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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches, und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

breitet, und hat, trotz aller natürlichen Me¬
lancholie, dem vor der Zeit alt gewordenen
Dichter besser und würdiger gedient, als alle
Tafelreden und knallenden Sektpfropfen. Sie
wird in diesem Zusammenhange nur erwähnt,
weil sie mit einem der jüngsten Hauptmann¬
bücher organisch verwachsen ist: mit dem
Roman "Atlantis", der zweiten größeren
epischen Arbeit, die der Dichter auf den
Büchermarkt wirft.

"Atlantis" will ein von Krisen geschütteltes
Mannesschicksal mitten hinein in das brandende
Leben dieser Zeit stellen. Das Schicksal Fried¬
richs von Kammacher, eines deutschen Ge¬
lehrten, in dessen Zügen man unschwer den
vierzigjährigen Gerhart Hauptmann findet,
ist als Angelpunkt des Buches gedacht. Alles
Drum und Dran, so breit es auch angelegt
ist, wird zur Staffage, zur belebenden --
oder auch nicht belebenden -- Kulisse. Wie
der Maler Gabriel Schilling wird auch Fried¬
rich von Kammacher von Dämonen zur Flucht
getrieben; zur Flucht vor etwas dumpf Un¬
heimlichem, zur Flucht vor einer Macht, die
stärker ist als er selbst. Als erste und tiefste
Voraussetzung für die Wesensart beider
Männer hat man sich Wohl hier wie
dort jene geheimnisvollen physiologischen
Krisen zu denken, denen der Mann zwi¬
schen dem dreißigsten und vierzigsten Lebens¬
jahre unterworfen ist. Denn nur das erklärt
die innere Unrast, den Überdruß und Ekel
am Vergangenen und Abgeschlossenen, und
die zwischen Skepsis und Lebensmüdigkeit
und matt weiter tastender Sehnsucht hin und
her getriebene Stimmung, die den Riß
in das Dasein Schillings und Kammachers
bringt. Bei Kammacher kommt Äußeres
hinzu: böse Niederlagen in seinem ärztlichen
Berufe (sein guter wissenschaftlicher Name ist
ein bißchen arg zerzaust worden); eine geistige
Erkrankung seiner Frau; vor allem aber die
peinigende Leidenschaft für ein halbes Kind,
für ein sechzehnjähriges Mädchen, das wie
ein Spuk, wie eine beängstigende Vision in
sein Leben getreten ist. Er schämt sich dieser
Leidenschaft. Er wehrt sich dagegen als
Mann, als Charakter, als kühl denkender
Wissenschaftler. Er sucht sich Tag und Nacht
die Gewißheit ins Gehirn zu hämmern, daß
dies kleine, schlanke, verwöhnte und verdorbene

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Geschöpf, das Kind und Dirne, Dirne und
Kind in sich vereint, nicht mehr als ein Bor¬
stellungsprodukt seiner kranken Phantasie ist.
Aber er bleibt ihr verfallen. Er kommt nicht
von ihr los. Das Bild der kleinen Hexe
Jngigard gespenstert durch seine Träume, be¬
drängt und beunruhigt seine wachen Stunden.
Und es ist nicht nur Europamüdigkeit und
Ekel am Vergangenen und Erlebten, als er
sich eines schönen Tages mit dem Kurs New
Dort auf den Bremer Riesendampfer "Ro¬
land" einschifft. Ein unklarer Drang ins
Weite und die Sehnsucht, Häßliches, Schmerz¬
liches, Enttäuschendes loszuwerden, kommt
natürlich hinzu. Aber das, was den Aus¬
schlag gibt, ist einzig und allein die Tatsache,
daß der Dampfer "Roland" neben vielen
Hunderten gleichgültiger Menschen auch die
Tänzerin Jngigard nach Amerika tragen soll.

