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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Über das Wesen der Sprache

Die logisch klare und durchsichtige Wortstellung des Französischen steht in
dein Bereich französischer Kultur durchaus nicht singulär da. Die einzelnen
Wörter im Französischen sind eindeutiger als im Deutschen oder Englischen,
neigen stark nach der Seite des Abstrakten. Das Französische ist die Sprache
des nationalen, der Aufklärung, nicht des Irrationalen, der Romantik. An
eine von lebhaftem Temperament getragene Konsequenz im Denken und im
Handeln erinnert die Bartholomäusnacht. Die französische Revolution wiederum
sucht nicht nur den Ideen Rousseaus möglichst vollkommenen Ausdruck zu geben.
Vielmehr verbindet sich mit ihr ein Streben nach radikaler Reform in Sitten
und Gebräuchen, in Zeitrechnung (Namen der Tage, Monate usw.), Münz¬
system usw. Eine solche Tendenz zum Bruche mit dem, was Tradition ist, ist
mit einem ausgeprägten Willen zum Formaten wesentlich verknüpft, der sich in
den Dingen als ordnendes, geistiges Prinzip rücksichtslos und souverän durch¬
zusetzen sucht: im klassischen französischen Garten ebenso, wie in der vielgepriesenen
Pariser Mode oder in den drei Einheiten des Dramas des französischen Klassi¬
zismus. Alles trägt die Gefahr in sich, zur Berechnung, zur Phrase, zur Pose,
zur Koketterie zu werden.

Wie ganz anders nimmt sich gegenüber dieser starren Welt französischer
Sprache und Kultur englisches Tun und Denken aus! Hier gibt es kein aus
einem logischen Bedürfnis heraus geborenes, hemmendes Vorurteil in der
Behandlung der Wirklichkeit, keine ideologische Konstruktion, in die man das in
der Welt gegebene Material hineinpressen will. Nirgends herrscht die Schablone.
Der Ausgangspunkt für jede Gestaltung des Lebens liegt in dem zu Gestaltenden,
in der Wirklichkeit selbst. Überall ist man bestrebt, ihre Eigenart zu wahren.
Die freie Natürlichkeit des englischen Parks und des englischen Sportlebens ist
Ausdruck nationalen Seelenlebens, so gut wie die freie Wortstellung der Sprache
und die konkrete Vieldeutigkeit ihrer Wörter. Diese ausgeprägte Neigung zur
Empirie ist die Unterlage zu einem stark entwickelten Sinn für das stetige
Werden und daher auch für das traditionell Gewordene. Die Tradition wird
nicht zur Last und zum Hemmnis, die aus einem starken Wirklichkeitssinne und
aus dem Streben geboren ist, der Eigenart der Wirklichkeit gerecht zu werden;
wenigstens nicht, solange dieser Wirklichkeitssinn Lebensprinzip bleibt.

So gilt es die Eigenarten einer nationalen Sprache in Zusammenhang und
in Einklang zu bringen mit der gesamten Weltanschauung und Weltwertung
eines Volkes. Zugleich nimmt dieser Weg der Betrachtung seine Richtung auf
die ewig geheimnisvolle Stelle, an der das primitivste Erlebnis in sprachliches
Gewand gekleidet wird und sich aus einem dämmerhaften Zusammenhange
seelischen Lebens in die helle Lichtregion der Formung und Gestaltung erhebt.
Wir müssen ein Erlebnis zum sprachlichen Erlebnis machen, in Worte kleiden,
um es ganz zu besitzen. Wie alles Gestalten etwas Künstlerisches in der Menschen¬
natur zur Voraussetzung hat und das Lustgefühl des Menschen durch sein eigenes
Schaffen erhöht, so auch die sprachliche Darstellung. Und es wird auch der,


Über das Wesen der Sprache

Die logisch klare und durchsichtige Wortstellung des Französischen steht in
dein Bereich französischer Kultur durchaus nicht singulär da. Die einzelnen
Wörter im Französischen sind eindeutiger als im Deutschen oder Englischen,
neigen stark nach der Seite des Abstrakten. Das Französische ist die Sprache
des nationalen, der Aufklärung, nicht des Irrationalen, der Romantik. An
eine von lebhaftem Temperament getragene Konsequenz im Denken und im
Handeln erinnert die Bartholomäusnacht. Die französische Revolution wiederum
sucht nicht nur den Ideen Rousseaus möglichst vollkommenen Ausdruck zu geben.
Vielmehr verbindet sich mit ihr ein Streben nach radikaler Reform in Sitten
und Gebräuchen, in Zeitrechnung (Namen der Tage, Monate usw.), Münz¬
system usw. Eine solche Tendenz zum Bruche mit dem, was Tradition ist, ist
mit einem ausgeprägten Willen zum Formaten wesentlich verknüpft, der sich in
den Dingen als ordnendes, geistiges Prinzip rücksichtslos und souverän durch¬
zusetzen sucht: im klassischen französischen Garten ebenso, wie in der vielgepriesenen
Pariser Mode oder in den drei Einheiten des Dramas des französischen Klassi¬
zismus. Alles trägt die Gefahr in sich, zur Berechnung, zur Phrase, zur Pose,
zur Koketterie zu werden.

