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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ronrad Ferdinand Meyer, der Novellist

Reize oder auf seichte Unterhaltung eingestellt ist. Meyer ist kein Poet für die
Masse. Er erwartet von ihr auch kein Verständnis. Er spricht es lächelnd
aus, daß "ganze Bevölkerungen" seine Novelle "Der Schuß von der Kanzel"
gelesen haben -- "natürlich ohne sie zu verstehen". Er weiß es von seinen
Sachen, wie Goethe es von den seinigen wußte: daß sie nicht populär werden
können.

Die dem Novellisten Konrad Ferdinand Meyer eigene Formvollendung
hängt nicht zuletzt mit seinem späten Erwachen zusammen: der Dichter war
bereits ein stattlicher Vierziger, als er mit seinem ersten größeren und durch¬
schlagenden Werk hervortrat. Ein einzig dastehender Fall von Spätreife. Wie
aber spätreifende Früchte oft die geratensten sind, so war gleich dem ersten Kinde
der Meyerschen Muse eine äußere und innere Vollkommenheit und Aus-
getragenheit zu eigen, die es von den Wildlingen sonstiger poetischer Erst¬
geburten vorteilhaft unterschied. Das machte: die Zeit des Tragens und stillen
Ausreifens war bei Meyer gleichzeitig eine Zeit notgedrungener Schweigsamkeit.
Er tat den Dichtermund nicht auf, solange er noch nicht den vollen, starken
Ton in sich erklingen hörte, der mit Naturgewalt sich auf die Lippe drängt --
und so trat er als ein Vollendeter auf den Plan, als seine Stunde endlich ge¬
kommen war.

Aber die vollendet geprägte Form der Meyerschen Novellen hat -- sein
angeborenes Dichtertalent, das dabei natürlich stets das Entscheidende ist, bei¬
seite gelassen -- hierneben noch eine besondere Ursache. Der Dichter verfügt
über einen eminenten Kunstverstand und überläßt diesem bei seinem Schaffen
die Führung. Daher die Eigentümlichkeiten seiner so überaus starken Stili¬
sierung: die epigrammatische, mehr andeutende als ausmalende Kürze in der
Dialogisierung und Charakterisierung, ja selbst in der Natur- und Zustands¬
schilderung: der strenge und energische Aufbau in der Komposition; das geist¬
volle Spiel mit symbolistischer Parallelisierung; die Vorliebe für die sogenannte
Rahmenerzählung, die die Begebenheit, anstatt sie selbst vorzutragen, einer
historischen oder beliebig erfundenen Person in den Mund legt und den Leser
so vor zweierlei Tableaus stellt, das der Novelle und das des Zuhörerkreises
-- alles Eigentümlichkeiten, die man Meyer wohl als "künstlich zubereitete
Wirkungen", als "Manier" und "Artisterei" vorgeworfen hat. Worauf dann
der Meister, der wohl wußte, daß seine Art von Kunstschaffen an seine reflexive
Ader gebunden war, mit gutem Recht antwortete: diese Stilisierungskünste
müßten ihm wohl "im Blute stecken" und seien daher "ganz instinktiv". -- Außer
dem Kunstverstand, der sich im Durchdenken des komplizierten Werkes, also vor
der eigentlichen Gestaltung, bei Meyer tätig erweist -- er "zerdenkt" sich fast an
seinen Stoffen --, ist die Formvollendung seiner Werke aber auch der treu¬
geübten poetischen Kleinarbeit zuzuschreiben, der er sich nach der Herausstellung
der Dichtung mit beharrlichem Eifer hingibt. Wie bei Heine, so spielt auch in
Meyers Kunstschaffen die Überfeilung des Werkes eine bedeutende Rolle. Eine


Ronrad Ferdinand Meyer, der Novellist

Reize oder auf seichte Unterhaltung eingestellt ist. Meyer ist kein Poet für die
Masse. Er erwartet von ihr auch kein Verständnis. Er spricht es lächelnd
aus, daß „ganze Bevölkerungen" seine Novelle „Der Schuß von der Kanzel"
gelesen haben — „natürlich ohne sie zu verstehen". Er weiß es von seinen
Sachen, wie Goethe es von den seinigen wußte: daß sie nicht populär werden
können.

Die dem Novellisten Konrad Ferdinand Meyer eigene Formvollendung
hängt nicht zuletzt mit seinem späten Erwachen zusammen: der Dichter war
bereits ein stattlicher Vierziger, als er mit seinem ersten größeren und durch¬
schlagenden Werk hervortrat. Ein einzig dastehender Fall von Spätreife. Wie
aber spätreifende Früchte oft die geratensten sind, so war gleich dem ersten Kinde
der Meyerschen Muse eine äußere und innere Vollkommenheit und Aus-
getragenheit zu eigen, die es von den Wildlingen sonstiger poetischer Erst¬
geburten vorteilhaft unterschied. Das machte: die Zeit des Tragens und stillen
Ausreifens war bei Meyer gleichzeitig eine Zeit notgedrungener Schweigsamkeit.
Er tat den Dichtermund nicht auf, solange er noch nicht den vollen, starken
Ton in sich erklingen hörte, der mit Naturgewalt sich auf die Lippe drängt —
und so trat er als ein Vollendeter auf den Plan, als seine Stunde endlich ge¬
kommen war.

