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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Socialismus

Denn die Überzeugung hatte sich Bahn gebrochen, daß nicht immer das wohl¬
feilste Erzeugnis das volkswirtschaftlich wünschenswerteste, nicht immer die billigst-
Arbeit vom Standpunkt des Allgemeinwohls aus die vorteilhafteste sei. Man
begriff, daß man durch die Verleihung der vollen Selbständigkeit an einen jeden
Zwar starken Persönlichkeiten einen außerordentlichen Ansporn gegeben, aber
schwache entwurzelt und noch schwächer gemacht hatte. So gelangte man all¬
mählich zu der Überzeugung, daß die höchste Zusammenfassung und Leistungs¬
fähigkeit der Kräfte eines Staates in der höchstmöglichen Leistungsfähigkeit und
dem Wohlergehen aller seiner Mitglieder beruhe. Man griff zurück auf den
genossenschaftlichen Schutz, den das Mittelalter seinen Zeitgenossen gewährt
hatte, ohne dessen Rückständigkeiten sich wieder anzueignen. So wurden --
wirtschaftspolitisch -- Landwirtschaft. Gewerbe und Handel im eigenen Lande
geschützt, soweit der ausländische Wettbewerb ihren Bestand bedrohte, und ein
möglichst billiger Nohstoffbezug angestrebt. sozialpolitisch aber äußerten sich
diese neuen Anschauungen in der Sozialreform. Eine Fülle von gesetzgeberischen
Maßnahmen suchte, direkt und indirekt, das Wohl der wirtschaftlich Schwachen
zu heben.

So wurde also die Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Staat und
Individuum, wie Witting in dem oben erwähnten Artikel ausführt, von dieser
Generation dadurch beantwortet, daß die Rechtsgebiete zwischen Individualismus
und Nationalismus abgegrenzt wurden. Nicht mehr das Wohl des einzelnen
sollte das Entscheidende sein, sondern das Wohl des Volksganzen. "Während
dem Anhänger des Jndividualprinzips der Einzelmensch Selbstzweck ist, wird
vom Nationalisten dem Volksganzen, der organisierten Nation, dem Staat als
dem sichtbaren Vertreter der unübersehbaren Reihe künftiger Generationen ein
eigener selbständiger Zweck zuerkannt." Oder wie Lord Milner") es ausgedrückt
hat, -- dieses neue Verhältnis von Nation zu Individuum von der sozialistischen
Seite her betrachtend: "Dieser edlere Sozialismus erkennt die Tatsache, daß
wir nicht nur so viele Millionen von Einzelwesen sind, die jeder für sich
kämpfen, wobei der Staat die Rolle des Schutzmanns versieht, sondern ein
staatlicher Körper; daß die verschiedenen Klassen und Teile der Gemeinschaft
Glieder dieses Körpers sind, und daß alle Glieder leiden, wenn ein Glied
leidet."

So hatte sich also aus dem Individualismus, der sein staatliches Ideal
in der Betonung der Eigenpersönlichkeit seiner Rasse, im Nationalstaat, ver-
wirklicht gesehen hatte, der Nationalismus entwickelt. Dieser erblickt sein Ideal
zunächst in der möglichst hohen Entwicklung aller Kräfte -- der politischen,
kulturellen, wirtschaftlichen -- seiner staatlich geeinten Nation. Aber er
bleibt nicht bei dem Ideal eines möglichst gut ausgebildeten TerritorialstaateZ



*) Lord Milner, l'tie Nstion -ma elle IZmpii-s, London 191ö. ^-eiw
Imperialismus und Socialismus

Denn die Überzeugung hatte sich Bahn gebrochen, daß nicht immer das wohl¬
feilste Erzeugnis das volkswirtschaftlich wünschenswerteste, nicht immer die billigst-
Arbeit vom Standpunkt des Allgemeinwohls aus die vorteilhafteste sei. Man
begriff, daß man durch die Verleihung der vollen Selbständigkeit an einen jeden
Zwar starken Persönlichkeiten einen außerordentlichen Ansporn gegeben, aber
schwache entwurzelt und noch schwächer gemacht hatte. So gelangte man all¬
mählich zu der Überzeugung, daß die höchste Zusammenfassung und Leistungs¬
fähigkeit der Kräfte eines Staates in der höchstmöglichen Leistungsfähigkeit und
dem Wohlergehen aller seiner Mitglieder beruhe. Man griff zurück auf den
genossenschaftlichen Schutz, den das Mittelalter seinen Zeitgenossen gewährt
hatte, ohne dessen Rückständigkeiten sich wieder anzueignen. So wurden —
wirtschaftspolitisch — Landwirtschaft. Gewerbe und Handel im eigenen Lande
geschützt, soweit der ausländische Wettbewerb ihren Bestand bedrohte, und ein
möglichst billiger Nohstoffbezug angestrebt. sozialpolitisch aber äußerten sich
diese neuen Anschauungen in der Sozialreform. Eine Fülle von gesetzgeberischen
Maßnahmen suchte, direkt und indirekt, das Wohl der wirtschaftlich Schwachen
zu heben.