So tritt auch hier wieder in das Leben
eines Mannes jene weibliche Spukgestalt, die
den älter werdenden Hauptmann seit "Pippa"
und seit "Kaiser Karls Geisel" so seltsam zu
beunruhigen scheint. Besonders stark in ihren
Widerständen sind ja Hauptmannsche Helden
niemals gewesen. Aber von den Konflikten
eines Johannes Vockerat, eines Glockengießers
Heinrich und eines Fuhrmann Henschel bis
zu der völlig kampflosen Passivität eines Ga¬
briel Schilling und eines Friedrich von Kam¬
macher ist denn doch noch ein weiter und
recht melancholisch stimmender Weg. Freilich
bedeutet gerade in der Beziehung der Atlnntis-
Nomcm rein äußerlich einen kleinen Fortschritt
gegenüber dem "Gabriel Schilling", der ja
eigentlich keine Tragödie, sondern nur den
letzten Akt einer Tragödie darstellt. Denn
während der Maler Schilling von vornherein
als Verlorener, als hoffnungslos Gezeichneter
in unser Gesichtsfeld tritt, wird im Roman
wenigstens so etwas wie eine Entwicklung
versucht. Gabriel Schilling erliegt der Um¬
welt und den Hemmungen seiner Natur, ohne
einen ernstlichen Widerstand überhaupt nur
zu wagen. Friedrich von Kammacher ringt
sich als Kulturmensch, der noch an eine Zu¬
kunft glaubt, durch die Krisen hindurch. Er
wird los, was er loszuwerden so ernstlich
bestrebt war, und er wacht eines Morgens
als gesunder und von neu blühender Hoff¬
nung belebter Mann wieder auf.

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Maßgebliches, und Unmaßgebliches

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breitet, und hat, trotz aller natürlichen Me¬
lancholie, dem vor der Zeit alt gewordenen
Dichter besser und würdiger gedient, als alle
Tafelreden und knallenden Sektpfropfen. Sie
wird in diesem Zusammenhange nur erwähnt,
weil sie mit einem der jüngsten Hauptmann¬
bücher organisch verwachsen ist: mit dem
Roman „Atlantis", der zweiten größeren
epischen Arbeit, die der Dichter auf den
Büchermarkt wirft.

„Atlantis" will ein von Krisen geschütteltes
Mannesschicksal mitten hinein in das brandende
Leben dieser Zeit stellen. Das Schicksal Fried¬
richs von Kammacher, eines deutschen Ge¬
lehrten, in dessen Zügen man unschwer den
vierzigjährigen Gerhart Hauptmann findet,
ist als Angelpunkt des Buches gedacht. Alles
Drum und Dran, so breit es auch angelegt
ist, wird zur Staffage, zur belebenden —
oder auch nicht belebenden — Kulisse. Wie
der Maler Gabriel Schilling wird auch Fried¬
rich von Kammacher von Dämonen zur Flucht
getrieben; zur Flucht vor etwas dumpf Un¬
heimlichem, zur Flucht vor einer Macht, die
stärker ist als er selbst. Als erste und tiefste
Voraussetzung für die Wesensart beider
Männer hat man sich Wohl hier wie
dort jene geheimnisvollen physiologischen
Krisen zu denken, denen der Mann zwi¬
schen dem dreißigsten und vierzigsten Lebens¬
jahre unterworfen ist. Denn nur das erklärt
die innere Unrast, den Überdruß und Ekel
am Vergangenen und Abgeschlossenen, und
die zwischen Skepsis und Lebensmüdigkeit
und matt weiter tastender Sehnsucht hin und
her getriebene Stimmung, die den Riß
in das Dasein Schillings und Kammachers
bringt. Bei Kammacher kommt Äußeres
hinzu: böse Niederlagen in seinem ärztlichen
Berufe (sein guter wissenschaftlicher Name ist
ein bißchen arg zerzaust worden); eine geistige
Erkrankung seiner Frau; vor allem aber die
peinigende Leidenschaft für ein halbes Kind,
für ein sechzehnjähriges Mädchen, das wie
ein Spuk, wie eine beängstigende Vision in
sein Leben getreten ist. Er schämt sich dieser
Leidenschaft. Er wehrt sich dagegen als
Mann, als Charakter, als kühl denkender
Wissenschaftler. Er sucht sich Tag und Nacht
die Gewißheit ins Gehirn zu hämmern, daß
dies kleine, schlanke, verwöhnte und verdorbene