Aber die vollendet geprägte Form der Meyerschen Novellen hat — sein
angeborenes Dichtertalent, das dabei natürlich stets das Entscheidende ist, bei¬
seite gelassen — hierneben noch eine besondere Ursache. Der Dichter verfügt
über einen eminenten Kunstverstand und überläßt diesem bei seinem Schaffen
die Führung. Daher die Eigentümlichkeiten seiner so überaus starken Stili¬
sierung: die epigrammatische, mehr andeutende als ausmalende Kürze in der
Dialogisierung und Charakterisierung, ja selbst in der Natur- und Zustands¬
schilderung: der strenge und energische Aufbau in der Komposition; das geist¬
volle Spiel mit symbolistischer Parallelisierung; die Vorliebe für die sogenannte
Rahmenerzählung, die die Begebenheit, anstatt sie selbst vorzutragen, einer
historischen oder beliebig erfundenen Person in den Mund legt und den Leser
so vor zweierlei Tableaus stellt, das der Novelle und das des Zuhörerkreises
— alles Eigentümlichkeiten, die man Meyer wohl als „künstlich zubereitete
Wirkungen", als „Manier" und „Artisterei" vorgeworfen hat. Worauf dann
der Meister, der wohl wußte, daß seine Art von Kunstschaffen an seine reflexive
Ader gebunden war, mit gutem Recht antwortete: diese Stilisierungskünste
müßten ihm wohl „im Blute stecken" und seien daher „ganz instinktiv". — Außer
dem Kunstverstand, der sich im Durchdenken des komplizierten Werkes, also vor
der eigentlichen Gestaltung, bei Meyer tätig erweist — er „zerdenkt" sich fast an
seinen Stoffen —, ist die Formvollendung seiner Werke aber auch der treu¬
geübten poetischen Kleinarbeit zuzuschreiben, der er sich nach der Herausstellung
der Dichtung mit beharrlichem Eifer hingibt. Wie bei Heine, so spielt auch in
Meyers Kunstschaffen die Überfeilung des Werkes eine bedeutende Rolle. Eine


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[0174] Ronrad Ferdinand Meyer, der Novellist Reize oder auf seichte Unterhaltung eingestellt ist. Meyer ist kein Poet für die Masse. Er erwartet von ihr auch kein Verständnis. Er spricht es lächelnd aus, daß „ganze Bevölkerungen" seine Novelle „Der Schuß von der Kanzel" gelesen haben — „natürlich ohne sie zu verstehen". Er weiß es von seinen Sachen, wie Goethe es von den seinigen wußte: daß sie nicht populär werden können. Die dem Novellisten Konrad Ferdinand Meyer eigene Formvollendung hängt nicht zuletzt mit seinem späten Erwachen zusammen: der Dichter war bereits ein stattlicher Vierziger, als er mit seinem ersten größeren und durch¬ schlagenden Werk hervortrat. Ein einzig dastehender Fall von Spätreife. Wie aber spätreifende Früchte oft die geratensten sind, so war gleich dem ersten Kinde der Meyerschen Muse eine äußere und innere Vollkommenheit und Aus- getragenheit zu eigen, die es von den Wildlingen sonstiger poetischer Erst¬ geburten vorteilhaft unterschied. Das machte: die Zeit des Tragens und stillen Ausreifens war bei Meyer gleichzeitig eine Zeit notgedrungener Schweigsamkeit. Er tat den Dichtermund nicht auf, solange er noch nicht den vollen, starken Ton in sich erklingen hörte, der mit Naturgewalt sich auf die Lippe drängt — und so trat er als ein Vollendeter auf den Plan, als seine Stunde endlich ge¬ kommen war. Aber die vollendet geprägte Form der Meyerschen Novellen hat — sein angeborenes Dichtertalent, das dabei natürlich stets das Entscheidende ist, bei¬ seite gelassen — hierneben noch eine besondere Ursache. Der Dichter verfügt über einen eminenten Kunstverstand und überläßt diesem bei seinem Schaffen die Führung. Daher die Eigentümlichkeiten seiner so überaus starken Stili¬ sierung: die epigrammatische, mehr andeutende als ausmalende Kürze in der Dialogisierung und Charakterisierung, ja selbst in der Natur- und Zustands¬ schilderung: der strenge und energische Aufbau in der Komposition; das geist¬ volle Spiel mit symbolistischer Parallelisierung; die Vorliebe für die sogenannte Rahmenerzählung, die die Begebenheit, anstatt sie selbst vorzutragen, einer historischen oder beliebig erfundenen Person in den Mund legt und den Leser so vor zweierlei Tableaus stellt, das der Novelle und das des Zuhörerkreises — alles Eigentümlichkeiten, die man Meyer wohl als „künstlich zubereitete Wirkungen", als „Manier" und „Artisterei" vorgeworfen hat. Worauf dann der Meister, der wohl wußte, daß seine Art von Kunstschaffen an seine reflexive Ader gebunden war, mit gutem Recht antwortete: diese Stilisierungskünste müßten ihm wohl „im Blute stecken" und seien daher „ganz instinktiv". — Außer dem Kunstverstand, der sich im Durchdenken des komplizierten Werkes, also vor der eigentlichen Gestaltung, bei Meyer tätig erweist — er „zerdenkt" sich fast an seinen Stoffen —, ist die Formvollendung seiner Werke aber auch der treu¬ geübten poetischen Kleinarbeit zuzuschreiben, der er sich nach der Herausstellung der Dichtung mit beharrlichem Eifer hingibt. Wie bei Heine, so spielt auch in Meyers Kunstschaffen die Überfeilung des Werkes eine bedeutende Rolle. Eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/174>, abgerufen am 24.08.2024.