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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Socialismus

nan "den italienischen Imperialismus den Imperialismus der armen Leute
habe nennen wollen". Er weist darauf hin, daß schon im Jahre 1902 der
italienische Sozialistenführer Labriola mit großem Nachdruck für Siedlungs¬
kolonien eingetreten sei und zitiert die charakteristische Äußerung eines italienischen
Sozialisten: "Ebenso wie der Sozialismus das Mittel war, durch das sich das
Proletariat von der Bourgeoisie befreite, so wird der Nationalismus für uns
Italiener das Mittel fein, durch das wir uns von den Franzosen, Deutschen,
Engländern, Nord- und Südamerikanern befreien, die unsere Bourgeoisie sind."
Und Michels saßt dies alles in die Bemerkung zusammen: "Der italienische
Imperialismus trägt eine ganz überwiegend proletarische Note."

An dein italienischen Beispiel läßt sich verfolgen, wie weit sich der Sozialis-
iMls in imperialistische Gedankengänge einleben kann. Nur ist diese Gewöhnung
schon so weit gediehen, daß sie wesentliche Charakterzüge der strengen sozialistischen
^ehre abgelegt hat und nicht mehr Sozialismus genannt werden kann. Und
darum hütet sich auch der deutsche Sozialismus davor, so weitgehende Zuge¬
ständnisse zu machen, zumal er -- mangels des Vorhandenseins einer impera-
Wischen Bewegung in Deutschland -- von der Masse seiner Anhänger nicht
^am gezwungen wird.-!




Aber der Imperialismus und der Sozialismus zeigen noch andere Zu¬
sammenhänge, die weit über diese wirtschaftlichen Berührungspunkte hinausgehen.
Und so weit der Imperialismus hinausgeht über eine reine kapitalistische Wirt¬
schaftspolitik, so weit überragt er auch den Sozialismus und erdrückt ihn.

Um diese geistigen Zusammenhänge zu erfassen, ist es erforderlich, den
Imperialismus in den Zusammenhang zu bringen, den er -- als geistige,
uicht materielle Erscheinung -- in der geistigen Entwicklungsgeschichte der Mensch¬
heit einnimmt*). Wenn man ihn dann von entgegengesetzten Seiten betrachtet,
nnmal von dem Standpunkt des objektiven Forschers aus -- gewissermaßen
Von oben -- und dann in bezug auf sein Verhältnis zur Masse, vom
sozialistischen Standpunkt -- gewissermaßen von unten --, so wird sich Klarheit
ergeben müssen über das geistige Verhältnis von Imperialismus zu Sozialismus.

Wenn man vom Mittelalter ausgeht, das die Gedankenwelt des einzelnen
gefesselt und gebannt hielt, das nur das Mui>8, die Art kannte, und nicht die



") Sehr klare Einblicke in einzelne Teile dieses geistigen Entwicklungsganges gewähren: Dix, Imperialismus und Individualismus im Tag vom 9. Oktober 1913, Gold stein, Die Juden und Europa, Grenzboten Heft 38, Jahrgang 1913, Michels. Zur historischen Analyse des Patriotismus, Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik, Band 36, Heft 1 und 2. Ripke, Der imperialistische Gedanke in Deutsche Industrie vom 6, Mai 1913. Witting, Staat und Individuum, Tag vom 27. September 1913. Die Grundlage für alle solche Untersuchungen ist natürlich Lamprecht, Deutsche Ge¬
schichte.
Imperialismus und Socialismus

nan „den italienischen Imperialismus den Imperialismus der armen Leute
habe nennen wollen". Er weist darauf hin, daß schon im Jahre 1902 der
italienische Sozialistenführer Labriola mit großem Nachdruck für Siedlungs¬
kolonien eingetreten sei und zitiert die charakteristische Äußerung eines italienischen
Sozialisten: „Ebenso wie der Sozialismus das Mittel war, durch das sich das
Proletariat von der Bourgeoisie befreite, so wird der Nationalismus für uns
Italiener das Mittel fein, durch das wir uns von den Franzosen, Deutschen,
Engländern, Nord- und Südamerikanern befreien, die unsere Bourgeoisie sind."
Und Michels saßt dies alles in die Bemerkung zusammen: „Der italienische
Imperialismus trägt eine ganz überwiegend proletarische Note."

An dein italienischen Beispiel läßt sich verfolgen, wie weit sich der Sozialis-
iMls in imperialistische Gedankengänge einleben kann. Nur ist diese Gewöhnung
schon so weit gediehen, daß sie wesentliche Charakterzüge der strengen sozialistischen
^ehre abgelegt hat und nicht mehr Sozialismus genannt werden kann. Und
darum hütet sich auch der deutsche Sozialismus davor, so weitgehende Zuge¬
ständnisse zu machen, zumal er — mangels des Vorhandenseins einer impera-
Wischen Bewegung in Deutschland — von der Masse seiner Anhänger nicht
^am gezwungen wird.-!