[Spaltenumbruch]

Geschöpf, das Kind und Dirne, Dirne und
Kind in sich vereint, nicht mehr als ein Bor¬
stellungsprodukt seiner kranken Phantasie ist.
Aber er bleibt ihr verfallen. Er kommt nicht
von ihr los. Das Bild der kleinen Hexe
Jngigard gespenstert durch seine Träume, be¬
drängt und beunruhigt seine wachen Stunden.
Und es ist nicht nur Europamüdigkeit und
Ekel am Vergangenen und Erlebten, als er
sich eines schönen Tages mit dem Kurs New
Dort auf den Bremer Riesendampfer „Ro¬
land" einschifft. Ein unklarer Drang ins
Weite und die Sehnsucht, Häßliches, Schmerz¬
liches, Enttäuschendes loszuwerden, kommt
natürlich hinzu. Aber das, was den Aus¬
schlag gibt, ist einzig und allein die Tatsache,
daß der Dampfer „Roland" neben vielen
Hunderten gleichgültiger Menschen auch die
Tänzerin Jngigard nach Amerika tragen soll.

So tritt auch hier wieder in das Leben
eines Mannes jene weibliche Spukgestalt, die
den älter werdenden Hauptmann seit „Pippa"
und seit „Kaiser Karls Geisel" so seltsam zu
beunruhigen scheint. Besonders stark in ihren
Widerständen sind ja Hauptmannsche Helden
niemals gewesen. Aber von den Konflikten
eines Johannes Vockerat, eines Glockengießers
Heinrich und eines Fuhrmann Henschel bis
zu der völlig kampflosen Passivität eines Ga¬
briel Schilling und eines Friedrich von Kam¬
macher ist denn doch noch ein weiter und
recht melancholisch stimmender Weg. Freilich
bedeutet gerade in der Beziehung der Atlnntis-
Nomcm rein äußerlich einen kleinen Fortschritt
gegenüber dem „Gabriel Schilling", der ja
eigentlich keine Tragödie, sondern nur den
letzten Akt einer Tragödie darstellt. Denn
während der Maler Schilling von vornherein
als Verlorener, als hoffnungslos Gezeichneter
in unser Gesichtsfeld tritt, wird im Roman
wenigstens so etwas wie eine Entwicklung
versucht. Gabriel Schilling erliegt der Um¬
welt und den Hemmungen seiner Natur, ohne
einen ernstlichen Widerstand überhaupt nur
zu wagen. Friedrich von Kammacher ringt
sich als Kulturmensch, der noch an eine Zu¬
kunft glaubt, durch die Krisen hindurch. Er
wird los, was er loszuwerden so ernstlich
bestrebt war, und er wacht eines Morgens
als gesunder und von neu blühender Hoff¬
nung belebter Mann wieder auf.

