Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.Das Rechtsgefühl in? Mandel der Zeiten Sie belehrt Shylock über das Wesen der Gnade und führt fort: "Dies habe ich gesagt, Es ist somit kein Zweifel möglich: uach den Gesetzen Venedigs ist es zulässig, Im alten römischen Recht war es Gesetz, daß der Gläubiger den säumigen Einen stärkeren Wandel des Rechtsgefühls kann man sich kaum vorstellen Das Rechtsgefühl in? Mandel der Zeiten Sie belehrt Shylock über das Wesen der Gnade und führt fort: „Dies habe ich gesagt, Es ist somit kein Zweifel möglich: uach den Gesetzen Venedigs ist es zulässig, Im alten römischen Recht war es Gesetz, daß der Gläubiger den säumigen Einen stärkeren Wandel des Rechtsgefühls kann man sich kaum vorstellen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326840"/> <fw type="header" place="top"> Das Rechtsgefühl in? Mandel der Zeiten</fw><lb/> <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50"> Sie belehrt Shylock über das Wesen der Gnade und führt fort:</p><lb/> <quote> „Dies habe ich gesagt,<lb/> Um deine Forderung des Rechts zu mildern:<lb/> Beharrst du, muß Venedigs strenger Hof<lb/> Durchaus dem Kaufmann dort zuwidersprechen."</quote><lb/> <p xml:id="ID_52"> Es ist somit kein Zweifel möglich: uach den Gesetzen Venedigs ist es zulässig,<lb/> daß jemand seinen Körper verstümmeln läßt, wenn er eine Schuld nicht zahlt.<lb/> Das Gesetz aber ist in der Regel nur der Ausdruck des übereinstimmenden<lb/> Rechtsgefühls der Mehrzahl der Volksgenossen. Shakespeare war als Dichter<lb/> berechtigt, ein eigenes Recht zu schaffen, und, so könnte man wohl erwidern,<lb/> aus einem solchen erdichteten Falle können Folgerungen nicht hergeleitet werden.<lb/> Das Recht aber, das Shakespeare hier schildert, ist in alten Zeiten häufig Gesetz<lb/> gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_53"> Im alten römischen Recht war es Gesetz, daß der Gläubiger den säumigen<lb/> Schuldner nach seinem Belieben als Arbeitskraft ausbeuten, als Sklaven ver»<lb/> verkaufen oder aber auch ihn in Stücke hauen konnte, und noch das Zwölftafel¬<lb/> gesetz änderte hieran nichts; es gab dem Schuldner bloß längere Fristen und<lb/> band das Recht des Gläubigers an bestimmte Formen, die er einhalten mußte.<lb/> Es bestimmt aber ausdrücklich, daß der Gläubiger dem Schuldner Stücke Fleisch<lb/> vom Körper abschneiden kann, soviel er wolle, mehr oder weniger; wenn er<lb/> mehr abschnitte, als ihm nach strengem Rechte gestattet sei. so solle dies ohne<lb/> Nachteil für ihn sein. Das Zwölftafelgesetz enthält aber eine Bestimmung,<lb/> welche die Entscheidung der Porzia unmöglich gemacht haben würde, als hätte<lb/> der römische Gesetzgeber eine derartige rabulistische Einwendung abschneiden wollen,<lb/> wie es die der Porzia ist, daß Shvlock ein Pfund Fleisch herausschneiden dürfe,<lb/> aber nicht ein Gramm mehr oder weniger, weil er sonst selbst dem Tode ver¬<lb/> fallen sei. Und an dem anderen Ende der damals bekannten Welt, in<lb/> Norwegen, galt dasselbe Recht. Auch das alte norwegische Recht gibt dem<lb/> Gläubiger das Recht, dem Schuldner ein Stück vom Leibe zu hauen, wo er<lb/> will, oben oder unten.</p><lb/> <p xml:id="ID_54" next="#ID_55"> Einen stärkeren Wandel des Rechtsgefühls kann man sich kaum vorstellen<lb/> als den, den unser Gefühl dem Schuldner gegenüber durchgemacht hat! Von<lb/> dem Rechte des Gläubigers, den Schuldner zu töten oder in Stücke zu hauen,<lb/> ist immer mehr und mehr abgebröckelt worden. Das Recht über Leben und<lb/> Tod wurde dem Gläubiger genommen, aber es blieb ihm das Recht, den<lb/> Schuldner in die Sklaverei zu verkaufen. Dieses Recht wurde dann abgemildert<lb/> in das Recht, den Schuldner in Schuldhaft zu bringen, ein Recht, das noch<lb/> bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein bestanden hat und das von Dickens<lb/> in vielen seiner Romane dargestellt wird, nirgends rührender und mehr zu<lb/> Herzen gehend als in Klein Dorrit. Und unser modernes deutsches Recht gibt<lb/> dem Schuldner tausend Möglichkeiten, sich der Befriedigung seiner Gläubiger zu<lb/> entziehen. Eine immer stärkere Abschwächung des Gläubigerrechts hat sich voll-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
Das Rechtsgefühl in? Mandel der Zeiten
Sie belehrt Shylock über das Wesen der Gnade und führt fort:
„Dies habe ich gesagt,
Um deine Forderung des Rechts zu mildern:
Beharrst du, muß Venedigs strenger Hof
Durchaus dem Kaufmann dort zuwidersprechen."
