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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

W erzielen. In Wahrheit konnte er auf die, welche von seinem Kunstgriff
wußten, nur allegorisch und daher erkältend wirken; denn man wollte ja nicht
die Trauer dieses bestimmten Schauspielers um einen bestimmten Menschen sehen,
sondern die Trauer des von der Phantasie des Dichters geschaffenen Vaters um
seinen Sohn.

Der Schauspieler war also, indem er die Wirklichkeit zu Hilfe nahm, etwas
anderes, als er dem Sinn der Sache nach bedeuten sollte. Der gewöhnliche
Mensch lebt in der Welt der Allegorie, auch derjenige, der sein Leben vernunft¬
gemäß regelt, d. h. sich durch seine verschiedenartigen Betätigungen innerlich im
Gleichgewicht erhält, also harmonisch erscheint; denn die Begriffe, nach welchen
wir unser Leben einrichten, sprechen nicht unmittelbar zu unserer Seele, setzen
sie nicht unmittelbar in Bewegung, sind sie doch nur die verstandesmäßige Zu¬
sammenfassung dessen, was ihnen zugrunde liegt, was sie im Einzelfall bedeuten.
Unmittelbar zu unserer Seele redet nur das symbolische. Symbolisch ist z. B.
jede religiöse Feier und vor allem die Kunst. Aber mit Recht wird gesagt:
"Die Musik ist symbolischer als jede andere Kunst, weil in ihr Form und In¬
halt, Bedeutung und Zeichen sich decken, ja ein und dasselbe sind von Anbeginn
an, und alle Künste, kann man sagen, streben zur Musik, indem sie symbolisch
werden" (Seite 122). Der Musiker erzeugt also das Gleichgewicht seiner Seele
in sich selbst, ohne Vermittlung durch das Objekt oder durch Begriffe. "Das
Erstaunliche, das eigentlich Wunderbare am Dasein des Musikers ist, daß es
zwischen ihm und dem Objekt keine Vermittlung geben und daß auch das Ziel
und der Zweck seines Daseins unter gar keinen Bedingungen eine solche Ver¬
mittlung sein darf" (Seite 129). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
Kaßner den Begriff des symbolischen ebenso faßt, wie es die moderne psycho¬
logische Ästhetik tut (ich denke dabei namentlich an Th. Lipps), und wie es
übrigens bereits Schiller tat. Aber die seelischen Tatsachen, welche die symbo¬
lische Auffassung möglich machen, also das Miterleben und die Einfühlung,
bleiben unerörtert. Ebenso ist der Verfasser durchaus in das Wesen der Ton¬
kunst eingedrungen, ohne jedoch auch hier ihre Wirkungen psychologisch zu
erklären. Er ist eben kein wissenschaftlicher Psychologe, sondern ein künstlerisch
tief empfindender Denker. Endlich ist es auch vollkommen wahr, daß die sym¬
bolische Auffassung auch außerhalb der Kunst, etwa der Natur und selbst dem
Alltagsleben gegenüber, stattfinden und zu einer Charaktereigentümlichkeit des
Menschen werden kann. Trotz der gerügten Schwerverständlichreit und obgleich
die vorgetragenen Gedanken nicht durchaus neu sind, mag das Buch manchem
Leser befruchtende Anregungen zuführen.

Bekanntlich gibt es neben der theoretischen auch eine angewandte Ästhetik.
Sie geht von bestimmten einzelnen Kunstwerken aus und wendet auf dieselben
ästhetische Gesetze an, die sie nicht sowohl zu erweisen sucht, als vielmehr nach
künstlerischem (oder auch unkünstlerischem) Empfinden voraussetzt. Hierher gehört
jede Art der Kunstkritik, mag es sich nun um Werke der Gegenwart oder der


Neue Bücher über Musik

W erzielen. In Wahrheit konnte er auf die, welche von seinem Kunstgriff
wußten, nur allegorisch und daher erkältend wirken; denn man wollte ja nicht
die Trauer dieses bestimmten Schauspielers um einen bestimmten Menschen sehen,
sondern die Trauer des von der Phantasie des Dichters geschaffenen Vaters um
seinen Sohn.

Der Schauspieler war also, indem er die Wirklichkeit zu Hilfe nahm, etwas
anderes, als er dem Sinn der Sache nach bedeuten sollte. Der gewöhnliche
Mensch lebt in der Welt der Allegorie, auch derjenige, der sein Leben vernunft¬
gemäß regelt, d. h. sich durch seine verschiedenartigen Betätigungen innerlich im
Gleichgewicht erhält, also harmonisch erscheint; denn die Begriffe, nach welchen
wir unser Leben einrichten, sprechen nicht unmittelbar zu unserer Seele, setzen
sie nicht unmittelbar in Bewegung, sind sie doch nur die verstandesmäßige Zu¬
sammenfassung dessen, was ihnen zugrunde liegt, was sie im Einzelfall bedeuten.
Unmittelbar zu unserer Seele redet nur das symbolische. Symbolisch ist z. B.
jede religiöse Feier und vor allem die Kunst. Aber mit Recht wird gesagt:
„Die Musik ist symbolischer als jede andere Kunst, weil in ihr Form und In¬
halt, Bedeutung und Zeichen sich decken, ja ein und dasselbe sind von Anbeginn
an, und alle Künste, kann man sagen, streben zur Musik, indem sie symbolisch
werden" (Seite 122). Der Musiker erzeugt also das Gleichgewicht seiner Seele
in sich selbst, ohne Vermittlung durch das Objekt oder durch Begriffe. „Das
Erstaunliche, das eigentlich Wunderbare am Dasein des Musikers ist, daß es
zwischen ihm und dem Objekt keine Vermittlung geben und daß auch das Ziel
und der Zweck seines Daseins unter gar keinen Bedingungen eine solche Ver¬
mittlung sein darf" (Seite 129). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
Kaßner den Begriff des symbolischen ebenso faßt, wie es die moderne psycho¬
logische Ästhetik tut (ich denke dabei namentlich an Th. Lipps), und wie es
übrigens bereits Schiller tat. Aber die seelischen Tatsachen, welche die symbo¬
lische Auffassung möglich machen, also das Miterleben und die Einfühlung,
bleiben unerörtert. Ebenso ist der Verfasser durchaus in das Wesen der Ton¬
kunst eingedrungen, ohne jedoch auch hier ihre Wirkungen psychologisch zu
erklären. Er ist eben kein wissenschaftlicher Psychologe, sondern ein künstlerisch
tief empfindender Denker. Endlich ist es auch vollkommen wahr, daß die sym¬
bolische Auffassung auch außerhalb der Kunst, etwa der Natur und selbst dem
Alltagsleben gegenüber, stattfinden und zu einer Charaktereigentümlichkeit des
Menschen werden kann. Trotz der gerügten Schwerverständlichreit und obgleich
die vorgetragenen Gedanken nicht durchaus neu sind, mag das Buch manchem
Leser befruchtende Anregungen zuführen.

