Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Industrialisierung Skandinaviens

weil dort einige größere Städte über einen, wenn auch in Zukunft bei weitem
nicht ausreichenden Überschuß an Arbeitermaterial verfügen. Norwegen dagegen
dürste, wenn erst alle die großen Unternehmungen, die schon heute geplant oder
in Angriff genommen werden, verwirklicht sind, einen derartigen Bedarf an mensch¬
licher Arbeitskraft haben, daß er aus dem vorhandenen überschüssigen Material
bestimmt nicht zu decken sein wird.

Gewiß werden die Menschen sich, wie überall, auch in Skandinavien in
die Fabriksäle drängen, in die Industrie, die Massen anlockt. Aber Fischerei
undAckerbau werden dieKosten bezahlen müssen. Schon heute, wo eine Großindustrie
erst im Entstehen begriffen ist, sind bereits vielfach Klagen in der norwegischen
Presse darüber laut geworden, daß die Bemannung der norwegischen Fischer¬
boote von Tag zu Tag schwieriger vollzählig zu erhalten sei. Das gleiche, wenn
auch nicht im gleichen Umfang, gilt von der norwegischen und schwedischen
Landwirtschaft. Die Frage der Leutenot auf dem Lande, die ja eines der
schwierigsten deutschen Probleme ist, wird die Norweger voraussichtlich schon in
wenigen Jahren ebenso stark beschäftigen wie uns.

Wenn die norwegische Landwirtschaft und die norwegische Fischerei sich
nicht hin gleichen Maße wie die Industrie entwickeln, wenn sie gar zum Still¬
stand kommen sollten, werden in kurzer Zeit nicht mehr die notwendigen Mengen
von Lebensmitteln erzeugt werden können. Die Folge wäre eine außerordentlich
starke Steigerung der Lebensmittelpreise, die übrigens bereits überall in Norwegen
und Schweden eingesetzt und automatisch eine Steigerung der Arbeitslöhne zur
Folge hat, was bei den besonderen norwegischen Arbeitsverhältnissen nicht aus¬
schließen dürfte, daß die norwegische Konkurrenzfähigkeit und damit die Ent¬
wicklung der norwegischen Industrie in Frage gestellt wird. Abgesehen davon,
daß Norwegen, ähnlich wie Finnland, eine Art soziales Laboratorium für Europa
darstellt, so daß die Arbeitskonflikte dort besonders kompliziert und einschneidend
sein würden, so ist es im Hinblick auf den Charakter und die hohe Bildungs¬
stufe der drei nordgermanischen Völker wahrscheinlich, daß sich nach einiger Zeit
auch aus Gründen individueller Kulturhöhe das Bedürfnis einstellen wird, die
gröbsten mechanischen Arbeiten durch eine weniger differenzierte Nasse verrichten
zu lassen.

Die dänische Volkshochschule und überhaupt die Bildung der Bauern¬
bevölkerung hat zwar im fruchtbaren Dänemark bewirkt, daß die Methoden der
Landwirtschaft auf eine ansehnliche Höhe gebracht worden sind, wer aber die
dänischen Bauernmädchen und Bauernfrauen kennt, die durch die Volkshochschule
gegangen sind, der kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß sie wohl ein
höheres Verständnis für die Entwicklung einer rationellen Landwirtschaft gewonnen
haben, aber doch für die schwere Arbeit, die nun einmal mit der Bestellung der
Erde verbunden ist, weniger und weniger geeignet werden. Junge Damen mit
seidenen Binsen und mit gepflegten Händen, mit guten Kenntnissen in der Welt¬
literatur, können tauglicher sein, als eine derbe Bauerndirne einen Bauernhof


13*
Die Industrialisierung Skandinaviens

weil dort einige größere Städte über einen, wenn auch in Zukunft bei weitem
nicht ausreichenden Überschuß an Arbeitermaterial verfügen. Norwegen dagegen
dürste, wenn erst alle die großen Unternehmungen, die schon heute geplant oder
in Angriff genommen werden, verwirklicht sind, einen derartigen Bedarf an mensch¬
licher Arbeitskraft haben, daß er aus dem vorhandenen überschüssigen Material
bestimmt nicht zu decken sein wird.

Gewiß werden die Menschen sich, wie überall, auch in Skandinavien in
die Fabriksäle drängen, in die Industrie, die Massen anlockt. Aber Fischerei
undAckerbau werden dieKosten bezahlen müssen. Schon heute, wo eine Großindustrie
erst im Entstehen begriffen ist, sind bereits vielfach Klagen in der norwegischen
Presse darüber laut geworden, daß die Bemannung der norwegischen Fischer¬
boote von Tag zu Tag schwieriger vollzählig zu erhalten sei. Das gleiche, wenn
auch nicht im gleichen Umfang, gilt von der norwegischen und schwedischen
Landwirtschaft. Die Frage der Leutenot auf dem Lande, die ja eines der
schwierigsten deutschen Probleme ist, wird die Norweger voraussichtlich schon in
wenigen Jahren ebenso stark beschäftigen wie uns.

