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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen

Element in den Unterricht hineingekommen, das sich bei der immer größer
werdenden Arbeitsteilung und Spezialisierung immer weiter entwickeln muß.
Das alte humanistische Ideal der Allgemeinbildung hatte seine Berechtigung in
einer Zeit, in der die Universität noch auf alle höheren Berufe vorbereitete und
das Gymnasium ihre einzige Vorschule war. Seitdem aber die technischen Hoch¬
schulen gegründet worden sind, hat sich neben dem Gymnasium die Realschule
entwickelt, ein Beweis, daß ersteres als Vorbereitung für die Technik tatsächlich
nicht genügte. Jetzt bildet das Gymnasium die weitaus beste, zum Teil sogar
einzige Vorbereitung für alle Geisteswissenschaften, für das Studium der Sprachen
und der Literatur, für Geschichte, Theologie und Jurisprudenz. Dagegen erhalten
Mathematiker, Naturforscher und Mediziner ohne Zweifel die bessere Vor¬
bildung auf der Realschule. Man lasse sich durch abweichende Urteile in dieser
Beziehung nicht irreführen. Es wäre zu wünschen, daß die Differenzierung
beider Schultypen immer schärfer herausgearbeitet würde, statt daß man sich
bemühte, sie immer wieder zu verwischen. Die Vermittlungsversuche zwischen
ihnen wie das Realgymnasium werden ja doch mit der Zeit wieder von der
Bildfläche verschwinden. Es ist ein Nonsens, daß die Gymnasien noch immer
den Anspruch erheben Naturforscher auszubilden, während doch die höhere
Mathematik und z. B. die Chemie an ihnen nur eine geringe Rolle spielen.
Und ebenso ist es ein Nonsens, daß die Realschulen, an denen kein Griechisch
und das Latein nur wahlfrei betrieben wird, künftigen Sprachforschern und Literar¬
historikern eine genügende Vorbildung zu geben beanspruchen. Die Angst der
interessierten Kreise, daß der allgemeinbildende Charakter der Schulen eingebüßt
und die allseitige Berechtigung verloren gehen könnte, hat zu einem geradezu
unhaltbaren Zustand geführt, der an vielen Stellen schmerzlich empfunden wird,
und dessen Beseitigung nur eine Frage der Zeit sein kann.

Was versteht man überhaupt unter allgemeiner Bildung? Unser Wissen
und Können ist längst so groß und weit verzweigt geworden, daß keiner, auch
der stärkste Geist nicht mehr imstande ist, auch nur in die Elemente der verschiedenen
Fächer einzudringen. Wer etwas im Leben leisten will, kann sich nicht früh
genug einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit suchen. Alle großen Philologen, Natur¬
forscher, Techniker und Künstler haben schon auf der Schule ihre besonderen
Interessen gehabt und sich in den anderen Schulfächern teilweise ganz unfähig
erwiesen. Ich will daraus nicht schließen, daß die Schule Spezialisten zu erziehen
habe. Wohl aber, daß jeder Schultypus einen gewissen Schwerpunkt haben
und daß dieser Schwerpunkt auch wirklich konsequent durchgeführt werden sollte.
Im Gymnasium sollten wirklich die Sprachen, in der Realschule wirklich die
Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen, alles übrige sich nur dienend darum
gruppieren. Das gilt auch vom Zeichenunterricht, der für die künstlerisch-'
technischen Berufe durchaus im Mittelpunkt steht, während er für die künftigen
Philologen, Theologen, Mathematiker, Chemiker usw. gewiß nicht so wichtig ist,
daß man ihm mehr als zwei oder drei Stunden in der Woche widmen müßte.


Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen

Element in den Unterricht hineingekommen, das sich bei der immer größer
werdenden Arbeitsteilung und Spezialisierung immer weiter entwickeln muß.
Das alte humanistische Ideal der Allgemeinbildung hatte seine Berechtigung in
einer Zeit, in der die Universität noch auf alle höheren Berufe vorbereitete und
das Gymnasium ihre einzige Vorschule war. Seitdem aber die technischen Hoch¬
schulen gegründet worden sind, hat sich neben dem Gymnasium die Realschule
entwickelt, ein Beweis, daß ersteres als Vorbereitung für die Technik tatsächlich
nicht genügte. Jetzt bildet das Gymnasium die weitaus beste, zum Teil sogar
einzige Vorbereitung für alle Geisteswissenschaften, für das Studium der Sprachen
und der Literatur, für Geschichte, Theologie und Jurisprudenz. Dagegen erhalten
Mathematiker, Naturforscher und Mediziner ohne Zweifel die bessere Vor¬
bildung auf der Realschule. Man lasse sich durch abweichende Urteile in dieser
Beziehung nicht irreführen. Es wäre zu wünschen, daß die Differenzierung
beider Schultypen immer schärfer herausgearbeitet würde, statt daß man sich
bemühte, sie immer wieder zu verwischen. Die Vermittlungsversuche zwischen
ihnen wie das Realgymnasium werden ja doch mit der Zeit wieder von der
Bildfläche verschwinden. Es ist ein Nonsens, daß die Gymnasien noch immer
den Anspruch erheben Naturforscher auszubilden, während doch die höhere
Mathematik und z. B. die Chemie an ihnen nur eine geringe Rolle spielen.
Und ebenso ist es ein Nonsens, daß die Realschulen, an denen kein Griechisch
und das Latein nur wahlfrei betrieben wird, künftigen Sprachforschern und Literar¬
historikern eine genügende Vorbildung zu geben beanspruchen. Die Angst der
interessierten Kreise, daß der allgemeinbildende Charakter der Schulen eingebüßt
und die allseitige Berechtigung verloren gehen könnte, hat zu einem geradezu
unhaltbaren Zustand geführt, der an vielen Stellen schmerzlich empfunden wird,
und dessen Beseitigung nur eine Frage der Zeit sein kann.

