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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Tozialismns

iisdem willkommen. Er befürwortet die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
nicht nur um des erhöhten Schutzes seines Vaterlandes willen, sondern weil
sie die moralischen und physischen Eigenschaften und die Erziehung seines
Volkes hebt. Ebenso begrüßt er alle Maßnahmen auf dem Gebiete der ge¬
werblichen Gesetzgebung, die die Herbeiführung gesunderer Arbeitsbedingungen
zur Folge haben, und die innere Kolonisation, die eine Entfremdung zu weiter
Beoölkerungskreise von Grund und Boden und landwirtschaftlicher Arbeit ver¬
hindern will. Kein Mittel ist ihm zu gering, wenn es zur Erreichung seines
Zieles beiträgt, und man wird Milner, auch vom imperialistischen Standpunkt,
nur beistimmen können, wenn er sogar auf die Schaffung von Gartenstädten,
die Förderung der Jugendpflege und der Kindergärten nachdrücklich hinweist.

Einem so umfassenden, wohlbegründeten, soziälreformatorischen Programm
gegenüber nimmt sich der ganze Sozialismus flach und dürftig aus. Stecken
geblieben in einer überwundenen Zeit geistiger Entwicklung, weiß er noch immer
kein höheres Ziel zu predigen, als die Erstrebung einer größeren Summe
materiellen Wohlseins für das Individuum; und auch das soll erst erreichbar
sein, nachdem die Grundlagen der bestehenden Ordnung niedergerissen sein
werden. So karge Verheißungen spendend, ist es nicht ausschließlich intellektuelle
Unmöglichkeit vom zurückgebliebenen individualistischen Standpunkt aus, wenn
der Sozialismus den Imperialismus zurückführen will auf lediglich kapitalistische
Beweggründe. Es ist auch die wohlverstandene Verfolgung eigenster Lebens-
interessen, daß der Sozialismus seine Anhänger verhindern will, einen Vergleich
zwischen seiner Lehre und dem Imperialismus zu ziehen.




In noch anderer Beleuchtung zeigen sich diese geistigen Zusammenhänge
Zwischen Imperialismus und Sozialismus, wenn man sie nicht nur, wie es
vorstehend versucht worden ist, betrachtet von dem allgemeinen Standpunkt der
geistigen Entwicklungsgeschichte aus, sondern wenn man sie lediglich von dem
Standpunkte der sozialistischen Gedankenentwicklung ans -- gewissermaßen von
unten, wie ich vorher sagte -- untersucht.

Von dem Standpunkt der Masse aus betrachtet, war der Sozialismus die
wirtschaftliche Reaktion, die der Individualismus auflöste. Der Individualismus
hatte die breiten Massen auf einer Entwicklungsstufe getroffen, die es ihnen
unmöglich machte, sich gegen die nachteiligen Folgen individualistischer Ent¬
wicklung zu schützen. Zwar hatte die Aufklärung sie von einer Fülle hemmender
Vorschriften befreit, mit denen der absolute merkantilistische Staat die Befolgung
seiner Absichten erzwang; zwar war die Möglichkeit zur Erreichung höchster Ziele
vorhanden. Aber es fehlte jetzt der, wenn auch bevormundende, so doch durch¬
greifende Schutz, den die vergangene Zeit gewährt hatte; es fehlte vor allem
die geistige Ausbildung, die den einzelnen befähigt hatte, in dem jetzt ein-


Imperialismus und Tozialismns

iisdem willkommen. Er befürwortet die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
nicht nur um des erhöhten Schutzes seines Vaterlandes willen, sondern weil
sie die moralischen und physischen Eigenschaften und die Erziehung seines
Volkes hebt. Ebenso begrüßt er alle Maßnahmen auf dem Gebiete der ge¬
werblichen Gesetzgebung, die die Herbeiführung gesunderer Arbeitsbedingungen
zur Folge haben, und die innere Kolonisation, die eine Entfremdung zu weiter
Beoölkerungskreise von Grund und Boden und landwirtschaftlicher Arbeit ver¬
hindern will. Kein Mittel ist ihm zu gering, wenn es zur Erreichung seines
Zieles beiträgt, und man wird Milner, auch vom imperialistischen Standpunkt,
nur beistimmen können, wenn er sogar auf die Schaffung von Gartenstädten,
die Förderung der Jugendpflege und der Kindergärten nachdrücklich hinweist.

Einem so umfassenden, wohlbegründeten, soziälreformatorischen Programm
gegenüber nimmt sich der ganze Sozialismus flach und dürftig aus. Stecken
geblieben in einer überwundenen Zeit geistiger Entwicklung, weiß er noch immer
kein höheres Ziel zu predigen, als die Erstrebung einer größeren Summe
materiellen Wohlseins für das Individuum; und auch das soll erst erreichbar
sein, nachdem die Grundlagen der bestehenden Ordnung niedergerissen sein
werden. So karge Verheißungen spendend, ist es nicht ausschließlich intellektuelle
Unmöglichkeit vom zurückgebliebenen individualistischen Standpunkt aus, wenn
der Sozialismus den Imperialismus zurückführen will auf lediglich kapitalistische
Beweggründe. Es ist auch die wohlverstandene Verfolgung eigenster Lebens-
interessen, daß der Sozialismus seine Anhänger verhindern will, einen Vergleich
zwischen seiner Lehre und dem Imperialismus zu ziehen.