Bekanntlich gibt es neben der theoretischen auch eine angewandte Ästhetik.
Sie geht von bestimmten einzelnen Kunstwerken aus und wendet auf dieselben
ästhetische Gesetze an, die sie nicht sowohl zu erweisen sucht, als vielmehr nach
künstlerischem (oder auch unkünstlerischem) Empfinden voraussetzt. Hierher gehört
jede Art der Kunstkritik, mag es sich nun um Werke der Gegenwart oder der


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[0337] Neue Bücher über Musik W erzielen. In Wahrheit konnte er auf die, welche von seinem Kunstgriff wußten, nur allegorisch und daher erkältend wirken; denn man wollte ja nicht die Trauer dieses bestimmten Schauspielers um einen bestimmten Menschen sehen, sondern die Trauer des von der Phantasie des Dichters geschaffenen Vaters um seinen Sohn. Der Schauspieler war also, indem er die Wirklichkeit zu Hilfe nahm, etwas anderes, als er dem Sinn der Sache nach bedeuten sollte. Der gewöhnliche Mensch lebt in der Welt der Allegorie, auch derjenige, der sein Leben vernunft¬ gemäß regelt, d. h. sich durch seine verschiedenartigen Betätigungen innerlich im Gleichgewicht erhält, also harmonisch erscheint; denn die Begriffe, nach welchen wir unser Leben einrichten, sprechen nicht unmittelbar zu unserer Seele, setzen sie nicht unmittelbar in Bewegung, sind sie doch nur die verstandesmäßige Zu¬ sammenfassung dessen, was ihnen zugrunde liegt, was sie im Einzelfall bedeuten. Unmittelbar zu unserer Seele redet nur das symbolische. Symbolisch ist z. B. jede religiöse Feier und vor allem die Kunst. Aber mit Recht wird gesagt: „Die Musik ist symbolischer als jede andere Kunst, weil in ihr Form und In¬ halt, Bedeutung und Zeichen sich decken, ja ein und dasselbe sind von Anbeginn an, und alle Künste, kann man sagen, streben zur Musik, indem sie symbolisch werden" (Seite 122). Der Musiker erzeugt also das Gleichgewicht seiner Seele in sich selbst, ohne Vermittlung durch das Objekt oder durch Begriffe. „Das Erstaunliche, das eigentlich Wunderbare am Dasein des Musikers ist, daß es zwischen ihm und dem Objekt keine Vermittlung geben und daß auch das Ziel und der Zweck seines Daseins unter gar keinen Bedingungen eine solche Ver¬ mittlung sein darf" (Seite 129). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Kaßner den Begriff des symbolischen ebenso faßt, wie es die moderne psycho¬ logische Ästhetik tut (ich denke dabei namentlich an Th. Lipps), und wie es übrigens bereits Schiller tat. Aber die seelischen Tatsachen, welche die symbo¬ lische Auffassung möglich machen, also das Miterleben und die Einfühlung, bleiben unerörtert. Ebenso ist der Verfasser durchaus in das Wesen der Ton¬ kunst eingedrungen, ohne jedoch auch hier ihre Wirkungen psychologisch zu erklären. Er ist eben kein wissenschaftlicher Psychologe, sondern ein künstlerisch tief empfindender Denker. Endlich ist es auch vollkommen wahr, daß die sym¬ bolische Auffassung auch außerhalb der Kunst, etwa der Natur und selbst dem Alltagsleben gegenüber, stattfinden und zu einer Charaktereigentümlichkeit des Menschen werden kann. Trotz der gerügten Schwerverständlichreit und obgleich die vorgetragenen Gedanken nicht durchaus neu sind, mag das Buch manchem Leser befruchtende Anregungen zuführen. Bekanntlich gibt es neben der theoretischen auch eine angewandte Ästhetik. Sie geht von bestimmten einzelnen Kunstwerken aus und wendet auf dieselben ästhetische Gesetze an, die sie nicht sowohl zu erweisen sucht, als vielmehr nach künstlerischem (oder auch unkünstlerischem) Empfinden voraussetzt. Hierher gehört jede Art der Kunstkritik, mag es sich nun um Werke der Gegenwart oder der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/337>, abgerufen am 22.07.2024.