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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ritucilmord und Blutaberglaube

Vorurteilen befangen sind, und deshalb von diesen Vorurteilen aus zu un¬
genauen Beobachtungen und zu Fehlschlüssen gelangen. Gerade die Ritual¬
mordprozesse liefern einen außerordentlich wertvollen und lehrreichen Beitrag aus
der Praxis des Gerichtssaales zu den Lehren der Aussagepsychologie. Mit Fug
und Recht hat daher Geheimrat von Liszt in seinem Vorwort zu dem Nuß-
baumschen Buch darauf hingewiesen, daß der Prozeß Hilsner nicht nur für
den Kulturhistoriker, sondern auch für den Kriminalisten außergewöhnliches
Interesse hat. "Er liefert einen Beitrag zur Psychologie der Aussage, der alle
theoretischen Auseinandersetzungen über dieses Thema und alle experimentellen
Untersuchungen in den Schatten stellt." In anschaulichster Weise zeigt uns der
Verfasser an der Hand der Akten die Macht der Suggestion: wie aus dem
Volksglauben heraus die Phantastebilder der Zeugenaussagen entstehen, wie sie
immer festere Gestalt gewinnen, anschaulicher werden, und zahlreichere, kenn¬
zeichnende Einzelheiten aufnehmen, wie nach langen Monaten neue Zeugen sich
melden und unter ihrem Eide über entscheidende Tatsachen berichten, die sie bis
dahin unbegreiflicherweise bei sich behalten haben; wie die Maschen des Netzes
immer enger werden, das sich über dem Verdächtigen zusammenzieht."

Daß auch der normale Mensch für Suggestionen aller Art in außerordent¬
licher Weise empfänglich ist, und in viel stärkerem Grade, als man früher an¬
genommen hat, haben die eingehenden Untersuchungen von Psychologen, wie
Bernheim, William Stern, Lipmann und anderen einwandfrei erwiesen. Auf
die große Bedeutung der Massensuggestion hat man namentlich von ethnologischer
Seite -- ich denke insbesondere an die verdienstvollen Untersuchungen von Pro¬
fessor Stoll -- mit Recht nachdrücklich hingewiesen. Berücksichtigt man diese
Ergebnisse moderner Forschung, so liegt es auf der Hand, daß auch in den
Ritualmordprozessen die Suggestion, namentlich die Massensuggestion, die auf
den uralten Volksglauben zurückgeht, eine große Rolle spielen muß. So kann
es uns denn keineswegs überraschen, wenn wir in den zahlreichen Nitualmord-
prozessen gar mancher Aussage begegnen, die den mit der psychologischen Forschung
nicht vertrauten Laien vielleicht bedenklich machen könnte, da sie die Kon¬
statierung eines vom Angeklagten verübten Ritualmordes geradezu als notwendig
erscheinen läßt, wenn anders man dem Zeugen nicht den Vorwurf eines bewußten
Meineides machen will. Jedem praktischen Kriminalisten freilich ist es bekannt,
daß zwar auch die Lüge bei Zeugenaussagen eine nicht unerhebliche Rolle
spielt, daß aber die unbewußten Aussagefälschungen unendlich häufiger sind,
und die modernen experimentellen Untersuchungen, die man von psychologischer
Seite gemacht hat, haben diese Erfahrungen aus der kriminalistischen Praxis
einwandfrei bestätigt. Wer mit dem Rüstzeug der modernen Wissenschaft ausgerüstet
unbefangen an das Studium der Akten bzw. der Verhandlungsberichte der
Xantener und Polnaer Ritualmordprozesse herangeht, der wird auf Schritt und
Tritt unbewußten Fälschungen der Zeugenaussage begegnen. Es ist erfreulich,
daß die getreuen Verhandlungsberichte der neueren Ritualmordprozesse uns in


Ritucilmord und Blutaberglaube

Vorurteilen befangen sind, und deshalb von diesen Vorurteilen aus zu un¬
genauen Beobachtungen und zu Fehlschlüssen gelangen. Gerade die Ritual¬
mordprozesse liefern einen außerordentlich wertvollen und lehrreichen Beitrag aus
der Praxis des Gerichtssaales zu den Lehren der Aussagepsychologie. Mit Fug
und Recht hat daher Geheimrat von Liszt in seinem Vorwort zu dem Nuß-
baumschen Buch darauf hingewiesen, daß der Prozeß Hilsner nicht nur für
den Kulturhistoriker, sondern auch für den Kriminalisten außergewöhnliches
Interesse hat. „Er liefert einen Beitrag zur Psychologie der Aussage, der alle
theoretischen Auseinandersetzungen über dieses Thema und alle experimentellen
Untersuchungen in den Schatten stellt." In anschaulichster Weise zeigt uns der
Verfasser an der Hand der Akten die Macht der Suggestion: wie aus dem
Volksglauben heraus die Phantastebilder der Zeugenaussagen entstehen, wie sie
immer festere Gestalt gewinnen, anschaulicher werden, und zahlreichere, kenn¬
zeichnende Einzelheiten aufnehmen, wie nach langen Monaten neue Zeugen sich
melden und unter ihrem Eide über entscheidende Tatsachen berichten, die sie bis
dahin unbegreiflicherweise bei sich behalten haben; wie die Maschen des Netzes
immer enger werden, das sich über dem Verdächtigen zusammenzieht."

