Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Imperialismus und Zozialismus

summten wurden -- in Deutschland wenigstens -- keine erheblichen Mißstände
sichtbar; statt der Ohnmacht des Staates setzte eine außerordentlich wirksame
und umfangreiche soziale Gesetzgebung ein. All das ließ sich jedoch noch ver¬
heimlichen, hinwegdisputieren, ins alte System pressen. Aber jetzt sieht sich der
Sozialismus vor die Tatsache gestellt, daß der von ihr zum Untergang bestimmte
Kapitalismus nicht nur weiterlebt, sondern im Begriff ist, sich -- entsprechend
der Weiterbildung der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft -- zu entwickeln
ZU einem System, das in wirtschaftlicher Beziehung Schritt halten soll mit der
politischen Entwicklung der Nationalstaaten zu Weltstaaten. Das ist der wirt¬
schaftliche Zusammenhang zwischen Sozialismus und Imperialismus und die
sehr unmittelbare Gefahr, die jenem von diesem droht.

Die Größe dieser Gefahr wird erst von einem geringeren Teile der Sozial¬
demokratie -- von der revisionistischen Richtung -- erkannt. Zwar weist Schippe!
darauf hin, daß es bei der Beurteilung des Imperialismus kein Schlagwort
Mle radikal und reformistisch gäbe, und daß unter den jüngeren Marxisten, wie
Renner und Hilferding, eine ziemlich eindringende Kenntnis der imperialistischen
Zusammenhänge vorhanden sei. Aber er selbst gibt zu, daß auch sie den Ge¬
danken nicht folgerichtig zu Ende denken könnten und auf halbem Wege stecken
blieben, indem sie -- sich an die Marxsche Lehre klammernd -- auch im
Imperialismus nichts weiter sähen, als das Anlagebedürfnis des Kapitals.
Alir sie sei der ganze Imperialismus gewissermaßen nichts weiter als ein neuer,
diabolischer Trick des Kapitals. Im allgemeinen wird man aber der marxistischen,
herrschenden Richtung in der Sozialdemokratie nicht einmal diese Einsicht in das,
Wesen des Imperialismus zutrauen dürfen. Man wird vielmehr als
charakteristischer die Tiraden des Genossen Nadel ansehen müssen, dem der
"Moderne Imperialismus" erscheint als eine "Politik des Kapitalismus, seiner
vifsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate
bedrohte Kapital" sucht. Er sieht künftige Kämpfe,. denen die Arbeiter aber,
"da sie doch nur ihre Ketten zu verlieren hätten", freudig entgegengingen.
>5hum winke "in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlacht¬
felder scheinen werde".

Dagegen sind sich revisionistische, sozialistische Schriftsteller, wie Schippe!
und Quessel, völlig klar über die bedrängte Lage, in welche die sozialistische
Theorie durch das Entstehen des wirtschaftlichen Imperialismus geraten ist.
Quessel tröstet sich allerdings noch mit der Feststellung, daß es sehr verschiedene
imperialistische Richtungen gebe, Rüstungsfanatiker und sozialreformatorisch
orientierte Imperialisten, Freihändler und Schutzzöllner; aber er sieht tief genug,
um zu wissen, daß diese Gegensätze nicht in dem Wesen des Imperialismus
selbst begründet liegen. Als so tiefgreifend könne man diese Gegensätze nur
dann ansehen, wenn man das Wesen des Imperialismus "verenge und die
Sache selbst mit ihrer momentanen Erscheinungsform identifiziere". "Die in ihm
legende Idee geht über diese Kontroverse hinaus."


Imperialismus und Zozialismus

summten wurden — in Deutschland wenigstens — keine erheblichen Mißstände
sichtbar; statt der Ohnmacht des Staates setzte eine außerordentlich wirksame
und umfangreiche soziale Gesetzgebung ein. All das ließ sich jedoch noch ver¬
heimlichen, hinwegdisputieren, ins alte System pressen. Aber jetzt sieht sich der
Sozialismus vor die Tatsache gestellt, daß der von ihr zum Untergang bestimmte
Kapitalismus nicht nur weiterlebt, sondern im Begriff ist, sich — entsprechend
der Weiterbildung der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft — zu entwickeln
ZU einem System, das in wirtschaftlicher Beziehung Schritt halten soll mit der
politischen Entwicklung der Nationalstaaten zu Weltstaaten. Das ist der wirt¬
schaftliche Zusammenhang zwischen Sozialismus und Imperialismus und die
sehr unmittelbare Gefahr, die jenem von diesem droht.

