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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Es liegen ja auch Wohl pr-iöter proptsr ein¬
hundertundzwanzig Jahre dazwischen. So geht
es mit der übrigen Ausstattung auch.

Mit der teuren Ausstattung, den riesigen
Bühnen -- zugegeben, daß sie für einen Teil
der großen Opern und einige Dramen relativ
notwendig sind -- wird aber die bauliche
Anlage überhaupt teuer. Die elektrischen
Anlagen sind so ausgebildet, daß man sich
kaum noch Beleuchtungen denken kann, die
nicht in gewissem Sinne nachgeahmt werden
können. Also werden immer raffiniertere Be¬
leuchtungsanlagen angeschafft. Mag auch die
Anlage Zehntausende und Tausende jährlich der
Betrieb erfordern. Das "künstlerische Bühnen¬
bild" soll das alles verlangen. Das ist zwar
nicht wahr. Es heißt Mücken feigen und
Kamele verschlucken, wenn man allerlei
Dämmerungserscheinungen (aber auf etliche
Sekunden oder fünf Minuten zusammen¬
gedrängt) vorführt, während man die tollsten
Unmöglichkeiten der Raumperspektive in den
Kauf nimmt. Von Lustperspektive ganz zu
schweigen.

Wenn wir nun aber das Geld aufwenden
können und um der (angeblich so geliebten)
Kunst willen auch ausgeben Wolken?

Einige reiche Anstalten mögen das tun
und gut, daß sie es tun, aber erstmal brauchen
wir billige Theater. Man muß heute reich,
leichtsinnig oder fanatischer Theaterliebyaber
sein, um oft ins Theater gehen zu können.
Und doch braucht ein gesunder Theaterbetrieb
ein großes Stammpublikum. Nicht eins, das
die in dieser Saison neuen Stücke oder einen
Teil von ihnen kennen lernen will. Ein
Stück, das man nicht mehrmals gern sieht,
ist nicht wert, aufgeführt zu werden. Das
Publikum hat an der Schauspielkunst erst den
höchstmöglichen Genuß, wenn es sieht, wie
der ganz bestimmte, bekannte Schauspieler
eine bestimmte Rolle wiedergiebt. Und der
Schauspiel- oder Sangeskunst dient doch das
Theater. Oder ist es der Apparat, das
Publikum mit den neuesten eben erworbenen
Schlägern der Berliner Bühnen bekannt zu
machen?

Deshalb, weil das Stammpublikum die
Hauptsache für ein gesundes Bühnenunter¬
nehmen sein muß (außer in Städten, die sich
auf Fremdenverkehr verlassen können), müssen

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die Preise billig sein. Das Theater soll eine
künstlerische Unterhaltung, in diesem Sinne
eine moralische Anstalt -- man kann auch
sagen eine ästhetische -- sein. Und dafür ist
das Publikum so ziemlich da. Daß man ihm
daneben literarische oder patriotische, religiöse
oder sonstige Werte nahe bringt, ist sehr schön,
aber das Eigentliche ist das Spielen oder
das Singen. Das Stück ist das Instrument,
auf dem der Schauspieler seine Kunst zeigt.
Man wird wünschen, daß es ein edles In¬
strument sei, aber das Spezifische ist immer
das Spiel.

Und das Theater braucht den teuren
Apparat, die Ausstattung, die Lichtspielereien
("Effekte") nicht, braucht den Palast nicht,
braucht auch die sogenannte Naturwahrheit
nicht. Was es darbieten muß, ist Handlung,
und zwar gegenständlich interessante. Alles
andere, sittlich oder unsittlich, Kunst oder
Kitsch, Wahrheit oder Lüge, ist für die An¬
ziehungskraft fast gleichgültig.