Wenn die norwegische Landwirtschaft und die norwegische Fischerei sich
nicht hin gleichen Maße wie die Industrie entwickeln, wenn sie gar zum Still¬
stand kommen sollten, werden in kurzer Zeit nicht mehr die notwendigen Mengen
von Lebensmitteln erzeugt werden können. Die Folge wäre eine außerordentlich
starke Steigerung der Lebensmittelpreise, die übrigens bereits überall in Norwegen
und Schweden eingesetzt und automatisch eine Steigerung der Arbeitslöhne zur
Folge hat, was bei den besonderen norwegischen Arbeitsverhältnissen nicht aus¬
schließen dürfte, daß die norwegische Konkurrenzfähigkeit und damit die Ent¬
wicklung der norwegischen Industrie in Frage gestellt wird. Abgesehen davon,
daß Norwegen, ähnlich wie Finnland, eine Art soziales Laboratorium für Europa
darstellt, so daß die Arbeitskonflikte dort besonders kompliziert und einschneidend
sein würden, so ist es im Hinblick auf den Charakter und die hohe Bildungs¬
stufe der drei nordgermanischen Völker wahrscheinlich, daß sich nach einiger Zeit
auch aus Gründen individueller Kulturhöhe das Bedürfnis einstellen wird, die
gröbsten mechanischen Arbeiten durch eine weniger differenzierte Nasse verrichten
zu lassen.

Die dänische Volkshochschule und überhaupt die Bildung der Bauern¬
bevölkerung hat zwar im fruchtbaren Dänemark bewirkt, daß die Methoden der
Landwirtschaft auf eine ansehnliche Höhe gebracht worden sind, wer aber die
dänischen Bauernmädchen und Bauernfrauen kennt, die durch die Volkshochschule
gegangen sind, der kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß sie wohl ein
höheres Verständnis für die Entwicklung einer rationellen Landwirtschaft gewonnen
haben, aber doch für die schwere Arbeit, die nun einmal mit der Bestellung der
Erde verbunden ist, weniger und weniger geeignet werden. Junge Damen mit
seidenen Binsen und mit gepflegten Händen, mit guten Kenntnissen in der Welt¬
literatur, können tauglicher sein, als eine derbe Bauerndirne einen Bauernhof


