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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ritualmord und Blutabcrglaube

analoge Beschuldigungen, wie sie bei dem Ritualmordglauben gegen die Juden
erhoben werden, auch schon gegen Christen und überhaupt gegen Nichtsemiten
erhoben worden find. Es wird nicht nur von modernen Forschungsreisenden
berichtet, daß sie sich bei den Primitiven vielfach des zweifelhaften Rufes erfreut
hätten, Menschenfresser zu sein, sondern auch die Christen des zweiten und
dritten Jahrhunderts hatten unter der Beschuldigung, sie äßen Menschenfleisch,
schwer zu leiden. Später haben die Christen die einst gegen sie gerichtete Ver¬
leumdung, nachdem die christliche Religion zur Herrschaft gelangt war, gegen
andere gerichtet, zuerst gegen die Montanisten, im späteren Mittelalter gegen
Ketzer, und im dreizehnten Jahrhundert gegen die Juden. Wie Hansen uns
dargelegt hat, hat die christliche Kirche schon in der römischen Zeit den Vor¬
wurf der mit geschlechtlichen Ausschweifungen verbundenen Abschlachtung von
Kindern gegen die Manichäer erhoben, im Mittelalter gegen deren Nachsolger,
die Katharer, dann auch gegen die Waldenser. In der Neuzeit wurden die
Hugenotten in Frankreich und die Puritaner in England dieses Verbrechens
geziehen, und auch heute taucht jene Beschuldigung von Zeit zu Zeit wieder auf,
wenn den frommen Christen Abscheu vor der Freimaurerei und ihrer "schwarzen
Messe" eingeflößt werden soll. "Es ist eben ein historisch bewährtes Kampf¬
mittel der Orthodoxie gegen das Geheimnis, mit dem sich im Interesse der
Sicherheit religiöse Minoritäten zu umgeben pflegen."

Auch die Zigeuner, die man ja bekanntlich fast allgemein heute noch für
Kinderräuber hält, trotzdem jede aktenmäßige Nachprüfung der angeblich be¬
glaubigten Fälle mit positiver Gewißheit ergeben hat, daß an dieser Beschuldigung
kein wahres Wort ist, haben sich in früheren Zeiten, wenigstens in Ungarn,
gegen den Vorwurf der Menschenfresserei verteidigen müssen, und gar mancher
Zigeuner ist in früheren Zeiten, nachdem die Qualen der Folter ihm ein Ge¬
ständnis erpreßt hatten, wegen angeblicher Menschenfresserei als Opfer eines
Vorurteils des Volkes eines qualvollen Todes gestorben.

Die soeben kurz skizzierten Volksanschauungen, die einen universalen Unter¬
grund haben, machen es erklärlich, wie die Blutbeschuldigung auftauchen konnte;
sie geben uns aber noch keine Erklärung dafür, wie es möglich ist, daß sich der
Glaube an einen Ritualmord der Juden nicht nur bis auf den heutigen Tag
erhalten konnte, sondern daß auch in den zahlreichen Ritualmordprozessen der ver¬
gangenen Jahrhunderte immer wieder eine Reihe von Zeugen aufgetreten sind,
welche Bekundungen gemacht haben, die den Gedanken an einen Ritualmord
nahelegten, ja, daß sogar auch Sachverständige in den Ritualmordprozessen
der letzten Jahrzehnte aufgetreten sind, deren Feststellungen einen Ritualmord
beinahe wahrscheinlich erscheinen ließen. Dieses eigenartige Phänomen kann
man nur dann begreifen, wenn man die Ergebnisse der modernen Forschungen
über die Psychologie der Aussage kennt, wenn man insbesondere mit dem aus-
sagefülschenden Charakter der Massensuggestion vertraut ist und wenn man weiß,
daß nicht nur Zeugen, sondern auch Sachverständige keineswegs sehr selten in


Ritualmord und Blutabcrglaube

analoge Beschuldigungen, wie sie bei dem Ritualmordglauben gegen die Juden
erhoben werden, auch schon gegen Christen und überhaupt gegen Nichtsemiten
erhoben worden find. Es wird nicht nur von modernen Forschungsreisenden
berichtet, daß sie sich bei den Primitiven vielfach des zweifelhaften Rufes erfreut
hätten, Menschenfresser zu sein, sondern auch die Christen des zweiten und
dritten Jahrhunderts hatten unter der Beschuldigung, sie äßen Menschenfleisch,
schwer zu leiden. Später haben die Christen die einst gegen sie gerichtete Ver¬
leumdung, nachdem die christliche Religion zur Herrschaft gelangt war, gegen
andere gerichtet, zuerst gegen die Montanisten, im späteren Mittelalter gegen
Ketzer, und im dreizehnten Jahrhundert gegen die Juden. Wie Hansen uns
dargelegt hat, hat die christliche Kirche schon in der römischen Zeit den Vor¬
wurf der mit geschlechtlichen Ausschweifungen verbundenen Abschlachtung von
Kindern gegen die Manichäer erhoben, im Mittelalter gegen deren Nachsolger,
die Katharer, dann auch gegen die Waldenser. In der Neuzeit wurden die
Hugenotten in Frankreich und die Puritaner in England dieses Verbrechens
geziehen, und auch heute taucht jene Beschuldigung von Zeit zu Zeit wieder auf,
wenn den frommen Christen Abscheu vor der Freimaurerei und ihrer „schwarzen
Messe" eingeflößt werden soll. „Es ist eben ein historisch bewährtes Kampf¬
mittel der Orthodoxie gegen das Geheimnis, mit dem sich im Interesse der
Sicherheit religiöse Minoritäten zu umgeben pflegen."