In noch anderer Beleuchtung zeigen sich diese geistigen Zusammenhänge
Zwischen Imperialismus und Sozialismus, wenn man sie nicht nur, wie es
vorstehend versucht worden ist, betrachtet von dem allgemeinen Standpunkt der
geistigen Entwicklungsgeschichte aus, sondern wenn man sie lediglich von dem
Standpunkte der sozialistischen Gedankenentwicklung ans — gewissermaßen von
unten, wie ich vorher sagte — untersucht.

Von dem Standpunkt der Masse aus betrachtet, war der Sozialismus die
wirtschaftliche Reaktion, die der Individualismus auflöste. Der Individualismus
hatte die breiten Massen auf einer Entwicklungsstufe getroffen, die es ihnen
unmöglich machte, sich gegen die nachteiligen Folgen individualistischer Ent¬
wicklung zu schützen. Zwar hatte die Aufklärung sie von einer Fülle hemmender
Vorschriften befreit, mit denen der absolute merkantilistische Staat die Befolgung
seiner Absichten erzwang; zwar war die Möglichkeit zur Erreichung höchster Ziele
vorhanden. Aber es fehlte jetzt der, wenn auch bevormundende, so doch durch¬
greifende Schutz, den die vergangene Zeit gewährt hatte; es fehlte vor allem
die geistige Ausbildung, die den einzelnen befähigt hatte, in dem jetzt ein-


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[0359] Imperialismus und Tozialismns iisdem willkommen. Er befürwortet die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur um des erhöhten Schutzes seines Vaterlandes willen, sondern weil sie die moralischen und physischen Eigenschaften und die Erziehung seines Volkes hebt. Ebenso begrüßt er alle Maßnahmen auf dem Gebiete der ge¬ werblichen Gesetzgebung, die die Herbeiführung gesunderer Arbeitsbedingungen zur Folge haben, und die innere Kolonisation, die eine Entfremdung zu weiter Beoölkerungskreise von Grund und Boden und landwirtschaftlicher Arbeit ver¬ hindern will. Kein Mittel ist ihm zu gering, wenn es zur Erreichung seines Zieles beiträgt, und man wird Milner, auch vom imperialistischen Standpunkt, nur beistimmen können, wenn er sogar auf die Schaffung von Gartenstädten, die Förderung der Jugendpflege und der Kindergärten nachdrücklich hinweist. Einem so umfassenden, wohlbegründeten, soziälreformatorischen Programm gegenüber nimmt sich der ganze Sozialismus flach und dürftig aus. Stecken geblieben in einer überwundenen Zeit geistiger Entwicklung, weiß er noch immer kein höheres Ziel zu predigen, als die Erstrebung einer größeren Summe materiellen Wohlseins für das Individuum; und auch das soll erst erreichbar sein, nachdem die Grundlagen der bestehenden Ordnung niedergerissen sein werden. So karge Verheißungen spendend, ist es nicht ausschließlich intellektuelle Unmöglichkeit vom zurückgebliebenen individualistischen Standpunkt aus, wenn der Sozialismus den Imperialismus zurückführen will auf lediglich kapitalistische Beweggründe. Es ist auch die wohlverstandene Verfolgung eigenster Lebens- interessen, daß der Sozialismus seine Anhänger verhindern will, einen Vergleich zwischen seiner Lehre und dem Imperialismus zu ziehen. In noch anderer Beleuchtung zeigen sich diese geistigen Zusammenhänge Zwischen Imperialismus und Sozialismus, wenn man sie nicht nur, wie es vorstehend versucht worden ist, betrachtet von dem allgemeinen Standpunkt der geistigen Entwicklungsgeschichte aus, sondern wenn man sie lediglich von dem Standpunkte der sozialistischen Gedankenentwicklung ans — gewissermaßen von unten, wie ich vorher sagte — untersucht. Von dem Standpunkt der Masse aus betrachtet, war der Sozialismus die wirtschaftliche Reaktion, die der Individualismus auflöste. Der Individualismus hatte die breiten Massen auf einer Entwicklungsstufe getroffen, die es ihnen unmöglich machte, sich gegen die nachteiligen Folgen individualistischer Ent¬ wicklung zu schützen. Zwar hatte die Aufklärung sie von einer Fülle hemmender Vorschriften befreit, mit denen der absolute merkantilistische Staat die Befolgung seiner Absichten erzwang; zwar war die Möglichkeit zur Erreichung höchster Ziele vorhanden. Aber es fehlte jetzt der, wenn auch bevormundende, so doch durch¬ greifende Schutz, den die vergangene Zeit gewährt hatte; es fehlte vor allem die geistige Ausbildung, die den einzelnen befähigt hatte, in dem jetzt ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/359>, abgerufen am 24.08.2024.