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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Über das Wesen der Spinche

das Wesen jeder menschlichen Individualität ausmacht. . . Man kann Begriffe
spalten, Wörter zergliedern, soweit man es vermag, und man tritt darum dem
Geheimnis nicht näher, wie eigentlich der Gedanke sich mit dem Worte ver¬
bindet". Die Entstehung des Gesprochenen aus Naturlauten abzuleiten, oder
aus Lautnachahmung verständlich zu machen, kann gelegentlich einmal einen
Dienst leisten, ist aber als Prinzip verfehlt. "Jedenfalls darf man sich nicht
vorstellen, als hätte der Mensch mit einer gewissen Überlegung zu dem einen
oder anderen Mittel gegriffen; die Nachahmung der Naturlaute und die Ver¬
wendung der Gefühlslaute wäre dann nur eine bestimmte Art der Sprach¬
erfindung, und diese Anschauung hat heute ebensowenig Berechtigung mehr als
der Wahn, die Sprache sei gleichzeitig mit dem Menschen durch eine Art
Wunder geschaffen" (S. 15). Auch die Beobachtung der Kinder, wenn sie
sprechen lernen, ist für die Sprachwissenschaft gelegentlich bedeutungsvoll und
hat ja auch in verhältnismäßig kurzer Zeit eine reiche Literatur hervorgebracht
(Meumann, Stern u. a., ferner eine ganze Reihe amerikanischer Forscher).
Daß sie aber nicht zu oberflächlichen Analogieschlüssen auf den Ursprung oder
den Urzustand der menschlichen Sprache führe, davor muß die Rücksicht auf das
für Kind und Urmensch gänzlich verschiedene Milieu bewahren.

Ebenso wie in ihrer historischen Entwicklung, ist die Sprache auch im
einzelnen Falle ihres Auftretens aus einem irgendwie gearteten Milieu heraus
zu verstehen. Sie ist der vollkommenste Ausdruck dafür, wie ein einzelner, wie
eine ganze Nation die Welt anschaut und wertet. In der Sprache ist alles im
Flusse. Im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende machen die Sprachen
in Landung und Bedeutung Wandlungen durch, die der Sprachforscher, rückwärts
und seitwärts schauend, aufzudecken hat, um das legitime Verwandtschafts¬
verhältnis der lebenden und abgestorbenen Sprößlinge eines Sprachstammes
darzustellen. Ebenso gilt es, innerhalb einer -- relativ abgeschlossenen ^
Sprachgemeinschaft den Wandel in Landung und Bedeutung geschichtlich zu ver¬
folgen. Die Geschichte des Bedeutungswandels der Wörter ist ein Stück Kultur¬
geschichte (Beispiele bei Sütterlin S. 51).

Doch nicht genug mit der Betrachtung des Bedeutungswandels durch die
Jahrhunderte hindurch, auch ein und dasselbe Wort einer und derselben Sprache
nimmt je nach der Situation, auf die es hindeutet, einen besonderen Sinn an-
"Stein ist für den Arzt etwas anderes als für den Goldschmied und Edelstein¬
händler, oder für den Maurer und Steinbrecher, und für den Wörterbuch¬
schreiber wieder etwas Umfassenderes, aber im ganzen Farbloseres als für diese
Berufe; grün sagt dem Gärtner nicht das gleiche wie dem Maler, dem M
grün Farbenblinden weniger als dem Vollsichtigen; und ebenso denkt sich bei
bem Worte Bräutigam die Braut mehr, als die vielleicht alte Mutter der Braut
oder ihr Vater, oder ihr Bruder, oder selbst ihre gleichalterige noch ledige
Schwester" (S. 39 ff.). Man steht, die individuelle Weltanschauung ist der
Resonanzboden, auf dem die Wortbedeutung anklingt. In dem Maße, wie sie


Über das Wesen der Spinche

das Wesen jeder menschlichen Individualität ausmacht. . . Man kann Begriffe
spalten, Wörter zergliedern, soweit man es vermag, und man tritt darum dem
Geheimnis nicht näher, wie eigentlich der Gedanke sich mit dem Worte ver¬
bindet". Die Entstehung des Gesprochenen aus Naturlauten abzuleiten, oder
aus Lautnachahmung verständlich zu machen, kann gelegentlich einmal einen
Dienst leisten, ist aber als Prinzip verfehlt. „Jedenfalls darf man sich nicht
vorstellen, als hätte der Mensch mit einer gewissen Überlegung zu dem einen
oder anderen Mittel gegriffen; die Nachahmung der Naturlaute und die Ver¬
wendung der Gefühlslaute wäre dann nur eine bestimmte Art der Sprach¬
erfindung, und diese Anschauung hat heute ebensowenig Berechtigung mehr als
der Wahn, die Sprache sei gleichzeitig mit dem Menschen durch eine Art
Wunder geschaffen" (S. 15). Auch die Beobachtung der Kinder, wenn sie
sprechen lernen, ist für die Sprachwissenschaft gelegentlich bedeutungsvoll und
hat ja auch in verhältnismäßig kurzer Zeit eine reiche Literatur hervorgebracht
(Meumann, Stern u. a., ferner eine ganze Reihe amerikanischer Forscher).
Daß sie aber nicht zu oberflächlichen Analogieschlüssen auf den Ursprung oder
den Urzustand der menschlichen Sprache führe, davor muß die Rücksicht auf das
für Kind und Urmensch gänzlich verschiedene Milieu bewahren.