Und es ist noch sehr die Frage, ob die
gemeine, zotige Darstellung erotischer Be¬
ziehungen im menschlichen Leben -- die nun
einmal bestehen und interessieren --, oder
die künstlerische, also auch nie schamlose Wieder¬
gabe ein größeres und zahlungswilligeres
Publikum hat. Ebenso ist es mit den übrigen
Themen, die uns interessieren. Auch eine
satirische Darstellung aus dem Leben, dem
des einzelnen und der Politik, fände ein
Publikum, so gut wie die satirischen Blätter.
Erst recht die großen Vorgänge der Geschichte,
die ja auch (besonders allerdings die anekdoti¬
schen) im Kino ziehen. Was ethisch, dichterisch,
künstlerisch hineingelegt wird, ist in der kleinen
Schar der kulturell höchststehenden allerdings
ausschlaggebend für ihr Urteil -- noch nicht
einmal durchweg für den Bestich. Dies Urteil
wird sich Wohl mit dem der Nachwelt decken.
Aber auf die wirtschaftlichen Aussichten ist der
Einfluß gleich Null. Wie fiZurs auch heute
zeigt. Mags den Herren von der Kritik be¬
hagen oder nicht.

In puncto Lokal, Ausstattung, Lebens¬
wahrheit, Lichteffekte usw. werden große --
ja alle Konzessionen vom Publikum gern ge¬
macht, ebenso in puncto Witz, literarische
Bedeutung usw. Aber man verlangt das zu
sehen, waS nicht alltäglich ist, was nicht all-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Es liegen ja auch Wohl pr-iöter proptsr ein¬
hundertundzwanzig Jahre dazwischen. So geht
es mit der übrigen Ausstattung auch.

Mit der teuren Ausstattung, den riesigen
Bühnen — zugegeben, daß sie für einen Teil
der großen Opern und einige Dramen relativ
notwendig sind — wird aber die bauliche
Anlage überhaupt teuer. Die elektrischen
Anlagen sind so ausgebildet, daß man sich
kaum noch Beleuchtungen denken kann, die
nicht in gewissem Sinne nachgeahmt werden
können. Also werden immer raffiniertere Be¬
leuchtungsanlagen angeschafft. Mag auch die
Anlage Zehntausende und Tausende jährlich der
Betrieb erfordern. Das „künstlerische Bühnen¬
bild" soll das alles verlangen. Das ist zwar
nicht wahr. Es heißt Mücken feigen und
Kamele verschlucken, wenn man allerlei
Dämmerungserscheinungen (aber auf etliche
Sekunden oder fünf Minuten zusammen¬
gedrängt) vorführt, während man die tollsten
Unmöglichkeiten der Raumperspektive in den
Kauf nimmt. Von Lustperspektive ganz zu
schweigen.

Wenn wir nun aber das Geld aufwenden
können und um der (angeblich so geliebten)
Kunst willen auch ausgeben Wolken?

Einige reiche Anstalten mögen das tun
und gut, daß sie es tun, aber erstmal brauchen
wir billige Theater. Man muß heute reich,
leichtsinnig oder fanatischer Theaterliebyaber
sein, um oft ins Theater gehen zu können.
Und doch braucht ein gesunder Theaterbetrieb
ein großes Stammpublikum. Nicht eins, das
die in dieser Saison neuen Stücke oder einen
Teil von ihnen kennen lernen will. Ein
Stück, das man nicht mehrmals gern sieht,
ist nicht wert, aufgeführt zu werden. Das
Publikum hat an der Schauspielkunst erst den
höchstmöglichen Genuß, wenn es sieht, wie
der ganz bestimmte, bekannte Schauspieler
eine bestimmte Rolle wiedergiebt. Und der
Schauspiel- oder Sangeskunst dient doch das
Theater. Oder ist es der Apparat, das
Publikum mit den neuesten eben erworbenen
Schlägern der Berliner Bühnen bekannt zu
machen?