Wie ganz anders nimmt sich gegenüber dieser starren Welt französischer
Sprache und Kultur englisches Tun und Denken aus! Hier gibt es kein aus
einem logischen Bedürfnis heraus geborenes, hemmendes Vorurteil in der
Behandlung der Wirklichkeit, keine ideologische Konstruktion, in die man das in
der Welt gegebene Material hineinpressen will. Nirgends herrscht die Schablone.
Der Ausgangspunkt für jede Gestaltung des Lebens liegt in dem zu Gestaltenden,
in der Wirklichkeit selbst. Überall ist man bestrebt, ihre Eigenart zu wahren.
Die freie Natürlichkeit des englischen Parks und des englischen Sportlebens ist
Ausdruck nationalen Seelenlebens, so gut wie die freie Wortstellung der Sprache
und die konkrete Vieldeutigkeit ihrer Wörter. Diese ausgeprägte Neigung zur
Empirie ist die Unterlage zu einem stark entwickelten Sinn für das stetige
Werden und daher auch für das traditionell Gewordene. Die Tradition wird
nicht zur Last und zum Hemmnis, die aus einem starken Wirklichkeitssinne und
aus dem Streben geboren ist, der Eigenart der Wirklichkeit gerecht zu werden;
wenigstens nicht, solange dieser Wirklichkeitssinn Lebensprinzip bleibt.

So gilt es die Eigenarten einer nationalen Sprache in Zusammenhang und
in Einklang zu bringen mit der gesamten Weltanschauung und Weltwertung
eines Volkes. Zugleich nimmt dieser Weg der Betrachtung seine Richtung auf
die ewig geheimnisvolle Stelle, an der das primitivste Erlebnis in sprachliches
Gewand gekleidet wird und sich aus einem dämmerhaften Zusammenhange
seelischen Lebens in die helle Lichtregion der Formung und Gestaltung erhebt.
Wir müssen ein Erlebnis zum sprachlichen Erlebnis machen, in Worte kleiden,
um es ganz zu besitzen. Wie alles Gestalten etwas Künstlerisches in der Menschen¬
natur zur Voraussetzung hat und das Lustgefühl des Menschen durch sein eigenes
Schaffen erhöht, so auch die sprachliche Darstellung. Und es wird auch der,


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[0236] Über das Wesen der Sprache Die logisch klare und durchsichtige Wortstellung des Französischen steht in dein Bereich französischer Kultur durchaus nicht singulär da. Die einzelnen Wörter im Französischen sind eindeutiger als im Deutschen oder Englischen, neigen stark nach der Seite des Abstrakten. Das Französische ist die Sprache des nationalen, der Aufklärung, nicht des Irrationalen, der Romantik. An eine von lebhaftem Temperament getragene Konsequenz im Denken und im Handeln erinnert die Bartholomäusnacht. Die französische Revolution wiederum sucht nicht nur den Ideen Rousseaus möglichst vollkommenen Ausdruck zu geben. Vielmehr verbindet sich mit ihr ein Streben nach radikaler Reform in Sitten und Gebräuchen, in Zeitrechnung (Namen der Tage, Monate usw.), Münz¬ system usw. Eine solche Tendenz zum Bruche mit dem, was Tradition ist, ist mit einem ausgeprägten Willen zum Formaten wesentlich verknüpft, der sich in den Dingen als ordnendes, geistiges Prinzip rücksichtslos und souverän durch¬ zusetzen sucht: im klassischen französischen Garten ebenso, wie in der vielgepriesenen Pariser Mode oder in den drei Einheiten des Dramas des französischen Klassi¬ zismus. Alles trägt die Gefahr in sich, zur Berechnung, zur Phrase, zur Pose, zur Koketterie zu werden. Wie ganz anders nimmt sich gegenüber dieser starren Welt französischer Sprache und Kultur englisches Tun und Denken aus! Hier gibt es kein aus einem logischen Bedürfnis heraus geborenes, hemmendes Vorurteil in der Behandlung der Wirklichkeit, keine ideologische Konstruktion, in die man das in der Welt gegebene Material hineinpressen will. Nirgends herrscht die Schablone. Der Ausgangspunkt für jede Gestaltung des Lebens liegt in dem zu Gestaltenden, in der Wirklichkeit selbst. Überall ist man bestrebt, ihre Eigenart zu wahren. Die freie Natürlichkeit des englischen Parks und des englischen Sportlebens ist Ausdruck nationalen Seelenlebens, so gut wie die freie Wortstellung der Sprache und die konkrete Vieldeutigkeit ihrer Wörter. Diese ausgeprägte Neigung zur Empirie ist die Unterlage zu einem stark entwickelten Sinn für das stetige Werden und daher auch für das traditionell Gewordene. Die Tradition wird nicht zur Last und zum Hemmnis, die aus einem starken Wirklichkeitssinne und aus dem Streben geboren ist, der Eigenart der Wirklichkeit gerecht zu werden; wenigstens nicht, solange dieser Wirklichkeitssinn Lebensprinzip bleibt. So gilt es die Eigenarten einer nationalen Sprache in Zusammenhang und in Einklang zu bringen mit der gesamten Weltanschauung und Weltwertung eines Volkes. Zugleich nimmt dieser Weg der Betrachtung seine Richtung auf die ewig geheimnisvolle Stelle, an der das primitivste Erlebnis in sprachliches Gewand gekleidet wird und sich aus einem dämmerhaften Zusammenhange seelischen Lebens in die helle Lichtregion der Formung und Gestaltung erhebt. Wir müssen ein Erlebnis zum sprachlichen Erlebnis machen, in Worte kleiden, um es ganz zu besitzen. Wie alles Gestalten etwas Künstlerisches in der Menschen¬ natur zur Voraussetzung hat und das Lustgefühl des Menschen durch sein eigenes Schaffen erhöht, so auch die sprachliche Darstellung. Und es wird auch der,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/236>, abgerufen am 22.07.2024.