Die Größe dieser Gefahr wird erst von einem geringeren Teile der Sozial¬
demokratie — von der revisionistischen Richtung — erkannt. Zwar weist Schippe!
darauf hin, daß es bei der Beurteilung des Imperialismus kein Schlagwort
Mle radikal und reformistisch gäbe, und daß unter den jüngeren Marxisten, wie
Renner und Hilferding, eine ziemlich eindringende Kenntnis der imperialistischen
Zusammenhänge vorhanden sei. Aber er selbst gibt zu, daß auch sie den Ge¬
danken nicht folgerichtig zu Ende denken könnten und auf halbem Wege stecken
blieben, indem sie — sich an die Marxsche Lehre klammernd — auch im
Imperialismus nichts weiter sähen, als das Anlagebedürfnis des Kapitals.
Alir sie sei der ganze Imperialismus gewissermaßen nichts weiter als ein neuer,
diabolischer Trick des Kapitals. Im allgemeinen wird man aber der marxistischen,
herrschenden Richtung in der Sozialdemokratie nicht einmal diese Einsicht in das,
Wesen des Imperialismus zutrauen dürfen. Man wird vielmehr als
charakteristischer die Tiraden des Genossen Nadel ansehen müssen, dem der
„Moderne Imperialismus" erscheint als eine „Politik des Kapitalismus, seiner
vifsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate
bedrohte Kapital" sucht. Er sieht künftige Kämpfe,. denen die Arbeiter aber,
»da sie doch nur ihre Ketten zu verlieren hätten", freudig entgegengingen.
>5hum winke „in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlacht¬
felder scheinen werde".