Was versteht man überhaupt unter allgemeiner Bildung? Unser Wissen
und Können ist längst so groß und weit verzweigt geworden, daß keiner, auch
der stärkste Geist nicht mehr imstande ist, auch nur in die Elemente der verschiedenen
Fächer einzudringen. Wer etwas im Leben leisten will, kann sich nicht früh
genug einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit suchen. Alle großen Philologen, Natur¬
forscher, Techniker und Künstler haben schon auf der Schule ihre besonderen
Interessen gehabt und sich in den anderen Schulfächern teilweise ganz unfähig
erwiesen. Ich will daraus nicht schließen, daß die Schule Spezialisten zu erziehen
habe. Wohl aber, daß jeder Schultypus einen gewissen Schwerpunkt haben
und daß dieser Schwerpunkt auch wirklich konsequent durchgeführt werden sollte.
Im Gymnasium sollten wirklich die Sprachen, in der Realschule wirklich die
Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen, alles übrige sich nur dienend darum
gruppieren. Das gilt auch vom Zeichenunterricht, der für die künstlerisch-'
technischen Berufe durchaus im Mittelpunkt steht, während er für die künftigen
Philologen, Theologen, Mathematiker, Chemiker usw. gewiß nicht so wichtig ist,
daß man ihm mehr als zwei oder drei Stunden in der Woche widmen müßte.


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[0222] Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen Element in den Unterricht hineingekommen, das sich bei der immer größer werdenden Arbeitsteilung und Spezialisierung immer weiter entwickeln muß. Das alte humanistische Ideal der Allgemeinbildung hatte seine Berechtigung in einer Zeit, in der die Universität noch auf alle höheren Berufe vorbereitete und das Gymnasium ihre einzige Vorschule war. Seitdem aber die technischen Hoch¬ schulen gegründet worden sind, hat sich neben dem Gymnasium die Realschule entwickelt, ein Beweis, daß ersteres als Vorbereitung für die Technik tatsächlich nicht genügte. Jetzt bildet das Gymnasium die weitaus beste, zum Teil sogar einzige Vorbereitung für alle Geisteswissenschaften, für das Studium der Sprachen und der Literatur, für Geschichte, Theologie und Jurisprudenz. Dagegen erhalten Mathematiker, Naturforscher und Mediziner ohne Zweifel die bessere Vor¬ bildung auf der Realschule. Man lasse sich durch abweichende Urteile in dieser Beziehung nicht irreführen. Es wäre zu wünschen, daß die Differenzierung beider Schultypen immer schärfer herausgearbeitet würde, statt daß man sich bemühte, sie immer wieder zu verwischen. Die Vermittlungsversuche zwischen ihnen wie das Realgymnasium werden ja doch mit der Zeit wieder von der Bildfläche verschwinden. Es ist ein Nonsens, daß die Gymnasien noch immer den Anspruch erheben Naturforscher auszubilden, während doch die höhere Mathematik und z. B. die Chemie an ihnen nur eine geringe Rolle spielen. Und ebenso ist es ein Nonsens, daß die Realschulen, an denen kein Griechisch und das Latein nur wahlfrei betrieben wird, künftigen Sprachforschern und Literar¬ historikern eine genügende Vorbildung zu geben beanspruchen. Die Angst der interessierten Kreise, daß der allgemeinbildende Charakter der Schulen eingebüßt und die allseitige Berechtigung verloren gehen könnte, hat zu einem geradezu unhaltbaren Zustand geführt, der an vielen Stellen schmerzlich empfunden wird, und dessen Beseitigung nur eine Frage der Zeit sein kann. Was versteht man überhaupt unter allgemeiner Bildung? Unser Wissen und Können ist längst so groß und weit verzweigt geworden, daß keiner, auch der stärkste Geist nicht mehr imstande ist, auch nur in die Elemente der verschiedenen Fächer einzudringen. Wer etwas im Leben leisten will, kann sich nicht früh genug einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit suchen. Alle großen Philologen, Natur¬ forscher, Techniker und Künstler haben schon auf der Schule ihre besonderen Interessen gehabt und sich in den anderen Schulfächern teilweise ganz unfähig erwiesen. Ich will daraus nicht schließen, daß die Schule Spezialisten zu erziehen habe. Wohl aber, daß jeder Schultypus einen gewissen Schwerpunkt haben und daß dieser Schwerpunkt auch wirklich konsequent durchgeführt werden sollte. Im Gymnasium sollten wirklich die Sprachen, in der Realschule wirklich die Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen, alles übrige sich nur dienend darum gruppieren. Das gilt auch vom Zeichenunterricht, der für die künstlerisch-' technischen Berufe durchaus im Mittelpunkt steht, während er für die künftigen Philologen, Theologen, Mathematiker, Chemiker usw. gewiß nicht so wichtig ist, daß man ihm mehr als zwei oder drei Stunden in der Woche widmen müßte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/222>, abgerufen am 25.07.2024.