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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Industrialisierung Skandinaviens

nügende natürliche Volksvermehrung nicht zu denken. Daß eine Eindämmung
der Auswanderung aber in absehbarer Zeit möglich sein wird, scheint deshalb
nicht wahrscheinlich, weil die skandinavische Auswanderung, ganz anders als
die südeuropäische, neben einer Reihe von wirtschaftlichen Gründen auch psycho¬
logische Ursachen hat, die sich nicht ausschalten lassen, weil sie mit dem Besten,
was in diesen Völkern lebendig ist, unlösbar verbunden sind. Der uralte
germanische Wandertrieb, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach anderer
Sonne und anderen Verhältnissen, ein primitiver Forscherdrang, der in den
Leistungen der Amundsen und Hedin zur höchsten Entfaltung gekommen ist,
lebt im ganzen Volke und wird, auch wenn in der Heimat an allen Ecken und
Enden die Arbeit ruft, die Massen doch zu Zehntausenden aus ihren Nebel¬
heimen in die unbekannte, immer verlockend erscheinende Ferne rufen. Der
Norden wird auch dann hart und einsam bleiben und jeder Winter, in Nacht
und Eis verlebt, wird Zehntausenden die Wanderlust in die Adern impfen und
sie in die Fremde treiben, wenn überall an den Fjorden und an den Bergseen
die Schlote der Fabriken rauchen werden. Auch die Hoffnung auf etwaige
nordische Rückwanderer aus den Vereinigten Staaten sollte nur mit der größten
Vorsicht in Betracht gezogen werden. Wenn auch ein paar tausend armer er¬
folgloser und verbitterter Menschen, die in den Staaten auf keinen grünen
Zweig kommen konnten, sich entschließen würden, in den heimischen Fabriken
wieder Arbeit zu suchen, so würde doch den Hunderttausenden von Skandinaviern
der Vereinigten Staaten die Wiedereinfügung in die herrischen Verhältnisse
unmöglich sein. Sie gehen dein Mutterlande ebenso verloren wie Millionen
von Deutschen und Millionen von Engländern.

Die amerikanische Entwicklung ist ausschließlich durch die ungeheure Ein¬
wanderung von Menschen und von Kapitalien ermöglicht worden, die durch
zahlreiche Saugarme herangezogen wurden. Die skandinavische Entwicklung,
die im gleichen Tempo eingesetzt hat, macht bis zum heutigen Tage den Versuch,
ohne diese Faktoren auszukommen.

Man hat sich in Skandinavien dauernd mit dem Problem der Zähmung
und Unschädlichmachung des fremden Kapitals beschäftigt, ohne das an eine
industrielle Erschließung des Landes nicht zu denken war. Man fürchtete sich
oft in etwas naiver Weise vor der Übermacht des fremden Kapitalismus und
ist erst in letzter Zeit zu einer etwas ruhigeren und klareren Auffassung gelangt.
Man hat eingesehen, daß eine gut kontingentierte Zulassung fremden Kapitals
das beste Mittel zur Schaffung eigener Kapitalien ist.

Das andere Problem aber, die Frage der Beschaffung der notwendigen
Arbeitskräfte, das weit gefährlicher und weit komplizierter ist und von dessen
Lösung das zukünftige Schicksal Skandinaviens in einem sehr hohen Grade ab¬
hängig sein wird, ist bisher nur sehr vereinzelt und sehr selten mit dem vollen
Gefühl für seine große Tragweite in ernsthafte Erwägung gezogen worden. In
Schweden ist die Arbeiterfrage für den Augenblick etwas weniger drängend,


Die Industrialisierung Skandinaviens

nügende natürliche Volksvermehrung nicht zu denken. Daß eine Eindämmung
der Auswanderung aber in absehbarer Zeit möglich sein wird, scheint deshalb
nicht wahrscheinlich, weil die skandinavische Auswanderung, ganz anders als
die südeuropäische, neben einer Reihe von wirtschaftlichen Gründen auch psycho¬
logische Ursachen hat, die sich nicht ausschalten lassen, weil sie mit dem Besten,
was in diesen Völkern lebendig ist, unlösbar verbunden sind. Der uralte
germanische Wandertrieb, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach anderer
Sonne und anderen Verhältnissen, ein primitiver Forscherdrang, der in den
Leistungen der Amundsen und Hedin zur höchsten Entfaltung gekommen ist,
lebt im ganzen Volke und wird, auch wenn in der Heimat an allen Ecken und
Enden die Arbeit ruft, die Massen doch zu Zehntausenden aus ihren Nebel¬
heimen in die unbekannte, immer verlockend erscheinende Ferne rufen. Der
Norden wird auch dann hart und einsam bleiben und jeder Winter, in Nacht
und Eis verlebt, wird Zehntausenden die Wanderlust in die Adern impfen und
sie in die Fremde treiben, wenn überall an den Fjorden und an den Bergseen
die Schlote der Fabriken rauchen werden. Auch die Hoffnung auf etwaige
nordische Rückwanderer aus den Vereinigten Staaten sollte nur mit der größten
Vorsicht in Betracht gezogen werden. Wenn auch ein paar tausend armer er¬
folgloser und verbitterter Menschen, die in den Staaten auf keinen grünen
Zweig kommen konnten, sich entschließen würden, in den heimischen Fabriken
wieder Arbeit zu suchen, so würde doch den Hunderttausenden von Skandinaviern
der Vereinigten Staaten die Wiedereinfügung in die herrischen Verhältnisse
unmöglich sein. Sie gehen dein Mutterlande ebenso verloren wie Millionen
von Deutschen und Millionen von Engländern.

