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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Zozialismus

theoretischen Verzweigungen, die sich an ihn knüpfen, und die Zahl der Ab¬
handlungen schwillt von Monat zu Monat an*).

Diese außerordentlich rege Beteiligung der sozialdemokratischen Presse an
der Erörterung imperialistischer Fragen ist nicht nur im Hinblick auf die Ruhe
der bürgerlichen Parteien erstaunlich. Auch an sich würde man der Sozial¬
demokratie weniger Veranlassung zutrauen, sich mit dem Imperialismus ein¬
gehender zu beschäftigen, als die "Bourgeoisie". Denn man sollte denken, daß
die Fragen der inneren Politik ihr bessere Gelegenheit gäben, die Massen zu
erregen und an sich zu ketten. Zumal diese Erwägung auch durch die Tat¬
sachen bestätigt wird. Denn die Fragen der auswärtigen Politik haben nie in
besonderem Maße das Interesse der Sozialdemokratie erweckt; und wo sie sich
mit ihnen beschäftigte, offenbarte sie immer eine besonders bemerkenswerte Un¬
kenntnis und Ungeschicklichkeit in ihrer Behandlung.

So liegt der Gedanke nahe, nach dem Grunde dieses eigentümlichen
Interesses der Sozialdemokratie am Imperialismus zu forschen und sich die
Frage vorzulegen, ob nicht doch ein innerer Zusammenhang zwischen diesen an¬
scheinenden Gegenpolen: Imperialismus und Sozialismus besteht. Die innere
Begründung dieser Frage ergibt sich aus der Richtigkeit des Rückschlusses, daß
die Sozialdemokratie -- wie wohl jede politische Partei -- nur solchen Pro¬
blemen eine so eingehende, fast leidenschaftliche Beachtung schenken wird, die
sie an ihrem Lebensnerv berühren. Nur weil die Sozialdemokratie befürchtet,
daß ihr der Imperialismus den Wind aus den Segeln nehmen könnte, geht
sie so nachhaltig auf ihn ein. Aber inwiefern kann der Imperialismus dem
Sozialismus gefährlich werden? Die Frage stellen, heißt ihre Bedeutung er¬
kennen.




Der Gegensatz zwischen Sozialismus und Imperialismus scheint auf den
ersten Blick unüberbrückbar zu sein. Wie könnten auch Zusammenhänge be¬
stehen zwischen Begriffen, die einander auszuschließen scheinen? Auf der einen
Seite der Sozialismus, der sein Ziel in der völligen Gleichberechtigung aller



*) Zu erwähnen sind besonders folgende Schriften, auf die ich zum Teil schon in
meinem Aufsatz über die Grundlagen des Imperialismus, Ur. 19, Jahrg. 1913 der Grenz¬
boten, hingewiesen habe: Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung
des Imperialismus, Berlin 1913. Mes ring, Das historische Wesen des Imperialismus. Bremer Bürgerzeitung Ur. 33,
39, 45, Jahrg. 1913. Qucssel, Verständigung und Imperialismus. Sozial. Monatshefte, Heft 6, 1913. Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse. Bremen 1912. Schippel, Imperialismus und Manchestertum, Sozial. Monatshefte, 13, 191. Schippel, Imperialismus auf dem Chemnitzer Parteitag. Sozial. Monatshefte,
Ur, 21, 1912.
Imperialismus und Zozialismus

theoretischen Verzweigungen, die sich an ihn knüpfen, und die Zahl der Ab¬
handlungen schwillt von Monat zu Monat an*).

Diese außerordentlich rege Beteiligung der sozialdemokratischen Presse an
der Erörterung imperialistischer Fragen ist nicht nur im Hinblick auf die Ruhe
der bürgerlichen Parteien erstaunlich. Auch an sich würde man der Sozial¬
demokratie weniger Veranlassung zutrauen, sich mit dem Imperialismus ein¬
gehender zu beschäftigen, als die „Bourgeoisie". Denn man sollte denken, daß
die Fragen der inneren Politik ihr bessere Gelegenheit gäben, die Massen zu
erregen und an sich zu ketten. Zumal diese Erwägung auch durch die Tat¬
sachen bestätigt wird. Denn die Fragen der auswärtigen Politik haben nie in
besonderem Maße das Interesse der Sozialdemokratie erweckt; und wo sie sich
mit ihnen beschäftigte, offenbarte sie immer eine besonders bemerkenswerte Un¬
kenntnis und Ungeschicklichkeit in ihrer Behandlung.

