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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ritualmord und Blutaberglaubc

und dennoch lassen sich, wie die Untersuchungen über den kriminellen Aber¬
glauben klar ergeben haben, auch bei den Juden Anschauungen nachweisen,
die unter Beobachtung gewisser Zeremonien einen Meineid für geradezu erlaubt
halten. Wenn solche mystischen Meineidszeremonien trotz des Verbotes des
Meineids im Religionsgesetz auch bei den Juden vorkommen, ja teilweise sogar
auf manche unklaren, mißverstandenen Stellen der Neligionsgesetze zurückgeführt
werden, so ist nicht recht einzusehen, weshalb nicht auch trotz des Verbotes des
Blutgenusses sich abergläubische Juden finden sollten, welche dem Blutaberglauben
huldigen und vielleicht sogar der einen oder anderen von ihnen falsch inter¬
pretierten Stelle des Talmud oder andrer religiöser Schriften eine Bestätigung
ihres Aberglaubens entnehmen könnten.

Fälle, wo religiöse Anschauungen von Abergläubischen verkannt und in
ihrem Sinne umgedeutet werden, finden wir sowohl bei den Juden als auch
bei den Völkern christlicher Religionen. Man hat in neuerer Zeit überaus
zahlreiche Belege für eine gewisse Religiosität gar vieler Verbrecher gesammelt,
und dabei die Feststellung gemacht, daß die Verbrecher ihren religiösen An¬
schauungen vielfach eine gewisse Rechtfertigung ihres Tuns entnehmen, daß sie
zu Gott oder zu den Heiligen um den Erfolg ihres Unternehmens beten,
sorgsam alle kirchlichen Gebote beachten, durch kirchliche Amulette sich den Segen
des Himmels zu sichern glauben, regelmäßig zur Beichte gehen usw. Ich wiederhole
also: Es handelt sich auch hier um eine universale Erscheinung, die sich bei
Christen sowohl wie bei Juden, bei Semiten sowohl wie bei Germanen, Romanen
und Slaven findet.

Man wird entgegenhalten, daß doch in der Tat in mehr als einem Fall
in früherer Zeit der Angeklagte des Ritualmordes schuldig befunden sei. Die
früheren Verurteilungen beweisen hier ebensowenig wie die zahllosen Verur¬
teilungen wegen Hexerei das tatsächliche Vorkommen der Hexerei beweisen.
In den neueren Fällen, die wir schon öfters erwähnt haben, ist außerdem mit
Sicherheit erwiesen, daß der Angeklagte eines Motdes aus Blutaberglauben
nicht schuldig gewesen ist. Hieraus ergibt sich auch meine Stellung zu dem
Beilisprozeß, der ja den Anlaß zu den vorstehenden Erörterungen gegeben hat:
Daß es sich hier um einen Ritualmord durch Belus oder einen anderen Juden
handelt, ist ausgeschlossen; wohl aber muß mit der Möglichkeit gerechnet werden,
daß der Angeklagte oder ein Unbekannter einen Mord aus Blutaberglauben
begangen hat. Auch im zwanzigsten Jahrhundert muß man immer noch mit der
Möglichkeit rechnen, daß ein Mord aus diesen Motiven vor die Schranken des
Gerichts kommt. Wer weiß, wie außerordentlich lebenskräftig der Aberglaube auch in
seinen gefährlichsten Formen noch heutzutage ist, wem bekannt ist, daß auch in den
letzten Jahrzehnten noch Leichenschändungen aus Talismanglauben, schwere
Mißhandlungen angeblicher Hexen oder Gespenster, Mordtaten aus Hexen¬
glauben, oder um sich einen Talismanu zu verschaffen, vorgekommen sind,
der wird im Ernst die Möglichkeit nicht abstreiten können, daß auch der


Ritualmord und Blutaberglaubc

und dennoch lassen sich, wie die Untersuchungen über den kriminellen Aber¬
glauben klar ergeben haben, auch bei den Juden Anschauungen nachweisen,
die unter Beobachtung gewisser Zeremonien einen Meineid für geradezu erlaubt
halten. Wenn solche mystischen Meineidszeremonien trotz des Verbotes des
Meineids im Religionsgesetz auch bei den Juden vorkommen, ja teilweise sogar
auf manche unklaren, mißverstandenen Stellen der Neligionsgesetze zurückgeführt
werden, so ist nicht recht einzusehen, weshalb nicht auch trotz des Verbotes des
Blutgenusses sich abergläubische Juden finden sollten, welche dem Blutaberglauben
huldigen und vielleicht sogar der einen oder anderen von ihnen falsch inter¬
pretierten Stelle des Talmud oder andrer religiöser Schriften eine Bestätigung
ihres Aberglaubens entnehmen könnten.

Fälle, wo religiöse Anschauungen von Abergläubischen verkannt und in
ihrem Sinne umgedeutet werden, finden wir sowohl bei den Juden als auch
bei den Völkern christlicher Religionen. Man hat in neuerer Zeit überaus
zahlreiche Belege für eine gewisse Religiosität gar vieler Verbrecher gesammelt,
und dabei die Feststellung gemacht, daß die Verbrecher ihren religiösen An¬
schauungen vielfach eine gewisse Rechtfertigung ihres Tuns entnehmen, daß sie
zu Gott oder zu den Heiligen um den Erfolg ihres Unternehmens beten,
sorgsam alle kirchlichen Gebote beachten, durch kirchliche Amulette sich den Segen
des Himmels zu sichern glauben, regelmäßig zur Beichte gehen usw. Ich wiederhole
also: Es handelt sich auch hier um eine universale Erscheinung, die sich bei
Christen sowohl wie bei Juden, bei Semiten sowohl wie bei Germanen, Romanen
und Slaven findet.