Deshalb, weil das Stammpublikum die
Hauptsache für ein gesundes Bühnenunter¬
nehmen sein muß (außer in Städten, die sich
auf Fremdenverkehr verlassen können), müssen

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die Preise billig sein. Das Theater soll eine
künstlerische Unterhaltung, in diesem Sinne
eine moralische Anstalt — man kann auch
sagen eine ästhetische — sein. Und dafür ist
das Publikum so ziemlich da. Daß man ihm
daneben literarische oder patriotische, religiöse
oder sonstige Werte nahe bringt, ist sehr schön,
aber das Eigentliche ist das Spielen oder
das Singen. Das Stück ist das Instrument,
auf dem der Schauspieler seine Kunst zeigt.
Man wird wünschen, daß es ein edles In¬
strument sei, aber das Spezifische ist immer
das Spiel.

Und das Theater braucht den teuren
Apparat, die Ausstattung, die Lichtspielereien
(„Effekte") nicht, braucht den Palast nicht,
braucht auch die sogenannte Naturwahrheit
nicht. Was es darbieten muß, ist Handlung,
und zwar gegenständlich interessante. Alles
andere, sittlich oder unsittlich, Kunst oder
Kitsch, Wahrheit oder Lüge, ist für die An¬
ziehungskraft fast gleichgültig.

Und es ist noch sehr die Frage, ob die
gemeine, zotige Darstellung erotischer Be¬
ziehungen im menschlichen Leben — die nun
einmal bestehen und interessieren —, oder
die künstlerische, also auch nie schamlose Wieder¬
gabe ein größeres und zahlungswilligeres
Publikum hat. Ebenso ist es mit den übrigen
Themen, die uns interessieren. Auch eine
satirische Darstellung aus dem Leben, dem
des einzelnen und der Politik, fände ein
Publikum, so gut wie die satirischen Blätter.
Erst recht die großen Vorgänge der Geschichte,
die ja auch (besonders allerdings die anekdoti¬
schen) im Kino ziehen. Was ethisch, dichterisch,
künstlerisch hineingelegt wird, ist in der kleinen
Schar der kulturell höchststehenden allerdings
ausschlaggebend für ihr Urteil — noch nicht
einmal durchweg für den Bestich. Dies Urteil
wird sich Wohl mit dem der Nachwelt decken.
Aber auf die wirtschaftlichen Aussichten ist der
Einfluß gleich Null. Wie fiZurs auch heute
zeigt. Mags den Herren von der Kritik be¬
hagen oder nicht.