Es ist somit kein Zweifel möglich: uach den Gesetzen Venedigs ist es zulässig,
daß jemand seinen Körper verstümmeln läßt, wenn er eine Schuld nicht zahlt.
Das Gesetz aber ist in der Regel nur der Ausdruck des übereinstimmenden
Rechtsgefühls der Mehrzahl der Volksgenossen. Shakespeare war als Dichter
berechtigt, ein eigenes Recht zu schaffen, und, so könnte man wohl erwidern,
aus einem solchen erdichteten Falle können Folgerungen nicht hergeleitet werden.
Das Recht aber, das Shakespeare hier schildert, ist in alten Zeiten häufig Gesetz
gewesen.
Im alten römischen Recht war es Gesetz, daß der Gläubiger den säumigen
Schuldner nach seinem Belieben als Arbeitskraft ausbeuten, als Sklaven ver»
verkaufen oder aber auch ihn in Stücke hauen konnte, und noch das Zwölftafel¬
gesetz änderte hieran nichts; es gab dem Schuldner bloß längere Fristen und
band das Recht des Gläubigers an bestimmte Formen, die er einhalten mußte.
Es bestimmt aber ausdrücklich, daß der Gläubiger dem Schuldner Stücke Fleisch
vom Körper abschneiden kann, soviel er wolle, mehr oder weniger; wenn er
mehr abschnitte, als ihm nach strengem Rechte gestattet sei. so solle dies ohne
Nachteil für ihn sein. Das Zwölftafelgesetz enthält aber eine Bestimmung,
welche die Entscheidung der Porzia unmöglich gemacht haben würde, als hätte
der römische Gesetzgeber eine derartige rabulistische Einwendung abschneiden wollen,
wie es die der Porzia ist, daß Shvlock ein Pfund Fleisch herausschneiden dürfe,
aber nicht ein Gramm mehr oder weniger, weil er sonst selbst dem Tode ver¬
fallen sei. Und an dem anderen Ende der damals bekannten Welt, in
Norwegen, galt dasselbe Recht. Auch das alte norwegische Recht gibt dem
Gläubiger das Recht, dem Schuldner ein Stück vom Leibe zu hauen, wo er
will, oben oder unten.
Einen stärkeren Wandel des Rechtsgefühls kann man sich kaum vorstellen
als den, den unser Gefühl dem Schuldner gegenüber durchgemacht hat! Von
dem Rechte des Gläubigers, den Schuldner zu töten oder in Stücke zu hauen,
ist immer mehr und mehr abgebröckelt worden. Das Recht über Leben und
Tod wurde dem Gläubiger genommen, aber es blieb ihm das Recht, den
Schuldner in die Sklaverei zu verkaufen. Dieses Recht wurde dann abgemildert
in das Recht, den Schuldner in Schuldhaft zu bringen, ein Recht, das noch
bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein bestanden hat und das von Dickens
in vielen seiner Romane dargestellt wird, nirgends rührender und mehr zu
Herzen gehend als in Klein Dorrit. Und unser modernes deutsches Recht gibt
dem Schuldner tausend Möglichkeiten, sich der Befriedigung seiner Gläubiger zu
entziehen. Eine immer stärkere Abschwächung des Gläubigerrechts hat sich voll-
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