Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ritualmord und Llniabcrglanbe

den Stand setzen, diese Tatsache einwandfrei festzustellen. Bei den älteren Ritual¬
mordprozessen reicht das uns überlieferte Material vielfach allerdings nicht ans,
um alle Einzelheiten der Aussage mit derselben Gewißheit kontrollieren zu
können; aber schon diejenigen Feststellungen, welche man auf Grund des über¬
lieferten, vielfach trüben Quellen entstammenden Materials machen kann, lassen
es im Zusammenhalt mit den oben erwähnten Erfahrungen bei den Ritnal-
mordvrozessen der letzten Jahrzehnte als sicher erscheinen, daß auch damals schon
die Massensuggestion ihre verhängnisvolle, unheilvolle Rolle gespielt hat.

Auf ein Moment noch möchte ich in diesem Zusammenhange besonders
hinweisen. Ich meine den verderblichen Einfluß, den eine geradezu frivole
Preßagitation in den letzten Ritualmordprozessen ausgeübt hat. Bei der
Untersuchung des Knabenmordes in Xanten war der Untersuchungsrichter zu
dem Ergebnis gelangt, daß gegen Buschoff keinerlei Belastungsmomente zu
finden seien; er legte daher dem Staatsanwalt die Akten mit dem Antrage auf
Haftentlassung vor. Dem Antrage wurde stattgegeben. Kaum war dies ge¬
schehen, so erhob sich auf der ganzen Linie der Antisemiten ein wüster Lärm,
um auf die Gerichte einen unerhörten Druck auszuüben. Trotzdem die ein¬
gehende Untersuchung ein völlig negatives Ergebnis gezeitigt hatte, wurde
Buschoff in Zeitungen und Broschüren öffentlich des Mordes, und zwar des
Ritualmordes beschuldigt. Bedauerlicherweise hatten diese maßlosen Angriffe
der Presse den Erfolg, daß ein Sachverständiger, durch Fe irregeführt, ein, wie
sich später herausstellte, nicht haltbares Gutachten abgab, und dadurch die Ver¬
anlassung zur Wiederverhaftung und zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen
Buschoff gab. Auch in dem Polnaer Fall spielte, wie dies Nußbaum in ein¬
gehender Weise an der Hand von Zeitungsausschnitten dargelegt hat, die
Preßagitation eine verhängnisvolle Rolle. Besonders muß hervorgehoben
werden, daß der Spezialberichterstatter des führenden Wiener Antisemiten¬
organs mehrere Tage lang die in Betracht kommenden Zeugen verhört und
die Aussagen protokollarisch festgelegt hat. Daß Zeitungen, die ihre Aufgabe
in einem solchen Grade verkennen, der Rechtspflege einen kaum wieder gutzu¬
machenden Schaden zufügen, bedarf wohl kaum einer näheren Ausführung.
Was hilft es, daß der kriminalistisch geschulte Untersuchungsrichter mit aller
Sorgfalt es vermeidet, in die Zeugen etwas htneinzufragen, daß er sich be¬
müht, unbewußte Aussagefälschungen nach Möglichkeit zu vermeiden,- welchen
Sinn hat es, daß die Zeugen der Hauptverhandlung erst beiwohnen dürfen,
nachdem sie vernommen find, damit sie nicht durch das, was sie vor Gericht
hören, in ihrer Aussage unwillkürlich beeinflußt werden, wenn gewissenlose Re¬
porter das, was sie als erwünschtes Ergebnis erhoffen, vorher aus ihnen Her¬
ausftagen, oder, was dasselbe ist. in sie hineinzutragen versucht haben.