So wurde also die Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Staat und
Individuum, wie Witting in dem oben erwähnten Artikel ausführt, von dieser
Generation dadurch beantwortet, daß die Rechtsgebiete zwischen Individualismus
und Nationalismus abgegrenzt wurden. Nicht mehr das Wohl des einzelnen
sollte das Entscheidende sein, sondern das Wohl des Volksganzen. „Während
dem Anhänger des Jndividualprinzips der Einzelmensch Selbstzweck ist, wird
vom Nationalisten dem Volksganzen, der organisierten Nation, dem Staat als
dem sichtbaren Vertreter der unübersehbaren Reihe künftiger Generationen ein
eigener selbständiger Zweck zuerkannt." Oder wie Lord Milner") es ausgedrückt
hat, — dieses neue Verhältnis von Nation zu Individuum von der sozialistischen
Seite her betrachtend: „Dieser edlere Sozialismus erkennt die Tatsache, daß
wir nicht nur so viele Millionen von Einzelwesen sind, die jeder für sich
kämpfen, wobei der Staat die Rolle des Schutzmanns versieht, sondern ein
staatlicher Körper; daß die verschiedenen Klassen und Teile der Gemeinschaft
Glieder dieses Körpers sind, und daß alle Glieder leiden, wenn ein Glied
leidet."

So hatte sich also aus dem Individualismus, der sein staatliches Ideal
in der Betonung der Eigenpersönlichkeit seiner Rasse, im Nationalstaat, ver-
wirklicht gesehen hatte, der Nationalismus entwickelt. Dieser erblickt sein Ideal
zunächst in der möglichst hohen Entwicklung aller Kräfte — der politischen,
kulturellen, wirtschaftlichen — seiner staatlich geeinten Nation. Aber er
bleibt nicht bei dem Ideal eines möglichst gut ausgebildeten TerritorialstaateZ



*) Lord Milner, l'tie Nstion -ma elle IZmpii-s, London 191ö. ^-eiw
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[0357] Imperialismus und Socialismus Denn die Überzeugung hatte sich Bahn gebrochen, daß nicht immer das wohl¬ feilste Erzeugnis das volkswirtschaftlich wünschenswerteste, nicht immer die billigst- Arbeit vom Standpunkt des Allgemeinwohls aus die vorteilhafteste sei. Man begriff, daß man durch die Verleihung der vollen Selbständigkeit an einen jeden Zwar starken Persönlichkeiten einen außerordentlichen Ansporn gegeben, aber schwache entwurzelt und noch schwächer gemacht hatte. So gelangte man all¬ mählich zu der Überzeugung, daß die höchste Zusammenfassung und Leistungs¬ fähigkeit der Kräfte eines Staates in der höchstmöglichen Leistungsfähigkeit und dem Wohlergehen aller seiner Mitglieder beruhe. Man griff zurück auf den genossenschaftlichen Schutz, den das Mittelalter seinen Zeitgenossen gewährt hatte, ohne dessen Rückständigkeiten sich wieder anzueignen. So wurden — wirtschaftspolitisch — Landwirtschaft. Gewerbe und Handel im eigenen Lande geschützt, soweit der ausländische Wettbewerb ihren Bestand bedrohte, und ein möglichst billiger Nohstoffbezug angestrebt. sozialpolitisch aber äußerten sich diese neuen Anschauungen in der Sozialreform. Eine Fülle von gesetzgeberischen Maßnahmen suchte, direkt und indirekt, das Wohl der wirtschaftlich Schwachen zu heben. So wurde also die Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum, wie Witting in dem oben erwähnten Artikel ausführt, von dieser Generation dadurch beantwortet, daß die Rechtsgebiete zwischen Individualismus und Nationalismus abgegrenzt wurden. Nicht mehr das Wohl des einzelnen sollte das Entscheidende sein, sondern das Wohl des Volksganzen. „Während dem Anhänger des Jndividualprinzips der Einzelmensch Selbstzweck ist, wird vom Nationalisten dem Volksganzen, der organisierten Nation, dem Staat als dem sichtbaren Vertreter der unübersehbaren Reihe künftiger Generationen ein eigener selbständiger Zweck zuerkannt." Oder wie Lord Milner") es ausgedrückt hat, — dieses neue Verhältnis von Nation zu Individuum von der sozialistischen Seite her betrachtend: „Dieser edlere Sozialismus erkennt die Tatsache, daß wir nicht nur so viele Millionen von Einzelwesen sind, die jeder für sich kämpfen, wobei der Staat die Rolle des Schutzmanns versieht, sondern ein staatlicher Körper; daß die verschiedenen Klassen und Teile der Gemeinschaft Glieder dieses Körpers sind, und daß alle Glieder leiden, wenn ein Glied leidet." So hatte sich also aus dem Individualismus, der sein staatliches Ideal in der Betonung der Eigenpersönlichkeit seiner Rasse, im Nationalstaat, ver- wirklicht gesehen hatte, der Nationalismus entwickelt. Dieser erblickt sein Ideal zunächst in der möglichst hohen Entwicklung aller Kräfte — der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen — seiner staatlich geeinten Nation. Aber er bleibt nicht bei dem Ideal eines möglichst gut ausgebildeten TerritorialstaateZ *) Lord Milner, l'tie Nstion -ma elle IZmpii-s, London 191ö. ^-eiw

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/357>, abgerufen am 24.08.2024.