Dagegen sind sich revisionistische, sozialistische Schriftsteller, wie Schippe!
und Quessel, völlig klar über die bedrängte Lage, in welche die sozialistische
Theorie durch das Entstehen des wirtschaftlichen Imperialismus geraten ist.
Quessel tröstet sich allerdings noch mit der Feststellung, daß es sehr verschiedene
imperialistische Richtungen gebe, Rüstungsfanatiker und sozialreformatorisch
orientierte Imperialisten, Freihändler und Schutzzöllner; aber er sieht tief genug,
um zu wissen, daß diese Gegensätze nicht in dem Wesen des Imperialismus
selbst begründet liegen. Als so tiefgreifend könne man diese Gegensätze nur
dann ansehen, wenn man das Wesen des Imperialismus „verenge und die
Sache selbst mit ihrer momentanen Erscheinungsform identifiziere". „Die in ihm
legende Idee geht über diese Kontroverse hinaus."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327165"/>
          <fw type="header" place="top"> Imperialismus und Zozialismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1401" prev="#ID_1400"> summten wurden &#x2014; in Deutschland wenigstens &#x2014; keine erheblichen Mißstände<lb/>
sichtbar; statt der Ohnmacht des Staates setzte eine außerordentlich wirksame<lb/>
und umfangreiche soziale Gesetzgebung ein. All das ließ sich jedoch noch ver¬<lb/>
heimlichen, hinwegdisputieren, ins alte System pressen. Aber jetzt sieht sich der<lb/>
Sozialismus vor die Tatsache gestellt, daß der von ihr zum Untergang bestimmte<lb/>
Kapitalismus nicht nur weiterlebt, sondern im Begriff ist, sich &#x2014; entsprechend<lb/>
der Weiterbildung der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft &#x2014; zu entwickeln<lb/>
ZU einem System, das in wirtschaftlicher Beziehung Schritt halten soll mit der<lb/>
politischen Entwicklung der Nationalstaaten zu Weltstaaten. Das ist der wirt¬<lb/>
schaftliche Zusammenhang zwischen Sozialismus und Imperialismus und die<lb/>
sehr unmittelbare Gefahr, die jenem von diesem droht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1402"> Die Größe dieser Gefahr wird erst von einem geringeren Teile der Sozial¬<lb/>
demokratie &#x2014; von der revisionistischen Richtung &#x2014; erkannt.  Zwar weist Schippe!<lb/>
darauf hin, daß es bei der Beurteilung des Imperialismus kein Schlagwort<lb/>
Mle radikal und reformistisch gäbe, und daß unter den jüngeren Marxisten, wie<lb/>
Renner und Hilferding, eine ziemlich eindringende Kenntnis der imperialistischen<lb/>
Zusammenhänge vorhanden sei.  Aber er selbst gibt zu, daß auch sie den Ge¬<lb/>
danken nicht folgerichtig zu Ende denken könnten und auf halbem Wege stecken<lb/>
blieben, indem sie &#x2014; sich an die Marxsche Lehre klammernd &#x2014; auch im<lb/>
Imperialismus nichts weiter sähen, als das Anlagebedürfnis des Kapitals.<lb/>
Alir sie sei der ganze Imperialismus gewissermaßen nichts weiter als ein neuer,<lb/>
diabolischer Trick des Kapitals. Im allgemeinen wird man aber der marxistischen,<lb/>
herrschenden Richtung in der Sozialdemokratie nicht einmal diese Einsicht in das,<lb/>
Wesen  des Imperialismus zutrauen dürfen.  Man wird vielmehr als<lb/>
charakteristischer die Tiraden des Genossen Nadel ansehen müssen, dem der<lb/>
&#x201E;Moderne Imperialismus" erscheint als eine &#x201E;Politik des Kapitalismus, seiner<lb/>
vifsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate<lb/>
bedrohte Kapital" sucht.  Er sieht künftige Kämpfe,. denen die Arbeiter aber,<lb/>
»da sie doch nur ihre Ketten zu verlieren hätten", freudig entgegengingen.<lb/>
&gt;5hum winke &#x201E;in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlacht¬<lb/>
felder scheinen werde".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1403"> Dagegen sind sich revisionistische, sozialistische Schriftsteller, wie Schippe!<lb/>
und Quessel, völlig klar über die bedrängte Lage, in welche die sozialistische<lb/>
Theorie durch das Entstehen des wirtschaftlichen Imperialismus geraten ist.<lb/>
Quessel tröstet sich allerdings noch mit der Feststellung, daß es sehr verschiedene<lb/>
imperialistische Richtungen gebe, Rüstungsfanatiker und sozialreformatorisch<lb/>
orientierte Imperialisten, Freihändler und Schutzzöllner; aber er sieht tief genug,<lb/>
um zu wissen, daß diese Gegensätze nicht in dem Wesen des Imperialismus<lb/>
selbst begründet liegen. Als so tiefgreifend könne man diese Gegensätze nur<lb/>
dann ansehen, wenn man das Wesen des Imperialismus &#x201E;verenge und die<lb/>
Sache selbst mit ihrer momentanen Erscheinungsform identifiziere". &#x201E;Die in ihm<lb/>
legende Idee geht über diese Kontroverse hinaus."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0353] Imperialismus und Zozialismus summten wurden — in Deutschland wenigstens — keine erheblichen Mißstände sichtbar; statt der Ohnmacht des Staates setzte eine außerordentlich wirksame und umfangreiche soziale Gesetzgebung ein. All das ließ sich jedoch noch ver¬ heimlichen, hinwegdisputieren, ins alte System pressen. Aber jetzt sieht sich der Sozialismus vor die Tatsache gestellt, daß der von ihr zum Untergang bestimmte Kapitalismus nicht nur weiterlebt, sondern im Begriff ist, sich — entsprechend der Weiterbildung der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft — zu entwickeln ZU einem System, das in wirtschaftlicher Beziehung Schritt halten soll mit der politischen Entwicklung der Nationalstaaten zu Weltstaaten. Das ist der wirt¬ schaftliche Zusammenhang zwischen Sozialismus und Imperialismus und die sehr unmittelbare Gefahr, die jenem von diesem droht. Die Größe dieser Gefahr wird erst von einem geringeren Teile der Sozial¬ demokratie — von der revisionistischen Richtung — erkannt. Zwar weist Schippe! darauf hin, daß es bei der Beurteilung des Imperialismus kein Schlagwort Mle radikal und reformistisch gäbe, und daß unter den jüngeren Marxisten, wie Renner und Hilferding, eine ziemlich eindringende Kenntnis der imperialistischen Zusammenhänge vorhanden sei. Aber er selbst gibt zu, daß auch sie den Ge¬ danken nicht folgerichtig zu Ende denken könnten und auf halbem Wege stecken blieben, indem sie — sich an die Marxsche Lehre klammernd — auch im Imperialismus nichts weiter sähen, als das Anlagebedürfnis des Kapitals. Alir sie sei der ganze Imperialismus gewissermaßen nichts weiter als ein neuer, diabolischer Trick des Kapitals. Im allgemeinen wird man aber der marxistischen, herrschenden Richtung in der Sozialdemokratie nicht einmal diese Einsicht in das, Wesen des Imperialismus zutrauen dürfen. Man wird vielmehr als charakteristischer die Tiraden des Genossen Nadel ansehen müssen, dem der „Moderne Imperialismus" erscheint als eine „Politik des Kapitalismus, seiner vifsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate bedrohte Kapital" sucht. Er sieht künftige Kämpfe,. denen die Arbeiter aber, »da sie doch nur ihre Ketten zu verlieren hätten", freudig entgegengingen. >5hum winke „in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlacht¬ felder scheinen werde". Dagegen sind sich revisionistische, sozialistische Schriftsteller, wie Schippe! und Quessel, völlig klar über die bedrängte Lage, in welche die sozialistische Theorie durch das Entstehen des wirtschaftlichen Imperialismus geraten ist. Quessel tröstet sich allerdings noch mit der Feststellung, daß es sehr verschiedene imperialistische Richtungen gebe, Rüstungsfanatiker und sozialreformatorisch orientierte Imperialisten, Freihändler und Schutzzöllner; aber er sieht tief genug, um zu wissen, daß diese Gegensätze nicht in dem Wesen des Imperialismus selbst begründet liegen. Als so tiefgreifend könne man diese Gegensätze nur dann ansehen, wenn man das Wesen des Imperialismus „verenge und die Sache selbst mit ihrer momentanen Erscheinungsform identifiziere". „Die in ihm legende Idee geht über diese Kontroverse hinaus."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/353
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/353>, abgerufen am 24.08.2024.