stern fest, daß bei den Knaben
zwar die Höchstleistungen größer sind, aber ebenso auch die Mindestleistungen,
daß also die größere Homogenität bei den Mädchen besteht und ferner, daß
das Entwicklungstempo beider Geschlechter auffallend verschiedene Kurven zeigt,
was durch die Untersuchungen von Heymans bestätigt wird. Bezüglich der
qualitativen Unterschiede scheint nach Stern die alte Auffassung recht zu haben,
daß den Mädchen die größere Rezeptivität und eine damit zusammenhängende
stärkere Fähigkeit zum Nachahmen eigen ist. In voluntativer Hinsicht, wobei
allerdings die Suggestionsfrage noch ungeklärt bleibe, zeige sich der größere
Fleiß und die bessere Lenksamkeit bei den Mädchen, bei den Knaben aber die
stärker entwickelte Selbständigkeit; vor allem aber glaubt Stern bei den Knaben
eine größere Originalität und eine erhöhte Begabung für das Konstruktiv-
Technische und sür die straffe logische Synthese feststellen zu können.

In der gesamten Stellungnahme zeigen die Mädchen wohl einen mehr
persönlich-subjektiven, die Knaben einen mehr sachlich-objektiven Charakter, eine


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[0378] Die Eigenart der Geschlechter drei verschiedenen Lebensperioden, im frühesten Kindesalter, in dem Alter bis zur beginnenden Pubertät und in dem Alter während und nach der Pubertät. Bei diesen Untersuchungen sollen selbstverständlich die pädagogisch kinderpsycho- logische Wissenschaft und die pädagogische Praxis systematisch zusammenarbeiten. Zum Schlüsse faßt Memnann seine persönliche Ansicht in einigen Thesen zu¬ sammen. Meumann glaubt, daß man schon jetzt nachweisen könne, daß die psycho-physischen Differenzen beider Geschlechter geschlechtlich-konstitutionelle sind und daß es eine bestimmt ausgeprägte geistige und körperliche Eigenart der Geschlechter gebe in intellektueller, emotionaler und voluntativer Hinsicht; ferner, daß die Stärke der psychischen Sexualcharaktere in den einzelnen Perioden sehr verschieden ist, daß also die Forderung der Koedukation für die verschiedenen Entwicklungsjahre eine ganz verschiedene Bedeutung hat. Meumann ist ferner der Überzeugung, daß die Eigenart der Knaben keineswegs als absolut wert¬ voller oder überhaupt irgendwie als überlegen bezeichnet werden darf. Als fundamentale Forderung stellt er somit die Gleichwertigkeit, aber nicht die Gleichheit der Ziele und des Ganges der Bildung auf. Meumanns Angaben werden in wirkungsvoller Weise durch den Vortrag von Professor William Stern, dem bekannten Vertreter der differentiellen Psycho¬ logie an der Breslauer Universität, ergänzt. Nach Stern lassen sich bereits in der Zeit der frühesten Kindheit deutliche Unterschiede in dem allgemein psychischen Typus der Geschlechter beobachten (z. B. die verschiedene Art des Sprechen- lernens und des Spielens), selbstverständlich sei aber bei derartigen Differenzen die einseitige Verzerrung ins Sexuelle (vgl. die psycho-analytische Schule von Freud) zurückzuweisen. Die Entwicklung in den späteren Kinderjahren zeigt nun, daß eine Reihe von allgemeinsten Verhaltenseigenschaften sich im männlichen und weiblichen Seelenleben immer stärker differenzieren, bis sie dann in der Pubertäts¬ zeit in entscheidender Weise um die Sexualität zentriert werden. Als wichtigste Resultate für die quantitativen Unterschiede stellt Stern fest, daß bei den Knaben zwar die Höchstleistungen größer sind, aber ebenso auch die Mindestleistungen, daß also die größere Homogenität bei den Mädchen besteht und ferner, daß das Entwicklungstempo beider Geschlechter auffallend verschiedene Kurven zeigt, was durch die Untersuchungen von Heymans bestätigt wird. Bezüglich der qualitativen Unterschiede scheint nach Stern die alte Auffassung recht zu haben, daß den Mädchen die größere Rezeptivität und eine damit zusammenhängende stärkere Fähigkeit zum Nachahmen eigen ist. In voluntativer Hinsicht, wobei allerdings die Suggestionsfrage noch ungeklärt bleibe, zeige sich der größere Fleiß und die bessere Lenksamkeit bei den Mädchen, bei den Knaben aber die stärker entwickelte Selbständigkeit; vor allem aber glaubt Stern bei den Knaben eine größere Originalität und eine erhöhte Begabung für das Konstruktiv- Technische und sür die straffe logische Synthese feststellen zu können. In der gesamten Stellungnahme zeigen die Mädchen wohl einen mehr persönlich-subjektiven, die Knaben einen mehr sachlich-objektiven Charakter, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/378>, abgerufen am 24.08.2024.