Man wird entgegenhalten, daß doch in der Tat in mehr als einem Fall
in früherer Zeit der Angeklagte des Ritualmordes schuldig befunden sei. Die
früheren Verurteilungen beweisen hier ebensowenig wie die zahllosen Verur¬
teilungen wegen Hexerei das tatsächliche Vorkommen der Hexerei beweisen.
In den neueren Fällen, die wir schon öfters erwähnt haben, ist außerdem mit
Sicherheit erwiesen, daß der Angeklagte eines Motdes aus Blutaberglauben
nicht schuldig gewesen ist. Hieraus ergibt sich auch meine Stellung zu dem
Beilisprozeß, der ja den Anlaß zu den vorstehenden Erörterungen gegeben hat:
Daß es sich hier um einen Ritualmord durch Belus oder einen anderen Juden
handelt, ist ausgeschlossen; wohl aber muß mit der Möglichkeit gerechnet werden,
daß der Angeklagte oder ein Unbekannter einen Mord aus Blutaberglauben
begangen hat. Auch im zwanzigsten Jahrhundert muß man immer noch mit der
Möglichkeit rechnen, daß ein Mord aus diesen Motiven vor die Schranken des
Gerichts kommt. Wer weiß, wie außerordentlich lebenskräftig der Aberglaube auch in
seinen gefährlichsten Formen noch heutzutage ist, wem bekannt ist, daß auch in den
letzten Jahrzehnten noch Leichenschändungen aus Talismanglauben, schwere
Mißhandlungen angeblicher Hexen oder Gespenster, Mordtaten aus Hexen¬
glauben, oder um sich einen Talismanu zu verschaffen, vorgekommen sind,
der wird im Ernst die Möglichkeit nicht abstreiten können, daß auch der


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[0171] Ritualmord und Blutaberglaubc und dennoch lassen sich, wie die Untersuchungen über den kriminellen Aber¬ glauben klar ergeben haben, auch bei den Juden Anschauungen nachweisen, die unter Beobachtung gewisser Zeremonien einen Meineid für geradezu erlaubt halten. Wenn solche mystischen Meineidszeremonien trotz des Verbotes des Meineids im Religionsgesetz auch bei den Juden vorkommen, ja teilweise sogar auf manche unklaren, mißverstandenen Stellen der Neligionsgesetze zurückgeführt werden, so ist nicht recht einzusehen, weshalb nicht auch trotz des Verbotes des Blutgenusses sich abergläubische Juden finden sollten, welche dem Blutaberglauben huldigen und vielleicht sogar der einen oder anderen von ihnen falsch inter¬ pretierten Stelle des Talmud oder andrer religiöser Schriften eine Bestätigung ihres Aberglaubens entnehmen könnten. Fälle, wo religiöse Anschauungen von Abergläubischen verkannt und in ihrem Sinne umgedeutet werden, finden wir sowohl bei den Juden als auch bei den Völkern christlicher Religionen. Man hat in neuerer Zeit überaus zahlreiche Belege für eine gewisse Religiosität gar vieler Verbrecher gesammelt, und dabei die Feststellung gemacht, daß die Verbrecher ihren religiösen An¬ schauungen vielfach eine gewisse Rechtfertigung ihres Tuns entnehmen, daß sie zu Gott oder zu den Heiligen um den Erfolg ihres Unternehmens beten, sorgsam alle kirchlichen Gebote beachten, durch kirchliche Amulette sich den Segen des Himmels zu sichern glauben, regelmäßig zur Beichte gehen usw. Ich wiederhole also: Es handelt sich auch hier um eine universale Erscheinung, die sich bei Christen sowohl wie bei Juden, bei Semiten sowohl wie bei Germanen, Romanen und Slaven findet. Man wird entgegenhalten, daß doch in der Tat in mehr als einem Fall in früherer Zeit der Angeklagte des Ritualmordes schuldig befunden sei. Die früheren Verurteilungen beweisen hier ebensowenig wie die zahllosen Verur¬ teilungen wegen Hexerei das tatsächliche Vorkommen der Hexerei beweisen. In den neueren Fällen, die wir schon öfters erwähnt haben, ist außerdem mit Sicherheit erwiesen, daß der Angeklagte eines Motdes aus Blutaberglauben nicht schuldig gewesen ist. Hieraus ergibt sich auch meine Stellung zu dem Beilisprozeß, der ja den Anlaß zu den vorstehenden Erörterungen gegeben hat: Daß es sich hier um einen Ritualmord durch Belus oder einen anderen Juden handelt, ist ausgeschlossen; wohl aber muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß der Angeklagte oder ein Unbekannter einen Mord aus Blutaberglauben begangen hat. Auch im zwanzigsten Jahrhundert muß man immer noch mit der Möglichkeit rechnen, daß ein Mord aus diesen Motiven vor die Schranken des Gerichts kommt. Wer weiß, wie außerordentlich lebenskräftig der Aberglaube auch in seinen gefährlichsten Formen noch heutzutage ist, wem bekannt ist, daß auch in den letzten Jahrzehnten noch Leichenschändungen aus Talismanglauben, schwere Mißhandlungen angeblicher Hexen oder Gespenster, Mordtaten aus Hexen¬ glauben, oder um sich einen Talismanu zu verschaffen, vorgekommen sind, der wird im Ernst die Möglichkeit nicht abstreiten können, daß auch der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/171>, abgerufen am 24.08.2024.