Die gleichen Tatsachen, welche eine Beeinflussung der Zeugen durch die
Massensuggestion zur Folge haben, machen es aber auch erklärlich, daß Aus-
sagefälschuugen und allgemeine Irrtümer auch bei den anderen für die Urteils-


Ritualmord und Llniabcrglanbe

den Stand setzen, diese Tatsache einwandfrei festzustellen. Bei den älteren Ritual¬
mordprozessen reicht das uns überlieferte Material vielfach allerdings nicht ans,
um alle Einzelheiten der Aussage mit derselben Gewißheit kontrollieren zu
können; aber schon diejenigen Feststellungen, welche man auf Grund des über¬
lieferten, vielfach trüben Quellen entstammenden Materials machen kann, lassen
es im Zusammenhalt mit den oben erwähnten Erfahrungen bei den Ritnal-
mordvrozessen der letzten Jahrzehnte als sicher erscheinen, daß auch damals schon
die Massensuggestion ihre verhängnisvolle, unheilvolle Rolle gespielt hat.

Auf ein Moment noch möchte ich in diesem Zusammenhange besonders
hinweisen. Ich meine den verderblichen Einfluß, den eine geradezu frivole
Preßagitation in den letzten Ritualmordprozessen ausgeübt hat. Bei der
Untersuchung des Knabenmordes in Xanten war der Untersuchungsrichter zu
dem Ergebnis gelangt, daß gegen Buschoff keinerlei Belastungsmomente zu
finden seien; er legte daher dem Staatsanwalt die Akten mit dem Antrage auf
Haftentlassung vor. Dem Antrage wurde stattgegeben. Kaum war dies ge¬
schehen, so erhob sich auf der ganzen Linie der Antisemiten ein wüster Lärm,
um auf die Gerichte einen unerhörten Druck auszuüben. Trotzdem die ein¬
gehende Untersuchung ein völlig negatives Ergebnis gezeitigt hatte, wurde
Buschoff in Zeitungen und Broschüren öffentlich des Mordes, und zwar des
Ritualmordes beschuldigt. Bedauerlicherweise hatten diese maßlosen Angriffe
der Presse den Erfolg, daß ein Sachverständiger, durch Fe irregeführt, ein, wie
sich später herausstellte, nicht haltbares Gutachten abgab, und dadurch die Ver¬
anlassung zur Wiederverhaftung und zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen
Buschoff gab. Auch in dem Polnaer Fall spielte, wie dies Nußbaum in ein¬
gehender Weise an der Hand von Zeitungsausschnitten dargelegt hat, die
Preßagitation eine verhängnisvolle Rolle. Besonders muß hervorgehoben
werden, daß der Spezialberichterstatter des führenden Wiener Antisemiten¬
organs mehrere Tage lang die in Betracht kommenden Zeugen verhört und
die Aussagen protokollarisch festgelegt hat. Daß Zeitungen, die ihre Aufgabe
in einem solchen Grade verkennen, der Rechtspflege einen kaum wieder gutzu¬
machenden Schaden zufügen, bedarf wohl kaum einer näheren Ausführung.
Was hilft es, daß der kriminalistisch geschulte Untersuchungsrichter mit aller
Sorgfalt es vermeidet, in die Zeugen etwas htneinzufragen, daß er sich be¬
müht, unbewußte Aussagefälschungen nach Möglichkeit zu vermeiden,- welchen
Sinn hat es, daß die Zeugen der Hauptverhandlung erst beiwohnen dürfen,
nachdem sie vernommen find, damit sie nicht durch das, was sie vor Gericht
hören, in ihrer Aussage unwillkürlich beeinflußt werden, wenn gewissenlose Re¬
porter das, was sie als erwünschtes Ergebnis erhoffen, vorher aus ihnen Her¬
ausftagen, oder, was dasselbe ist. in sie hineinzutragen versucht haben.