Die amerikanische Entwicklung ist ausschließlich durch die ungeheure Ein¬
wanderung von Menschen und von Kapitalien ermöglicht worden, die durch
zahlreiche Saugarme herangezogen wurden. Die skandinavische Entwicklung,
die im gleichen Tempo eingesetzt hat, macht bis zum heutigen Tage den Versuch,
ohne diese Faktoren auszukommen.

Man hat sich in Skandinavien dauernd mit dem Problem der Zähmung
und Unschädlichmachung des fremden Kapitals beschäftigt, ohne das an eine
industrielle Erschließung des Landes nicht zu denken war. Man fürchtete sich
oft in etwas naiver Weise vor der Übermacht des fremden Kapitalismus und
ist erst in letzter Zeit zu einer etwas ruhigeren und klareren Auffassung gelangt.
Man hat eingesehen, daß eine gut kontingentierte Zulassung fremden Kapitals
das beste Mittel zur Schaffung eigener Kapitalien ist.

Das andere Problem aber, die Frage der Beschaffung der notwendigen
Arbeitskräfte, das weit gefährlicher und weit komplizierter ist und von dessen
Lösung das zukünftige Schicksal Skandinaviens in einem sehr hohen Grade ab¬
hängig sein wird, ist bisher nur sehr vereinzelt und sehr selten mit dem vollen
Gefühl für seine große Tragweite in ernsthafte Erwägung gezogen worden. In
Schweden ist die Arbeiterfrage für den Augenblick etwas weniger drängend,


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[0206] Die Industrialisierung Skandinaviens nügende natürliche Volksvermehrung nicht zu denken. Daß eine Eindämmung der Auswanderung aber in absehbarer Zeit möglich sein wird, scheint deshalb nicht wahrscheinlich, weil die skandinavische Auswanderung, ganz anders als die südeuropäische, neben einer Reihe von wirtschaftlichen Gründen auch psycho¬ logische Ursachen hat, die sich nicht ausschalten lassen, weil sie mit dem Besten, was in diesen Völkern lebendig ist, unlösbar verbunden sind. Der uralte germanische Wandertrieb, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach anderer Sonne und anderen Verhältnissen, ein primitiver Forscherdrang, der in den Leistungen der Amundsen und Hedin zur höchsten Entfaltung gekommen ist, lebt im ganzen Volke und wird, auch wenn in der Heimat an allen Ecken und Enden die Arbeit ruft, die Massen doch zu Zehntausenden aus ihren Nebel¬ heimen in die unbekannte, immer verlockend erscheinende Ferne rufen. Der Norden wird auch dann hart und einsam bleiben und jeder Winter, in Nacht und Eis verlebt, wird Zehntausenden die Wanderlust in die Adern impfen und sie in die Fremde treiben, wenn überall an den Fjorden und an den Bergseen die Schlote der Fabriken rauchen werden. Auch die Hoffnung auf etwaige nordische Rückwanderer aus den Vereinigten Staaten sollte nur mit der größten Vorsicht in Betracht gezogen werden. Wenn auch ein paar tausend armer er¬ folgloser und verbitterter Menschen, die in den Staaten auf keinen grünen Zweig kommen konnten, sich entschließen würden, in den heimischen Fabriken wieder Arbeit zu suchen, so würde doch den Hunderttausenden von Skandinaviern der Vereinigten Staaten die Wiedereinfügung in die herrischen Verhältnisse unmöglich sein. Sie gehen dein Mutterlande ebenso verloren wie Millionen von Deutschen und Millionen von Engländern. Die amerikanische Entwicklung ist ausschließlich durch die ungeheure Ein¬ wanderung von Menschen und von Kapitalien ermöglicht worden, die durch zahlreiche Saugarme herangezogen wurden. Die skandinavische Entwicklung, die im gleichen Tempo eingesetzt hat, macht bis zum heutigen Tage den Versuch, ohne diese Faktoren auszukommen. Man hat sich in Skandinavien dauernd mit dem Problem der Zähmung und Unschädlichmachung des fremden Kapitals beschäftigt, ohne das an eine industrielle Erschließung des Landes nicht zu denken war. Man fürchtete sich oft in etwas naiver Weise vor der Übermacht des fremden Kapitalismus und ist erst in letzter Zeit zu einer etwas ruhigeren und klareren Auffassung gelangt. Man hat eingesehen, daß eine gut kontingentierte Zulassung fremden Kapitals das beste Mittel zur Schaffung eigener Kapitalien ist. Das andere Problem aber, die Frage der Beschaffung der notwendigen Arbeitskräfte, das weit gefährlicher und weit komplizierter ist und von dessen Lösung das zukünftige Schicksal Skandinaviens in einem sehr hohen Grade ab¬ hängig sein wird, ist bisher nur sehr vereinzelt und sehr selten mit dem vollen Gefühl für seine große Tragweite in ernsthafte Erwägung gezogen worden. In Schweden ist die Arbeiterfrage für den Augenblick etwas weniger drängend,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/206>, abgerufen am 22.07.2024.