Daß auch der normale Mensch für Suggestionen aller Art in außerordent¬
licher Weise empfänglich ist, und in viel stärkerem Grade, als man früher an¬
genommen hat, haben die eingehenden Untersuchungen von Psychologen, wie
Bernheim, William Stern, Lipmann und anderen einwandfrei erwiesen. Auf
die große Bedeutung der Massensuggestion hat man namentlich von ethnologischer
Seite — ich denke insbesondere an die verdienstvollen Untersuchungen von Pro¬
fessor Stoll — mit Recht nachdrücklich hingewiesen. Berücksichtigt man diese
Ergebnisse moderner Forschung, so liegt es auf der Hand, daß auch in den
Ritualmordprozessen die Suggestion, namentlich die Massensuggestion, die auf
den uralten Volksglauben zurückgeht, eine große Rolle spielen muß. So kann
es uns denn keineswegs überraschen, wenn wir in den zahlreichen Nitualmord-
prozessen gar mancher Aussage begegnen, die den mit der psychologischen Forschung
nicht vertrauten Laien vielleicht bedenklich machen könnte, da sie die Kon¬
statierung eines vom Angeklagten verübten Ritualmordes geradezu als notwendig
erscheinen läßt, wenn anders man dem Zeugen nicht den Vorwurf eines bewußten
Meineides machen will. Jedem praktischen Kriminalisten freilich ist es bekannt,
daß zwar auch die Lüge bei Zeugenaussagen eine nicht unerhebliche Rolle
spielt, daß aber die unbewußten Aussagefälschungen unendlich häufiger sind,
und die modernen experimentellen Untersuchungen, die man von psychologischer
Seite gemacht hat, haben diese Erfahrungen aus der kriminalistischen Praxis
einwandfrei bestätigt. Wer mit dem Rüstzeug der modernen Wissenschaft ausgerüstet
unbefangen an das Studium der Akten bzw. der Verhandlungsberichte der
Xantener und Polnaer Ritualmordprozesse herangeht, der wird auf Schritt und
Tritt unbewußten Fälschungen der Zeugenaussage begegnen. Es ist erfreulich,
daß die getreuen Verhandlungsberichte der neueren Ritualmordprozesse uns in


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[0168] Ritucilmord und Blutaberglaube Vorurteilen befangen sind, und deshalb von diesen Vorurteilen aus zu un¬ genauen Beobachtungen und zu Fehlschlüssen gelangen. Gerade die Ritual¬ mordprozesse liefern einen außerordentlich wertvollen und lehrreichen Beitrag aus der Praxis des Gerichtssaales zu den Lehren der Aussagepsychologie. Mit Fug und Recht hat daher Geheimrat von Liszt in seinem Vorwort zu dem Nuß- baumschen Buch darauf hingewiesen, daß der Prozeß Hilsner nicht nur für den Kulturhistoriker, sondern auch für den Kriminalisten außergewöhnliches Interesse hat. „Er liefert einen Beitrag zur Psychologie der Aussage, der alle theoretischen Auseinandersetzungen über dieses Thema und alle experimentellen Untersuchungen in den Schatten stellt." In anschaulichster Weise zeigt uns der Verfasser an der Hand der Akten die Macht der Suggestion: wie aus dem Volksglauben heraus die Phantastebilder der Zeugenaussagen entstehen, wie sie immer festere Gestalt gewinnen, anschaulicher werden, und zahlreichere, kenn¬ zeichnende Einzelheiten aufnehmen, wie nach langen Monaten neue Zeugen sich melden und unter ihrem Eide über entscheidende Tatsachen berichten, die sie bis dahin unbegreiflicherweise bei sich behalten haben; wie die Maschen des Netzes immer enger werden, das sich über dem Verdächtigen zusammenzieht." Daß auch der normale Mensch für Suggestionen aller Art in außerordent¬ licher Weise empfänglich ist, und in viel stärkerem Grade, als man früher an¬ genommen hat, haben die eingehenden Untersuchungen von Psychologen, wie Bernheim, William Stern, Lipmann und anderen einwandfrei erwiesen. Auf die große Bedeutung der Massensuggestion hat man namentlich von ethnologischer Seite — ich denke insbesondere an die verdienstvollen Untersuchungen von Pro¬ fessor Stoll — mit Recht nachdrücklich hingewiesen. Berücksichtigt man diese Ergebnisse moderner Forschung, so liegt es auf der Hand, daß auch in den Ritualmordprozessen die Suggestion, namentlich die Massensuggestion, die auf den uralten Volksglauben zurückgeht, eine große Rolle spielen muß. So kann es uns denn keineswegs überraschen, wenn wir in den zahlreichen Nitualmord- prozessen gar mancher Aussage begegnen, die den mit der psychologischen Forschung nicht vertrauten Laien vielleicht bedenklich machen könnte, da sie die Kon¬ statierung eines vom Angeklagten verübten Ritualmordes geradezu als notwendig erscheinen läßt, wenn anders man dem Zeugen nicht den Vorwurf eines bewußten Meineides machen will. Jedem praktischen Kriminalisten freilich ist es bekannt, daß zwar auch die Lüge bei Zeugenaussagen eine nicht unerhebliche Rolle spielt, daß aber die unbewußten Aussagefälschungen unendlich häufiger sind, und die modernen experimentellen Untersuchungen, die man von psychologischer Seite gemacht hat, haben diese Erfahrungen aus der kriminalistischen Praxis einwandfrei bestätigt. Wer mit dem Rüstzeug der modernen Wissenschaft ausgerüstet unbefangen an das Studium der Akten bzw. der Verhandlungsberichte der Xantener und Polnaer Ritualmordprozesse herangeht, der wird auf Schritt und Tritt unbewußten Fälschungen der Zeugenaussage begegnen. Es ist erfreulich, daß die getreuen Verhandlungsberichte der neueren Ritualmordprozesse uns in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/168>, abgerufen am 29.07.2024.