Die gleichen Tatsachen, welche eine Beeinflussung der Zeugen durch die
Massensuggestion zur Folge haben, machen es aber auch erklärlich, daß Aus-
sagefälschuugen und allgemeine Irrtümer auch bei den anderen für die Urteils-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326981"/>
          <fw type="header" place="top"> Ritualmord und Llniabcrglanbe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_627" prev="#ID_626"> den Stand setzen, diese Tatsache einwandfrei festzustellen. Bei den älteren Ritual¬<lb/>
mordprozessen reicht das uns überlieferte Material vielfach allerdings nicht ans,<lb/>
um alle Einzelheiten der Aussage mit derselben Gewißheit kontrollieren zu<lb/>
können; aber schon diejenigen Feststellungen, welche man auf Grund des über¬<lb/>
lieferten, vielfach trüben Quellen entstammenden Materials machen kann, lassen<lb/>
es im Zusammenhalt mit den oben erwähnten Erfahrungen bei den Ritnal-<lb/>
mordvrozessen der letzten Jahrzehnte als sicher erscheinen, daß auch damals schon<lb/>
die Massensuggestion ihre verhängnisvolle, unheilvolle Rolle gespielt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_628"> Auf ein Moment noch möchte ich in diesem Zusammenhange besonders<lb/>
hinweisen.  Ich meine den verderblichen Einfluß, den eine geradezu frivole<lb/>
Preßagitation in den letzten Ritualmordprozessen ausgeübt hat.  Bei der<lb/>
Untersuchung des Knabenmordes in Xanten war der Untersuchungsrichter zu<lb/>
dem Ergebnis gelangt, daß gegen Buschoff keinerlei Belastungsmomente zu<lb/>
finden seien; er legte daher dem Staatsanwalt die Akten mit dem Antrage auf<lb/>
Haftentlassung vor. Dem Antrage wurde stattgegeben. Kaum war dies ge¬<lb/>
schehen, so erhob sich auf der ganzen Linie der Antisemiten ein wüster Lärm,<lb/>
um auf die Gerichte einen unerhörten Druck auszuüben.  Trotzdem die ein¬<lb/>
gehende Untersuchung ein völlig negatives Ergebnis gezeitigt hatte, wurde<lb/>
Buschoff in Zeitungen und Broschüren öffentlich des Mordes, und zwar des<lb/>
Ritualmordes beschuldigt. Bedauerlicherweise hatten diese maßlosen Angriffe<lb/>
der Presse den Erfolg, daß ein Sachverständiger, durch Fe irregeführt, ein, wie<lb/>
sich später herausstellte, nicht haltbares Gutachten abgab, und dadurch die Ver¬<lb/>
anlassung zur Wiederverhaftung und zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen<lb/>
Buschoff gab. Auch in dem Polnaer Fall spielte, wie dies Nußbaum in ein¬<lb/>
gehender Weise an der Hand von Zeitungsausschnitten dargelegt hat, die<lb/>
Preßagitation eine verhängnisvolle Rolle.  Besonders muß hervorgehoben<lb/>
werden, daß der Spezialberichterstatter des führenden Wiener Antisemiten¬<lb/>
organs mehrere Tage lang die in Betracht kommenden Zeugen verhört und<lb/>
die Aussagen protokollarisch festgelegt hat. Daß Zeitungen, die ihre Aufgabe<lb/>
in einem solchen Grade verkennen, der Rechtspflege einen kaum wieder gutzu¬<lb/>
machenden Schaden zufügen, bedarf wohl kaum einer näheren Ausführung.<lb/>
Was hilft es, daß der kriminalistisch geschulte Untersuchungsrichter mit aller<lb/>
Sorgfalt es vermeidet, in die Zeugen etwas htneinzufragen, daß er sich be¬<lb/>
müht, unbewußte Aussagefälschungen nach Möglichkeit zu vermeiden,- welchen<lb/>
Sinn hat es, daß die Zeugen der Hauptverhandlung erst beiwohnen dürfen,<lb/>
nachdem sie vernommen find, damit sie nicht durch das, was sie vor Gericht<lb/>
hören, in ihrer Aussage unwillkürlich beeinflußt werden, wenn gewissenlose Re¬<lb/>
porter das, was sie als erwünschtes Ergebnis erhoffen, vorher aus ihnen Her¬<lb/>