Aber der Imperialismus und der Sozialismus zeigen noch andere Zu¬
sammenhänge, die weit über diese wirtschaftlichen Berührungspunkte hinausgehen.
Und so weit der Imperialismus hinausgeht über eine reine kapitalistische Wirt¬
schaftspolitik, so weit überragt er auch den Sozialismus und erdrückt ihn.

Um diese geistigen Zusammenhänge zu erfassen, ist es erforderlich, den
Imperialismus in den Zusammenhang zu bringen, den er — als geistige,
uicht materielle Erscheinung — in der geistigen Entwicklungsgeschichte der Mensch¬
heit einnimmt*). Wenn man ihn dann von entgegengesetzten Seiten betrachtet,
nnmal von dem Standpunkt des objektiven Forschers aus — gewissermaßen
Von oben — und dann in bezug auf sein Verhältnis zur Masse, vom
sozialistischen Standpunkt — gewissermaßen von unten —, so wird sich Klarheit
ergeben müssen über das geistige Verhältnis von Imperialismus zu Sozialismus.

Wenn man vom Mittelalter ausgeht, das die Gedankenwelt des einzelnen
gefesselt und gebannt hielt, das nur das Mui>8, die Art kannte, und nicht die



") Sehr klare Einblicke in einzelne Teile dieses geistigen Entwicklungsganges gewähren: Dix, Imperialismus und Individualismus im Tag vom 9. Oktober 1913, Gold stein, Die Juden und Europa, Grenzboten Heft 38, Jahrgang 1913, Michels. Zur historischen Analyse des Patriotismus, Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik, Band 36, Heft 1 und 2. Ripke, Der imperialistische Gedanke in Deutsche Industrie vom 6, Mai 1913. Witting, Staat und Individuum, Tag vom 27. September 1913. Die Grundlage für alle solche Untersuchungen ist natürlich Lamprecht, Deutsche Ge¬
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[0355] Imperialismus und Socialismus nan „den italienischen Imperialismus den Imperialismus der armen Leute habe nennen wollen". Er weist darauf hin, daß schon im Jahre 1902 der italienische Sozialistenführer Labriola mit großem Nachdruck für Siedlungs¬ kolonien eingetreten sei und zitiert die charakteristische Äußerung eines italienischen Sozialisten: „Ebenso wie der Sozialismus das Mittel war, durch das sich das Proletariat von der Bourgeoisie befreite, so wird der Nationalismus für uns Italiener das Mittel fein, durch das wir uns von den Franzosen, Deutschen, Engländern, Nord- und Südamerikanern befreien, die unsere Bourgeoisie sind." Und Michels saßt dies alles in die Bemerkung zusammen: „Der italienische Imperialismus trägt eine ganz überwiegend proletarische Note." An dein italienischen Beispiel läßt sich verfolgen, wie weit sich der Sozialis- iMls in imperialistische Gedankengänge einleben kann. Nur ist diese Gewöhnung schon so weit gediehen, daß sie wesentliche Charakterzüge der strengen sozialistischen ^ehre abgelegt hat und nicht mehr Sozialismus genannt werden kann. Und darum hütet sich auch der deutsche Sozialismus davor, so weitgehende Zuge¬ ständnisse zu machen, zumal er — mangels des Vorhandenseins einer impera- Wischen Bewegung in Deutschland — von der Masse seiner Anhänger nicht ^am gezwungen wird.-! Aber der Imperialismus und der Sozialismus zeigen noch andere Zu¬ sammenhänge, die weit über diese wirtschaftlichen Berührungspunkte hinausgehen. Und so weit der Imperialismus hinausgeht über eine reine kapitalistische Wirt¬ schaftspolitik, so weit überragt er auch den Sozialismus und erdrückt ihn. Um diese geistigen Zusammenhänge zu erfassen, ist es erforderlich, den Imperialismus in den Zusammenhang zu bringen, den er — als geistige, uicht materielle Erscheinung — in der geistigen Entwicklungsgeschichte der Mensch¬ heit einnimmt*). Wenn man ihn dann von entgegengesetzten Seiten betrachtet, nnmal von dem Standpunkt des objektiven Forschers aus — gewissermaßen Von oben — und dann in bezug auf sein Verhältnis zur Masse, vom sozialistischen Standpunkt — gewissermaßen von unten —, so wird sich Klarheit ergeben müssen über das geistige Verhältnis von Imperialismus zu Sozialismus. Wenn man vom Mittelalter ausgeht, das die Gedankenwelt des einzelnen gefesselt und gebannt hielt, das nur das Mui>8, die Art kannte, und nicht die ") Sehr klare Einblicke in einzelne Teile dieses geistigen Entwicklungsganges gewähren: Dix, Imperialismus und Individualismus im Tag vom 9. Oktober 1913, Gold stein, Die Juden und Europa, Grenzboten Heft 38, Jahrgang 1913, Michels. Zur historischen Analyse des Patriotismus, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 36, Heft 1 und 2. Ripke, Der imperialistische Gedanke in Deutsche Industrie vom 6, Mai 1913. Witting, Staat und Individuum, Tag vom 27. September 1913. Die Grundlage für alle solche Untersuchungen ist natürlich Lamprecht, Deutsche Ge¬ schichte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/355>, abgerufen am 24.08.2024.