Ebenso wie in ihrer historischen Entwicklung, ist die Sprache auch im
einzelnen Falle ihres Auftretens aus einem irgendwie gearteten Milieu heraus
zu verstehen. Sie ist der vollkommenste Ausdruck dafür, wie ein einzelner, wie
eine ganze Nation die Welt anschaut und wertet. In der Sprache ist alles im
Flusse. Im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende machen die Sprachen
in Landung und Bedeutung Wandlungen durch, die der Sprachforscher, rückwärts
und seitwärts schauend, aufzudecken hat, um das legitime Verwandtschafts¬
verhältnis der lebenden und abgestorbenen Sprößlinge eines Sprachstammes
darzustellen. Ebenso gilt es, innerhalb einer — relativ abgeschlossenen ^
Sprachgemeinschaft den Wandel in Landung und Bedeutung geschichtlich zu ver¬
folgen. Die Geschichte des Bedeutungswandels der Wörter ist ein Stück Kultur¬
geschichte (Beispiele bei Sütterlin S. 51).

Doch nicht genug mit der Betrachtung des Bedeutungswandels durch die
Jahrhunderte hindurch, auch ein und dasselbe Wort einer und derselben Sprache
nimmt je nach der Situation, auf die es hindeutet, einen besonderen Sinn an-
„Stein ist für den Arzt etwas anderes als für den Goldschmied und Edelstein¬
händler, oder für den Maurer und Steinbrecher, und für den Wörterbuch¬
schreiber wieder etwas Umfassenderes, aber im ganzen Farbloseres als für diese
Berufe; grün sagt dem Gärtner nicht das gleiche wie dem Maler, dem M
grün Farbenblinden weniger als dem Vollsichtigen; und ebenso denkt sich bei
bem Worte Bräutigam die Braut mehr, als die vielleicht alte Mutter der Braut
oder ihr Vater, oder ihr Bruder, oder selbst ihre gleichalterige noch ledige
Schwester" (S. 39 ff.). Man steht, die individuelle Weltanschauung ist der
Resonanzboden, auf dem die Wortbedeutung anklingt. In dem Maße, wie sie


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[0238] Über das Wesen der Spinche das Wesen jeder menschlichen Individualität ausmacht. . . Man kann Begriffe spalten, Wörter zergliedern, soweit man es vermag, und man tritt darum dem Geheimnis nicht näher, wie eigentlich der Gedanke sich mit dem Worte ver¬ bindet". Die Entstehung des Gesprochenen aus Naturlauten abzuleiten, oder aus Lautnachahmung verständlich zu machen, kann gelegentlich einmal einen Dienst leisten, ist aber als Prinzip verfehlt. „Jedenfalls darf man sich nicht vorstellen, als hätte der Mensch mit einer gewissen Überlegung zu dem einen oder anderen Mittel gegriffen; die Nachahmung der Naturlaute und die Ver¬ wendung der Gefühlslaute wäre dann nur eine bestimmte Art der Sprach¬ erfindung, und diese Anschauung hat heute ebensowenig Berechtigung mehr als der Wahn, die Sprache sei gleichzeitig mit dem Menschen durch eine Art Wunder geschaffen" (S. 15). Auch die Beobachtung der Kinder, wenn sie sprechen lernen, ist für die Sprachwissenschaft gelegentlich bedeutungsvoll und hat ja auch in verhältnismäßig kurzer Zeit eine reiche Literatur hervorgebracht (Meumann, Stern u. a., ferner eine ganze Reihe amerikanischer Forscher). Daß sie aber nicht zu oberflächlichen Analogieschlüssen auf den Ursprung oder den Urzustand der menschlichen Sprache führe, davor muß die Rücksicht auf das für Kind und Urmensch gänzlich verschiedene Milieu bewahren. Ebenso wie in ihrer historischen Entwicklung, ist die Sprache auch im einzelnen Falle ihres Auftretens aus einem irgendwie gearteten Milieu heraus zu verstehen. Sie ist der vollkommenste Ausdruck dafür, wie ein einzelner, wie eine ganze Nation die Welt anschaut und wertet. In der Sprache ist alles im Flusse. Im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende machen die Sprachen in Landung und Bedeutung Wandlungen durch, die der Sprachforscher, rückwärts und seitwärts schauend, aufzudecken hat, um das legitime Verwandtschafts¬ verhältnis der lebenden und abgestorbenen Sprößlinge eines Sprachstammes darzustellen. Ebenso gilt es, innerhalb einer — relativ abgeschlossenen ^ Sprachgemeinschaft den Wandel in Landung und Bedeutung geschichtlich zu ver¬ folgen. Die Geschichte des Bedeutungswandels der Wörter ist ein Stück Kultur¬ geschichte (Beispiele bei Sütterlin S. 51). Doch nicht genug mit der Betrachtung des Bedeutungswandels durch die Jahrhunderte hindurch, auch ein und dasselbe Wort einer und derselben Sprache nimmt je nach der Situation, auf die es hindeutet, einen besonderen Sinn an- „Stein ist für den Arzt etwas anderes als für den Goldschmied und Edelstein¬ händler, oder für den Maurer und Steinbrecher, und für den Wörterbuch¬ schreiber wieder etwas Umfassenderes, aber im ganzen Farbloseres als für diese Berufe; grün sagt dem Gärtner nicht das gleiche wie dem Maler, dem M grün Farbenblinden weniger als dem Vollsichtigen; und ebenso denkt sich bei bem Worte Bräutigam die Braut mehr, als die vielleicht alte Mutter der Braut oder ihr Vater, oder ihr Bruder, oder selbst ihre gleichalterige noch ledige Schwester" (S. 39 ff.). Man steht, die individuelle Weltanschauung ist der Resonanzboden, auf dem die Wortbedeutung anklingt. In dem Maße, wie sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/238>, abgerufen am 22.07.2024.