ausftagen, oder, was dasselbe ist. in sie hineinzutragen versucht haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_629" next="#ID_630"> Die gleichen Tatsachen, welche eine Beeinflussung der Zeugen durch die<lb/>
Massensuggestion zur Folge haben, machen es aber auch erklärlich, daß Aus-<lb/>
sagefälschuugen und allgemeine Irrtümer auch bei den anderen für die Urteils-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Ritualmord und Llniabcrglanbe den Stand setzen, diese Tatsache einwandfrei festzustellen. Bei den älteren Ritual¬ mordprozessen reicht das uns überlieferte Material vielfach allerdings nicht ans, um alle Einzelheiten der Aussage mit derselben Gewißheit kontrollieren zu können; aber schon diejenigen Feststellungen, welche man auf Grund des über¬ lieferten, vielfach trüben Quellen entstammenden Materials machen kann, lassen es im Zusammenhalt mit den oben erwähnten Erfahrungen bei den Ritnal- mordvrozessen der letzten Jahrzehnte als sicher erscheinen, daß auch damals schon die Massensuggestion ihre verhängnisvolle, unheilvolle Rolle gespielt hat. Auf ein Moment noch möchte ich in diesem Zusammenhange besonders hinweisen. Ich meine den verderblichen Einfluß, den eine geradezu frivole Preßagitation in den letzten Ritualmordprozessen ausgeübt hat. Bei der Untersuchung des Knabenmordes in Xanten war der Untersuchungsrichter zu dem Ergebnis gelangt, daß gegen Buschoff keinerlei Belastungsmomente zu finden seien; er legte daher dem Staatsanwalt die Akten mit dem Antrage auf Haftentlassung vor. Dem Antrage wurde stattgegeben. Kaum war dies ge¬ schehen, so erhob sich auf der ganzen Linie der Antisemiten ein wüster Lärm, um auf die Gerichte einen unerhörten Druck auszuüben. Trotzdem die ein¬ gehende Untersuchung ein völlig negatives Ergebnis gezeitigt hatte, wurde Buschoff in Zeitungen und Broschüren öffentlich des Mordes, und zwar des Ritualmordes beschuldigt. Bedauerlicherweise hatten diese maßlosen Angriffe der Presse den Erfolg, daß ein Sachverständiger, durch Fe irregeführt, ein, wie sich später herausstellte, nicht haltbares Gutachten abgab, und dadurch die Ver¬ anlassung zur Wiederverhaftung und zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Buschoff gab. Auch in dem Polnaer Fall spielte, wie dies Nußbaum in ein¬ gehender Weise an der Hand von Zeitungsausschnitten dargelegt hat, die Preßagitation eine verhängnisvolle Rolle. Besonders muß hervorgehoben werden, daß der Spezialberichterstatter des führenden Wiener Antisemiten¬ organs mehrere Tage lang die in Betracht kommenden Zeugen verhört und die Aussagen protokollarisch festgelegt hat. Daß Zeitungen, die ihre Aufgabe in einem solchen Grade verkennen, der Rechtspflege einen kaum wieder gutzu¬ machenden Schaden zufügen, bedarf wohl kaum einer näheren Ausführung. Was hilft es, daß der kriminalistisch geschulte Untersuchungsrichter mit aller Sorgfalt es vermeidet, in die Zeugen etwas htneinzufragen, daß er sich be¬ müht, unbewußte Aussagefälschungen nach Möglichkeit zu vermeiden,- welchen Sinn hat es, daß die Zeugen der Hauptverhandlung erst beiwohnen dürfen, nachdem sie vernommen find, damit sie nicht durch das, was sie vor Gericht hören, in ihrer Aussage unwillkürlich beeinflußt werden, wenn gewissenlose Re¬ porter das, was sie als erwünschtes Ergebnis erhoffen, vorher aus ihnen Her¬ ausftagen, oder, was dasselbe ist. in sie hineinzutragen versucht haben. Die gleichen Tatsachen, welche eine Beeinflussung der Zeugen durch die Massensuggestion zur Folge haben, machen es aber auch erklärlich, daß Aus- sagefälschuugen und allgemeine Irrtümer auch bei den anderen für die Urteils-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/169>, abgerufen am 29.07.2024.