13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327019"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Industrialisierung Skandinaviens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_769" prev="#ID_768"> weil dort einige größere Städte über einen, wenn auch in Zukunft bei weitem<lb/>
nicht ausreichenden Überschuß an Arbeitermaterial verfügen. Norwegen dagegen<lb/>
dürste, wenn erst alle die großen Unternehmungen, die schon heute geplant oder<lb/>
in Angriff genommen werden, verwirklicht sind, einen derartigen Bedarf an mensch¬<lb/>
licher Arbeitskraft haben, daß er aus dem vorhandenen überschüssigen Material<lb/>
bestimmt nicht zu decken sein wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_770"> Gewiß werden die Menschen sich, wie überall, auch in Skandinavien in<lb/>
die Fabriksäle drängen, in die Industrie, die Massen anlockt. Aber Fischerei<lb/>
undAckerbau werden dieKosten bezahlen müssen. Schon heute, wo eine Großindustrie<lb/>
erst im Entstehen begriffen ist, sind bereits vielfach Klagen in der norwegischen<lb/>
Presse darüber laut geworden, daß die Bemannung der norwegischen Fischer¬<lb/>
boote von Tag zu Tag schwieriger vollzählig zu erhalten sei. Das gleiche, wenn<lb/>
auch nicht im gleichen Umfang, gilt von der norwegischen und schwedischen<lb/>
Landwirtschaft. Die Frage der Leutenot auf dem Lande, die ja eines der<lb/>
schwierigsten deutschen Probleme ist, wird die Norweger voraussichtlich schon in<lb/>
wenigen Jahren ebenso stark beschäftigen wie uns.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_771"> Wenn die norwegische Landwirtschaft und die norwegische Fischerei sich<lb/>
nicht hin gleichen Maße wie die Industrie entwickeln, wenn sie gar zum Still¬<lb/>
stand kommen sollten, werden in kurzer Zeit nicht mehr die notwendigen Mengen<lb/>
von Lebensmitteln erzeugt werden können. Die Folge wäre eine außerordentlich<lb/>
starke Steigerung der Lebensmittelpreise, die übrigens bereits überall in Norwegen<lb/>
und Schweden eingesetzt und automatisch eine Steigerung der Arbeitslöhne zur<lb/>
Folge hat, was bei den besonderen norwegischen Arbeitsverhältnissen nicht aus¬<lb/>
schließen dürfte, daß die norwegische Konkurrenzfähigkeit und damit die Ent¬<lb/>
wicklung der norwegischen Industrie in Frage gestellt wird. Abgesehen davon,<lb/>
daß Norwegen, ähnlich wie Finnland, eine Art soziales Laboratorium für Europa<lb/>
darstellt, so daß die Arbeitskonflikte dort besonders kompliziert und einschneidend<lb/>
sein würden, so ist es im Hinblick auf den Charakter und die hohe Bildungs¬<lb/>
stufe der drei nordgermanischen Völker wahrscheinlich, daß sich nach einiger Zeit<lb/>
auch aus Gründen individueller Kulturhöhe das Bedürfnis einstellen wird, die<lb/>
gröbsten mechanischen Arbeiten durch eine weniger differenzierte Nasse verrichten<lb/>
zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_772" next="#ID_773"> Die dänische Volkshochschule und überhaupt die Bildung der Bauern¬<lb/>
bevölkerung hat zwar im fruchtbaren Dänemark bewirkt, daß die Methoden der<lb/>
Landwirtschaft auf eine ansehnliche Höhe gebracht worden sind, wer aber die<lb/>
dänischen Bauernmädchen und Bauernfrauen kennt, die durch die Volkshochschule<lb/>
gegangen sind, der kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß sie wohl ein<lb/>
höheres Verständnis für die Entwicklung einer rationellen Landwirtschaft gewonnen<lb/>
haben, aber doch für die schwere Arbeit, die nun einmal mit der Bestellung der<lb/>
Erde verbunden ist, weniger und weniger geeignet werden. Junge Damen mit<lb/>
seidenen Binsen und mit gepflegten Händen, mit guten Kenntnissen in der Welt¬<lb/>
literatur, können tauglicher sein, als eine derbe Bauerndirne einen Bauernhof</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 13*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0207] Die Industrialisierung Skandinaviens weil dort einige größere Städte über einen, wenn auch in Zukunft bei weitem nicht ausreichenden Überschuß an Arbeitermaterial verfügen. Norwegen dagegen dürste, wenn erst alle die großen Unternehmungen, die schon heute geplant oder in Angriff genommen werden, verwirklicht sind, einen derartigen Bedarf an mensch¬ licher Arbeitskraft haben, daß er aus dem vorhandenen überschüssigen Material bestimmt nicht zu decken sein wird. Gewiß werden die Menschen sich, wie überall, auch in Skandinavien in die Fabriksäle drängen, in die Industrie, die Massen anlockt. Aber Fischerei undAckerbau werden dieKosten bezahlen müssen. Schon heute, wo eine Großindustrie erst im Entstehen begriffen ist, sind bereits vielfach Klagen in der norwegischen Presse darüber laut geworden, daß die Bemannung der norwegischen Fischer¬ boote von Tag zu Tag schwieriger vollzählig zu erhalten sei. Das gleiche, wenn auch nicht im gleichen Umfang, gilt von der norwegischen und schwedischen Landwirtschaft. Die Frage der Leutenot auf dem Lande, die ja eines der schwierigsten deutschen Probleme ist, wird die Norweger voraussichtlich schon in wenigen Jahren ebenso stark beschäftigen wie uns. Wenn die norwegische Landwirtschaft und die norwegische Fischerei sich nicht hin gleichen Maße wie die Industrie entwickeln, wenn sie gar zum Still¬ stand kommen sollten, werden in kurzer Zeit nicht mehr die notwendigen Mengen von Lebensmitteln erzeugt werden können. Die Folge wäre eine außerordentlich starke Steigerung der Lebensmittelpreise, die übrigens bereits überall in Norwegen und Schweden eingesetzt und automatisch eine Steigerung der Arbeitslöhne zur Folge hat, was bei den besonderen norwegischen Arbeitsverhältnissen nicht aus¬ schließen dürfte, daß die norwegische Konkurrenzfähigkeit und damit die Ent¬ wicklung der norwegischen Industrie in Frage gestellt wird. Abgesehen davon, daß Norwegen, ähnlich wie Finnland, eine Art soziales Laboratorium für Europa darstellt, so daß die Arbeitskonflikte dort besonders kompliziert und einschneidend sein würden, so ist es im Hinblick auf den Charakter und die hohe Bildungs¬ stufe der drei nordgermanischen Völker wahrscheinlich, daß sich nach einiger Zeit auch aus Gründen individueller Kulturhöhe das Bedürfnis einstellen wird, die gröbsten mechanischen Arbeiten durch eine weniger differenzierte Nasse verrichten zu lassen. Die dänische Volkshochschule und überhaupt die Bildung der Bauern¬ bevölkerung hat zwar im fruchtbaren Dänemark bewirkt, daß die Methoden der Landwirtschaft auf eine ansehnliche Höhe gebracht worden sind, wer aber die dänischen Bauernmädchen und Bauernfrauen kennt, die durch die Volkshochschule gegangen sind, der kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß sie wohl ein höheres Verständnis für die Entwicklung einer rationellen Landwirtschaft gewonnen haben, aber doch für die schwere Arbeit, die nun einmal mit der Bestellung der Erde verbunden ist, weniger und weniger geeignet werden. Junge Damen mit seidenen Binsen und mit gepflegten Händen, mit guten Kenntnissen in der Welt¬ literatur, können tauglicher sein, als eine derbe Bauerndirne einen Bauernhof 13*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/207
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/207>, abgerufen am 22.07.2024.