Auch die Zigeuner, die man ja bekanntlich fast allgemein heute noch für
Kinderräuber hält, trotzdem jede aktenmäßige Nachprüfung der angeblich be¬
glaubigten Fälle mit positiver Gewißheit ergeben hat, daß an dieser Beschuldigung
kein wahres Wort ist, haben sich in früheren Zeiten, wenigstens in Ungarn,
gegen den Vorwurf der Menschenfresserei verteidigen müssen, und gar mancher
Zigeuner ist in früheren Zeiten, nachdem die Qualen der Folter ihm ein Ge¬
ständnis erpreßt hatten, wegen angeblicher Menschenfresserei als Opfer eines
Vorurteils des Volkes eines qualvollen Todes gestorben.

Die soeben kurz skizzierten Volksanschauungen, die einen universalen Unter¬
grund haben, machen es erklärlich, wie die Blutbeschuldigung auftauchen konnte;
sie geben uns aber noch keine Erklärung dafür, wie es möglich ist, daß sich der
Glaube an einen Ritualmord der Juden nicht nur bis auf den heutigen Tag
erhalten konnte, sondern daß auch in den zahlreichen Ritualmordprozessen der ver¬
gangenen Jahrhunderte immer wieder eine Reihe von Zeugen aufgetreten sind,
welche Bekundungen gemacht haben, die den Gedanken an einen Ritualmord
nahelegten, ja, daß sogar auch Sachverständige in den Ritualmordprozessen
der letzten Jahrzehnte aufgetreten sind, deren Feststellungen einen Ritualmord
beinahe wahrscheinlich erscheinen ließen. Dieses eigenartige Phänomen kann
man nur dann begreifen, wenn man die Ergebnisse der modernen Forschungen
über die Psychologie der Aussage kennt, wenn man insbesondere mit dem aus-
sagefülschenden Charakter der Massensuggestion vertraut ist und wenn man weiß,
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[0167] Ritualmord und Blutabcrglaube analoge Beschuldigungen, wie sie bei dem Ritualmordglauben gegen die Juden erhoben werden, auch schon gegen Christen und überhaupt gegen Nichtsemiten erhoben worden find. Es wird nicht nur von modernen Forschungsreisenden berichtet, daß sie sich bei den Primitiven vielfach des zweifelhaften Rufes erfreut hätten, Menschenfresser zu sein, sondern auch die Christen des zweiten und dritten Jahrhunderts hatten unter der Beschuldigung, sie äßen Menschenfleisch, schwer zu leiden. Später haben die Christen die einst gegen sie gerichtete Ver¬ leumdung, nachdem die christliche Religion zur Herrschaft gelangt war, gegen andere gerichtet, zuerst gegen die Montanisten, im späteren Mittelalter gegen Ketzer, und im dreizehnten Jahrhundert gegen die Juden. Wie Hansen uns dargelegt hat, hat die christliche Kirche schon in der römischen Zeit den Vor¬ wurf der mit geschlechtlichen Ausschweifungen verbundenen Abschlachtung von Kindern gegen die Manichäer erhoben, im Mittelalter gegen deren Nachsolger, die Katharer, dann auch gegen die Waldenser. In der Neuzeit wurden die Hugenotten in Frankreich und die Puritaner in England dieses Verbrechens geziehen, und auch heute taucht jene Beschuldigung von Zeit zu Zeit wieder auf, wenn den frommen Christen Abscheu vor der Freimaurerei und ihrer „schwarzen Messe" eingeflößt werden soll. „Es ist eben ein historisch bewährtes Kampf¬ mittel der Orthodoxie gegen das Geheimnis, mit dem sich im Interesse der Sicherheit religiöse Minoritäten zu umgeben pflegen." Auch die Zigeuner, die man ja bekanntlich fast allgemein heute noch für Kinderräuber hält, trotzdem jede aktenmäßige Nachprüfung der angeblich be¬ glaubigten Fälle mit positiver Gewißheit ergeben hat, daß an dieser Beschuldigung kein wahres Wort ist, haben sich in früheren Zeiten, wenigstens in Ungarn, gegen den Vorwurf der Menschenfresserei verteidigen müssen, und gar mancher Zigeuner ist in früheren Zeiten, nachdem die Qualen der Folter ihm ein Ge¬ ständnis erpreßt hatten, wegen angeblicher Menschenfresserei als Opfer eines Vorurteils des Volkes eines qualvollen Todes gestorben. Die soeben kurz skizzierten Volksanschauungen, die einen universalen Unter¬ grund haben, machen es erklärlich, wie die Blutbeschuldigung auftauchen konnte; sie geben uns aber noch keine Erklärung dafür, wie es möglich ist, daß sich der Glaube an einen Ritualmord der Juden nicht nur bis auf den heutigen Tag erhalten konnte, sondern daß auch in den zahlreichen Ritualmordprozessen der ver¬ gangenen Jahrhunderte immer wieder eine Reihe von Zeugen aufgetreten sind, welche Bekundungen gemacht haben, die den Gedanken an einen Ritualmord nahelegten, ja, daß sogar auch Sachverständige in den Ritualmordprozessen der letzten Jahrzehnte aufgetreten sind, deren Feststellungen einen Ritualmord beinahe wahrscheinlich erscheinen ließen. Dieses eigenartige Phänomen kann man nur dann begreifen, wenn man die Ergebnisse der modernen Forschungen über die Psychologie der Aussage kennt, wenn man insbesondere mit dem aus- sagefülschenden Charakter der Massensuggestion vertraut ist und wenn man weiß, daß nicht nur Zeugen, sondern auch Sachverständige keineswegs sehr selten in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/167>, abgerufen am 29.07.2024.