In puncto Lokal, Ausstattung, Lebens¬
wahrheit, Lichteffekte usw. werden große —
ja alle Konzessionen vom Publikum gern ge¬
macht, ebenso in puncto Witz, literarische
Bedeutung usw. Aber man verlangt das zu
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[0299] Maßgebliches und Unmaßgebliches Es liegen ja auch Wohl pr-iöter proptsr ein¬ hundertundzwanzig Jahre dazwischen. So geht es mit der übrigen Ausstattung auch. Mit der teuren Ausstattung, den riesigen Bühnen — zugegeben, daß sie für einen Teil der großen Opern und einige Dramen relativ notwendig sind — wird aber die bauliche Anlage überhaupt teuer. Die elektrischen Anlagen sind so ausgebildet, daß man sich kaum noch Beleuchtungen denken kann, die nicht in gewissem Sinne nachgeahmt werden können. Also werden immer raffiniertere Be¬ leuchtungsanlagen angeschafft. Mag auch die Anlage Zehntausende und Tausende jährlich der Betrieb erfordern. Das „künstlerische Bühnen¬ bild" soll das alles verlangen. Das ist zwar nicht wahr. Es heißt Mücken feigen und Kamele verschlucken, wenn man allerlei Dämmerungserscheinungen (aber auf etliche Sekunden oder fünf Minuten zusammen¬ gedrängt) vorführt, während man die tollsten Unmöglichkeiten der Raumperspektive in den Kauf nimmt. Von Lustperspektive ganz zu schweigen. Wenn wir nun aber das Geld aufwenden können und um der (angeblich so geliebten) Kunst willen auch ausgeben Wolken? Einige reiche Anstalten mögen das tun und gut, daß sie es tun, aber erstmal brauchen wir billige Theater. Man muß heute reich, leichtsinnig oder fanatischer Theaterliebyaber sein, um oft ins Theater gehen zu können. Und doch braucht ein gesunder Theaterbetrieb ein großes Stammpublikum. Nicht eins, das die in dieser Saison neuen Stücke oder einen Teil von ihnen kennen lernen will. Ein Stück, das man nicht mehrmals gern sieht, ist nicht wert, aufgeführt zu werden. Das Publikum hat an der Schauspielkunst erst den höchstmöglichen Genuß, wenn es sieht, wie der ganz bestimmte, bekannte Schauspieler eine bestimmte Rolle wiedergiebt. Und der Schauspiel- oder Sangeskunst dient doch das Theater. Oder ist es der Apparat, das Publikum mit den neuesten eben erworbenen Schlägern der Berliner Bühnen bekannt zu machen? Deshalb, weil das Stammpublikum die Hauptsache für ein gesundes Bühnenunter¬ nehmen sein muß (außer in Städten, die sich auf Fremdenverkehr verlassen können), müssen die Preise billig sein. Das Theater soll eine künstlerische Unterhaltung, in diesem Sinne eine moralische Anstalt — man kann auch sagen eine ästhetische — sein. Und dafür ist das Publikum so ziemlich da. Daß man ihm daneben literarische oder patriotische, religiöse oder sonstige Werte nahe bringt, ist sehr schön, aber das Eigentliche ist das Spielen oder das Singen. Das Stück ist das Instrument, auf dem der Schauspieler seine Kunst zeigt. Man wird wünschen, daß es ein edles In¬ strument sei, aber das Spezifische ist immer das Spiel. Und das Theater braucht den teuren Apparat, die Ausstattung, die Lichtspielereien („Effekte") nicht, braucht den Palast nicht, braucht auch die sogenannte Naturwahrheit nicht. Was es darbieten muß, ist Handlung, und zwar gegenständlich interessante. Alles andere, sittlich oder unsittlich, Kunst oder Kitsch, Wahrheit oder Lüge, ist für die An¬ ziehungskraft fast gleichgültig. Und es ist noch sehr die Frage, ob die gemeine, zotige Darstellung erotischer Be¬ ziehungen im menschlichen Leben — die nun einmal bestehen und interessieren —, oder die künstlerische, also auch nie schamlose Wieder¬ gabe ein größeres und zahlungswilligeres Publikum hat. Ebenso ist es mit den übrigen Themen, die uns interessieren. Auch eine satirische Darstellung aus dem Leben, dem des einzelnen und der Politik, fände ein Publikum, so gut wie die satirischen Blätter. Erst recht die großen Vorgänge der Geschichte, die ja auch (besonders allerdings die anekdoti¬ schen) im Kino ziehen. Was ethisch, dichterisch, künstlerisch hineingelegt wird, ist in der kleinen Schar der kulturell höchststehenden allerdings ausschlaggebend für ihr Urteil — noch nicht einmal durchweg für den Bestich. Dies Urteil wird sich Wohl mit dem der Nachwelt decken. Aber auf die wirtschaftlichen Aussichten ist der Einfluß gleich Null. Wie fiZurs auch heute zeigt. Mags den Herren von der Kritik be¬ hagen oder nicht. In puncto Lokal, Ausstattung, Lebens¬ wahrheit, Lichteffekte usw. werden große — ja alle Konzessionen vom Publikum gern ge¬ macht, ebenso in puncto Witz, literarische Bedeutung usw. Aber man verlangt das zu sehen, waS nicht alltäglich ist, was nicht all-

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/299>, abgerufen am 24.08.2024.