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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Industrialisierung Skandinaviens

ertragbringend zu bewirtschaften, aber die groben Arbeiten im Kuhstall werden sie
doch naturgemäß gern mehr primitiven Naturen überlassen.

Alle germanischen Völker, Deutsche, Engländer, Skandinavier und vor allen
Dingen die Nordamerikaner entwickeln sich immer mehr zu Herrenvölkern und
brauchen in ihrem nationalen Haushalt immer dringender eine Unterklasse von
weniger individualisierten Menschen. Im äußersten Norden Europas wird aller
Wahrscheinlichkeit nach das sogenannte Kuliproblem, aus das Johannes von Imsen
erst kürzlich in seinen lange nicht genug beachteten Briefen aus Ostasten so ein¬
dringlich hinwies, am ehesten zu einer Lösung drängen.

Es ist ja nun nicht anzunehmen, daß die Norweger und die Schweden zu
dem äußersten Mittel der Einführung von Chinesen zur Bestellung ihrer Felder,
zur Bemannung ihrer Fischerboote und zur Anlage ihrer Verbindungsmittel
greifen werden, vielmehr ist es wahrscheinlicher, daß sie zu dem Mittel greifen
werden, das man in Deutschland seit Jahren anwendet, das man in Dänemark
nach und nach auch benutzt und zu dem man in Südschweden bereits zu greifen
beginnt: nämlich zur Einfuhr slavischer Wanderarbeiter.

Was in Deutschland. England und Nordamerika aber ohne katastrophale
Wirkung für die politische Zukunft des Landes geschehen kann, ist unendlich viel
bedenklicher in dem dünn bevölkerten und mit den eigenen Menschenkräften kaum
heraufzubringenden Norwegen und Schweden. 10 000--15 000 Wanderarbeiter
in Dänemark und in Südschweden sind wirtschaftlich vielleicht nicht gefährlicher als die
Million fremder Arbeiter in Deutschland. Die gleiche Zahl fremder Arbeiter
aber in Mittel- und Nordschweden würde zweifellos eine politische Gefahr be¬
deuten.

Deutschland hat keine nennenswerte Auswanderung und wird in abseh¬
barer Zeit auch kaum eine solche haben können. Die englische Auswanderung
richtet sich vorwiegend nach den englischen Kolonien. Einwanderung von
Arbeitskräften kann daher Norwegen und Schweden nur aus Rußland erlangen.
Heute bereits ist in Finnmarken eine langsame Zuführung russischen Blutes zu
spüren. Russische Fischer, russische Handelshäuser setzen sich mehr und mehr
dort oben fest und würden selbst ohne irgendwelche offizielle russische Beihilfe
in kurzer Zeit einfach durch das Übergewicht des an Kapital und Zahl so un¬
vergleichlich stärkeren Volkes sich einen gewissen Einfluß auf die Stimmung der
Bevölkerung in den nördlichen Landesteilen Norwegens sichern können. Ein
Blick auf die Landkarte zeigt ohne weiteres die durch die Grenzlinien bedingten
Schwierigkeiten. Werden nun aber durch eine periodische russische Einwanderung
größeren Stils da und dort in Nordnorwegen beträchtlichere Reibungsflächen
zwischen der russischen und der ursprünglichen norwegischen Bevölkerung ge¬
schaffen, so vermehren sich die Gefahren, daß Rußland im eigenen, berechtigten
Interesse einmal zum Eingreifen in norwegische Verhältnisse gezwungen sein
könnte. Hierzu kommt, daß Skandinavien in absehbarer Zeit in Rußland, trotz
des Schicksals der stammverwandten Finnländer, nicht nur den möglichen Ver-


Die Industrialisierung Skandinaviens

ertragbringend zu bewirtschaften, aber die groben Arbeiten im Kuhstall werden sie
doch naturgemäß gern mehr primitiven Naturen überlassen.

Alle germanischen Völker, Deutsche, Engländer, Skandinavier und vor allen
Dingen die Nordamerikaner entwickeln sich immer mehr zu Herrenvölkern und
brauchen in ihrem nationalen Haushalt immer dringender eine Unterklasse von
weniger individualisierten Menschen. Im äußersten Norden Europas wird aller
Wahrscheinlichkeit nach das sogenannte Kuliproblem, aus das Johannes von Imsen
erst kürzlich in seinen lange nicht genug beachteten Briefen aus Ostasten so ein¬
dringlich hinwies, am ehesten zu einer Lösung drängen.

Es ist ja nun nicht anzunehmen, daß die Norweger und die Schweden zu
dem äußersten Mittel der Einführung von Chinesen zur Bestellung ihrer Felder,
zur Bemannung ihrer Fischerboote und zur Anlage ihrer Verbindungsmittel
greifen werden, vielmehr ist es wahrscheinlicher, daß sie zu dem Mittel greifen
werden, das man in Deutschland seit Jahren anwendet, das man in Dänemark
nach und nach auch benutzt und zu dem man in Südschweden bereits zu greifen
beginnt: nämlich zur Einfuhr slavischer Wanderarbeiter.

Was in Deutschland. England und Nordamerika aber ohne katastrophale
Wirkung für die politische Zukunft des Landes geschehen kann, ist unendlich viel
bedenklicher in dem dünn bevölkerten und mit den eigenen Menschenkräften kaum
heraufzubringenden Norwegen und Schweden. 10 000—15 000 Wanderarbeiter
in Dänemark und in Südschweden sind wirtschaftlich vielleicht nicht gefährlicher als die
Million fremder Arbeiter in Deutschland. Die gleiche Zahl fremder Arbeiter
aber in Mittel- und Nordschweden würde zweifellos eine politische Gefahr be¬
deuten.

Deutschland hat keine nennenswerte Auswanderung und wird in abseh¬
barer Zeit auch kaum eine solche haben können. Die englische Auswanderung
richtet sich vorwiegend nach den englischen Kolonien. Einwanderung von
Arbeitskräften kann daher Norwegen und Schweden nur aus Rußland erlangen.
Heute bereits ist in Finnmarken eine langsame Zuführung russischen Blutes zu
spüren. Russische Fischer, russische Handelshäuser setzen sich mehr und mehr
dort oben fest und würden selbst ohne irgendwelche offizielle russische Beihilfe
in kurzer Zeit einfach durch das Übergewicht des an Kapital und Zahl so un¬
vergleichlich stärkeren Volkes sich einen gewissen Einfluß auf die Stimmung der
Bevölkerung in den nördlichen Landesteilen Norwegens sichern können. Ein
Blick auf die Landkarte zeigt ohne weiteres die durch die Grenzlinien bedingten
Schwierigkeiten. Werden nun aber durch eine periodische russische Einwanderung
größeren Stils da und dort in Nordnorwegen beträchtlichere Reibungsflächen
zwischen der russischen und der ursprünglichen norwegischen Bevölkerung ge¬
schaffen, so vermehren sich die Gefahren, daß Rußland im eigenen, berechtigten
Interesse einmal zum Eingreifen in norwegische Verhältnisse gezwungen sein
könnte. Hierzu kommt, daß Skandinavien in absehbarer Zeit in Rußland, trotz
des Schicksals der stammverwandten Finnländer, nicht nur den möglichen Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/208>, abgerufen am 22.07.2024.