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[0246] Maßgebliches, und Unmaßgebliches breitet, und hat, trotz aller natürlichen Me¬ lancholie, dem vor der Zeit alt gewordenen Dichter besser und würdiger gedient, als alle Tafelreden und knallenden Sektpfropfen. Sie wird in diesem Zusammenhange nur erwähnt, weil sie mit einem der jüngsten Hauptmann¬ bücher organisch verwachsen ist: mit dem Roman „Atlantis", der zweiten größeren epischen Arbeit, die der Dichter auf den Büchermarkt wirft. „Atlantis" will ein von Krisen geschütteltes Mannesschicksal mitten hinein in das brandende Leben dieser Zeit stellen. Das Schicksal Fried¬ richs von Kammacher, eines deutschen Ge¬ lehrten, in dessen Zügen man unschwer den vierzigjährigen Gerhart Hauptmann findet, ist als Angelpunkt des Buches gedacht. Alles Drum und Dran, so breit es auch angelegt ist, wird zur Staffage, zur belebenden — oder auch nicht belebenden — Kulisse. Wie der Maler Gabriel Schilling wird auch Fried¬ rich von Kammacher von Dämonen zur Flucht getrieben; zur Flucht vor etwas dumpf Un¬ heimlichem, zur Flucht vor einer Macht, die stärker ist als er selbst. Als erste und tiefste Voraussetzung für die Wesensart beider Männer hat man sich Wohl hier wie dort jene geheimnisvollen physiologischen Krisen zu denken, denen der Mann zwi¬ schen dem dreißigsten und vierzigsten Lebens¬ jahre unterworfen ist. Denn nur das erklärt die innere Unrast, den Überdruß und Ekel am Vergangenen und Abgeschlossenen, und die zwischen Skepsis und Lebensmüdigkeit und matt weiter tastender Sehnsucht hin und her getriebene Stimmung, die den Riß in das Dasein Schillings und Kammachers bringt. Bei Kammacher kommt Äußeres hinzu: böse Niederlagen in seinem ärztlichen Berufe (sein guter wissenschaftlicher Name ist ein bißchen arg zerzaust worden); eine geistige Erkrankung seiner Frau; vor allem aber die peinigende Leidenschaft für ein halbes Kind, für ein sechzehnjähriges Mädchen, das wie ein Spuk, wie eine beängstigende Vision in sein Leben getreten ist. Er schämt sich dieser Leidenschaft. Er wehrt sich dagegen als Mann, als Charakter, als kühl denkender Wissenschaftler. Er sucht sich Tag und Nacht die Gewißheit ins Gehirn zu hämmern, daß dies kleine, schlanke, verwöhnte und verdorbene Geschöpf, das Kind und Dirne, Dirne und Kind in sich vereint, nicht mehr als ein Bor¬ stellungsprodukt seiner kranken Phantasie ist. Aber er bleibt ihr verfallen. Er kommt nicht von ihr los. Das Bild der kleinen Hexe Jngigard gespenstert durch seine Träume, be¬ drängt und beunruhigt seine wachen Stunden. Und es ist nicht nur Europamüdigkeit und Ekel am Vergangenen und Erlebten, als er sich eines schönen Tages mit dem Kurs New Dort auf den Bremer Riesendampfer „Ro¬ land" einschifft. Ein unklarer Drang ins Weite und die Sehnsucht, Häßliches, Schmerz¬ liches, Enttäuschendes loszuwerden, kommt natürlich hinzu. Aber das, was den Aus¬ schlag gibt, ist einzig und allein die Tatsache, daß der Dampfer „Roland" neben vielen Hunderten gleichgültiger Menschen auch die Tänzerin Jngigard nach Amerika tragen soll. So tritt auch hier wieder in das Leben eines Mannes jene weibliche Spukgestalt, die den älter werdenden Hauptmann seit „Pippa" und seit „Kaiser Karls Geisel" so seltsam zu beunruhigen scheint. Besonders stark in ihren Widerständen sind ja Hauptmannsche Helden niemals gewesen. Aber von den Konflikten eines Johannes Vockerat, eines Glockengießers Heinrich und eines Fuhrmann Henschel bis zu der völlig kampflosen Passivität eines Ga¬ briel Schilling und eines Friedrich von Kam¬ macher ist denn doch noch ein weiter und recht melancholisch stimmender Weg. Freilich bedeutet gerade in der Beziehung der Atlnntis- Nomcm rein äußerlich einen kleinen Fortschritt gegenüber dem „Gabriel Schilling", der ja eigentlich keine Tragödie, sondern nur den letzten Akt einer Tragödie darstellt. Denn während der Maler Schilling von vornherein als Verlorener, als hoffnungslos Gezeichneter in unser Gesichtsfeld tritt, wird im Roman wenigstens so etwas wie eine Entwicklung versucht. Gabriel Schilling erliegt der Um¬ welt und den Hemmungen seiner Natur, ohne einen ernstlichen Widerstand überhaupt nur zu wagen. Friedrich von Kammacher ringt sich als Kulturmensch, der noch an eine Zu¬ kunft glaubt, durch die Krisen hindurch. Er wird los, was er loszuwerden so ernstlich bestrebt war, und er wacht eines Morgens als gesunder und von neu blühender Hoff¬ nung belebter Mann wieder auf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/246>, abgerufen am 22.07.2024.