So liegt der Gedanke nahe, nach dem Grunde dieses eigentümlichen
Interesses der Sozialdemokratie am Imperialismus zu forschen und sich die
Frage vorzulegen, ob nicht doch ein innerer Zusammenhang zwischen diesen an¬
scheinenden Gegenpolen: Imperialismus und Sozialismus besteht. Die innere
Begründung dieser Frage ergibt sich aus der Richtigkeit des Rückschlusses, daß
die Sozialdemokratie — wie wohl jede politische Partei — nur solchen Pro¬
blemen eine so eingehende, fast leidenschaftliche Beachtung schenken wird, die
sie an ihrem Lebensnerv berühren. Nur weil die Sozialdemokratie befürchtet,
daß ihr der Imperialismus den Wind aus den Segeln nehmen könnte, geht
sie so nachhaltig auf ihn ein. Aber inwiefern kann der Imperialismus dem
Sozialismus gefährlich werden? Die Frage stellen, heißt ihre Bedeutung er¬
kennen.




Der Gegensatz zwischen Sozialismus und Imperialismus scheint auf den
ersten Blick unüberbrückbar zu sein. Wie könnten auch Zusammenhänge be¬
stehen zwischen Begriffen, die einander auszuschließen scheinen? Auf der einen
Seite der Sozialismus, der sein Ziel in der völligen Gleichberechtigung aller



*) Zu erwähnen sind besonders folgende Schriften, auf die ich zum Teil schon in
meinem Aufsatz über die Grundlagen des Imperialismus, Ur. 19, Jahrg. 1913 der Grenz¬
boten, hingewiesen habe: Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung
des Imperialismus, Berlin 1913. Mes ring, Das historische Wesen des Imperialismus. Bremer Bürgerzeitung Ur. 33,
39, 45, Jahrg. 1913. Qucssel, Verständigung und Imperialismus. Sozial. Monatshefte, Heft 6, 1913. Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse. Bremen 1912. Schippel, Imperialismus und Manchestertum, Sozial. Monatshefte, 13, 191. Schippel, Imperialismus auf dem Chemnitzer Parteitag. Sozial. Monatshefte,
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[0350] Imperialismus und Zozialismus theoretischen Verzweigungen, die sich an ihn knüpfen, und die Zahl der Ab¬ handlungen schwillt von Monat zu Monat an*). Diese außerordentlich rege Beteiligung der sozialdemokratischen Presse an der Erörterung imperialistischer Fragen ist nicht nur im Hinblick auf die Ruhe der bürgerlichen Parteien erstaunlich. Auch an sich würde man der Sozial¬ demokratie weniger Veranlassung zutrauen, sich mit dem Imperialismus ein¬ gehender zu beschäftigen, als die „Bourgeoisie". Denn man sollte denken, daß die Fragen der inneren Politik ihr bessere Gelegenheit gäben, die Massen zu erregen und an sich zu ketten. Zumal diese Erwägung auch durch die Tat¬ sachen bestätigt wird. Denn die Fragen der auswärtigen Politik haben nie in besonderem Maße das Interesse der Sozialdemokratie erweckt; und wo sie sich mit ihnen beschäftigte, offenbarte sie immer eine besonders bemerkenswerte Un¬ kenntnis und Ungeschicklichkeit in ihrer Behandlung. So liegt der Gedanke nahe, nach dem Grunde dieses eigentümlichen Interesses der Sozialdemokratie am Imperialismus zu forschen und sich die Frage vorzulegen, ob nicht doch ein innerer Zusammenhang zwischen diesen an¬ scheinenden Gegenpolen: Imperialismus und Sozialismus besteht. Die innere Begründung dieser Frage ergibt sich aus der Richtigkeit des Rückschlusses, daß die Sozialdemokratie — wie wohl jede politische Partei — nur solchen Pro¬ blemen eine so eingehende, fast leidenschaftliche Beachtung schenken wird, die sie an ihrem Lebensnerv berühren. Nur weil die Sozialdemokratie befürchtet, daß ihr der Imperialismus den Wind aus den Segeln nehmen könnte, geht sie so nachhaltig auf ihn ein. Aber inwiefern kann der Imperialismus dem Sozialismus gefährlich werden? Die Frage stellen, heißt ihre Bedeutung er¬ kennen. Der Gegensatz zwischen Sozialismus und Imperialismus scheint auf den ersten Blick unüberbrückbar zu sein. Wie könnten auch Zusammenhänge be¬ stehen zwischen Begriffen, die einander auszuschließen scheinen? Auf der einen Seite der Sozialismus, der sein Ziel in der völligen Gleichberechtigung aller *) Zu erwähnen sind besonders folgende Schriften, auf die ich zum Teil schon in meinem Aufsatz über die Grundlagen des Imperialismus, Ur. 19, Jahrg. 1913 der Grenz¬ boten, hingewiesen habe: Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Berlin 1913. Mes ring, Das historische Wesen des Imperialismus. Bremer Bürgerzeitung Ur. 33, 39, 45, Jahrg. 1913. Qucssel, Verständigung und Imperialismus. Sozial. Monatshefte, Heft 6, 1913. Radek, Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse. Bremen 1912. Schippel, Imperialismus und Manchestertum, Sozial. Monatshefte, 13, 191. Schippel, Imperialismus auf dem Chemnitzer Parteitag. Sozial. Monatshefte, Ur, 21, 1912.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/350>, abgerufen am 24.08.2024.