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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

zogen; die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist in dieser Beziehung eine so
rapide gewesen, daß, wenn ihr nicht bald Einhalt geboten wird, man es bald
überhaupt nicht mehr für nötig halten wird, Schulden zu bezahlen.

In eines dieser Übergangsstadien stellt Shakespeare die Figur seines Shylock.
Das alte strenge Recht steht noch in Kraft, aber es lebt nicht mehr im Be¬
wußtsein des Volkes, dessen Anschauungen sich geändert und zugunsten des
Schuldners gemildert haben. Shylock besteht auf seinen Schein, er hat das
Recht und Gesetz für sich, und wenn die Sache vor das deutsche Reichsgericht
gebracht worden wäre, so würde Shylock zu seinem Pfunde Fleisch gekommen
sein, und wenn er etwas mehr genommen hätte, würde ihm dies, wie die zwölf
Tafeln sagen, nicht zum Nachteil gereicht haben. Das Rechtsgefühl einer ver¬
gangenen Zeit steht im krassen Widerspruch zu dem Rechte des Lebenden.


"Es erben sich Gesetz und Rechte

Wie eine co'ge Krankheit fort;

Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte

Und rücken sacht von Ort zu Ort,

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;

Weh dir, daß du ein Enkel bist!

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Von dem ist, leider! nie die Frage."


Kann der gelehrte Richter Antonio nicht helfen, der Laienrichter Porzia muß
das formell bestehende, materiell unmögliche Recht beugen. Denn es handelt
sich um einen glatten Rechtsbruch, wenn sie Shylock sein Recht zuspricht, es ihm
aber gleichzeitig unmöglich macht, sein Recht auszuüben. Das allgemeine Rechts¬
gefühl triumphiert über ein zurückgebliebenes Recht und über das zurückgebliebene
Rechtsgefühl des unmoralischen Wucherers.

Die Frage, wie der Wandel des Nechtsgefühls dem Schuldner gegenüber
zu erklären ist, wird sich nicht aus einer einzigen Erwägung heraus beantworten
lassen. Das Leben wurde in jenen alten Zeiten nicht so hoch bewertet, wie es
später der Fall war; das Gefühl des Mitleids ist erst durch das Eindringen des
Christentums in dem Maße entfaltet worden, wie es sich in späteren Kultur-
perioden gezeigt hat. Noch andere Momente werden eine wesentliche Rolle
gespielt haben. Auch heute noch wird es als unehrenhaft angesehen werden,
wenn jemand, der sich einen bestimmten Gegenstand geliehen hat, ihn für sich
behält und nicht zurückgiebt, sofern der geliehene Gegenstand nicht etwa ein Buch
ist; denn seit Jahrhunderten ertönt die Klage aller Bücherfreunde, daß geliehene
Bücher meist nicht zurückgegeben werden.

In einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen war eine Schuld im wesentlichen
nur ein Entleihen. Jeder einzelne konnte seine wirtschaftlichen Verhältnisse so-
weit übersehen, daß er genau wußte oder doch wissen mußte, ob und wann er
in der Lage sein würde, geliehenes Gut zurückzugeben. Die Verfehlung, dieser
Verpflichtung zuwider zu handeln, war daher eine weit schwerere, als es in unseren
Zeiten der Fall ist mit unseren komplizierten, schwer zu durchschauenden wirt-


Grenzboten IV 1913 2
Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

zogen; die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist in dieser Beziehung eine so
rapide gewesen, daß, wenn ihr nicht bald Einhalt geboten wird, man es bald
überhaupt nicht mehr für nötig halten wird, Schulden zu bezahlen.

In eines dieser Übergangsstadien stellt Shakespeare die Figur seines Shylock.
Das alte strenge Recht steht noch in Kraft, aber es lebt nicht mehr im Be¬
wußtsein des Volkes, dessen Anschauungen sich geändert und zugunsten des
Schuldners gemildert haben. Shylock besteht auf seinen Schein, er hat das
Recht und Gesetz für sich, und wenn die Sache vor das deutsche Reichsgericht
gebracht worden wäre, so würde Shylock zu seinem Pfunde Fleisch gekommen
sein, und wenn er etwas mehr genommen hätte, würde ihm dies, wie die zwölf
Tafeln sagen, nicht zum Nachteil gereicht haben. Das Rechtsgefühl einer ver¬
gangenen Zeit steht im krassen Widerspruch zu dem Rechte des Lebenden.


„Es erben sich Gesetz und Rechte

Wie eine co'ge Krankheit fort;

Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte

Und rücken sacht von Ort zu Ort,

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;

Weh dir, daß du ein Enkel bist!

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Von dem ist, leider! nie die Frage."


Kann der gelehrte Richter Antonio nicht helfen, der Laienrichter Porzia muß
das formell bestehende, materiell unmögliche Recht beugen. Denn es handelt
sich um einen glatten Rechtsbruch, wenn sie Shylock sein Recht zuspricht, es ihm
aber gleichzeitig unmöglich macht, sein Recht auszuüben. Das allgemeine Rechts¬
gefühl triumphiert über ein zurückgebliebenes Recht und über das zurückgebliebene
Rechtsgefühl des unmoralischen Wucherers.

Die Frage, wie der Wandel des Nechtsgefühls dem Schuldner gegenüber
zu erklären ist, wird sich nicht aus einer einzigen Erwägung heraus beantworten
lassen. Das Leben wurde in jenen alten Zeiten nicht so hoch bewertet, wie es
später der Fall war; das Gefühl des Mitleids ist erst durch das Eindringen des
Christentums in dem Maße entfaltet worden, wie es sich in späteren Kultur-
perioden gezeigt hat. Noch andere Momente werden eine wesentliche Rolle
gespielt haben. Auch heute noch wird es als unehrenhaft angesehen werden,
wenn jemand, der sich einen bestimmten Gegenstand geliehen hat, ihn für sich
behält und nicht zurückgiebt, sofern der geliehene Gegenstand nicht etwa ein Buch
ist; denn seit Jahrhunderten ertönt die Klage aller Bücherfreunde, daß geliehene
Bücher meist nicht zurückgegeben werden.

In einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen war eine Schuld im wesentlichen
nur ein Entleihen. Jeder einzelne konnte seine wirtschaftlichen Verhältnisse so-
weit übersehen, daß er genau wußte oder doch wissen mußte, ob und wann er
in der Lage sein würde, geliehenes Gut zurückzugeben. Die Verfehlung, dieser
Verpflichtung zuwider zu handeln, war daher eine weit schwerere, als es in unseren
Zeiten der Fall ist mit unseren komplizierten, schwer zu durchschauenden wirt-


Grenzboten IV 1913 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/29>, abgerufen am 22.01.2025.