Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ritualmord und Blntaberglaube

kranken Bauern in Jaschhütte eingeredet, er sei von einer ihm gegenüber
wohnenden Verwandten behext. Die Hexe wurde veranlaßt, in die Wohnung
des Besessenen zu gehen und ihm von ihrem Blute zu trinken zu geben. Sie
erbot sich, mit einer Nadel am Arm zu ritzen. Das genügte aber nicht,
da das herausquellende Blut kein "natürliches" war. Die angebliche Hexe
wurde daher gezwungen, sich durch rohe Faustschläge das rettende Blut aus
der Nase entlocken zu lassen, sich über das Bett des Behexten zu legen und das
Blut in seinen aufgesperrten Mund fließen zu lassen. Die Behexung schien denn
auch zu weichen, denn der Behexte äußerte bald nach dieser Labung: "Nu wart
mi beeter I" Das noch fließende Blut wurde für etwaige Rückfälle in einer
Tasse aufbewahrt. Die Schuldigen wurden von dem Kreisgericht Berent zu
drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein ganz analoger Fall fand am
13. Juni 1904 vor dem Landgericht zu Thorn seine Sühne. Diese wenigen, aus
der unendlichen Fülle der Literatur aufs geratewohl herausgegriffenen Fälle mögen
genügen, um darzutun, daß der Glaube an die Heil- und Zauberkraft des Blutes
keineswegs nur vergangenen Kulturepochen angehört.

Der zweite Gedankengang, der bei der Blutbeschuldigung gegen die Juden
zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt hat, ist gleichfalls auf uralte, primitive
Anschauungen zurückzuführen, nämlich auf die Scheu und Furcht vor allem
Fremden, die gleichfalls mit dem Zauberglauben, der das ganze soziale Leben
der Naturvölker durchsetzt, aufs innigste zusammenhängt. Man glaubte nämlich
ursprünglich allgemein, daß der Fremde, der Nichtstammesangehörige, insbeson¬
dere, wenn er einer anderen, dem Volke vielleicht sogar durch Äußerlichkeiten
oder Charaltereigentümlichkeiten unsympathischen Nasse angehörte, und wenn er
nicht den religiösen Glauben des betreffenden Volkes teilte, aller Schandtaten
fähig und vielfach durch besondere Zauberkräfte oder besondere ihm bekannte
Zauberprozeduren im höchsten Grade gemeingefährlich sei. Die am Anfang der
Entwicklung stehende allgemeine Rechtlosigkeit des Fremden, die Gleichstellung
von fremd und feindlich, die Abschließung gegen jede Berührung mit anderen
Völkern ist zum größten Teil auf diese abergläubischen Vorstellungen zurückzu¬
führen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß unsere großen Forscher auf ihren
Entdeckungsreisen in der Regel entweder feindlich empfangen wurden, oder daß
ihnen mit einer aus abergläubischer Scheu vor der überlegenen Zauberkraft des
Weißen entsprungenen Furcht begegnet wurde.

Wenn wir von modernen Volksforschern hören, daß beispielsweise katholische
Priester bei der protestantischen Landbevölkerung vielfach in dein Gerüche stehen,
daß sie besonderer Zauberkräfte teilhaftig seien, wenn man weiß, daß auch die
Zigeuner vielfach als Zauberer gelten, so kann man schon daraus entnehmen,
daß der Glaube an die Zauberkraft des Andersgläubigen oder des Angehörigen
einer anderen Rasse, eines anderen Volkes, auch im modernen Volksbewußtsein
noch keineswegs verschwunden ist. Es läßt sich noch eine ganze Reihe weiterer
Tatsachen anführen. Ganz besonders interessant ist die Feststellung, daß ganz


Ritualmord und Blntaberglaube

kranken Bauern in Jaschhütte eingeredet, er sei von einer ihm gegenüber
wohnenden Verwandten behext. Die Hexe wurde veranlaßt, in die Wohnung
des Besessenen zu gehen und ihm von ihrem Blute zu trinken zu geben. Sie
erbot sich, mit einer Nadel am Arm zu ritzen. Das genügte aber nicht,
da das herausquellende Blut kein „natürliches" war. Die angebliche Hexe
wurde daher gezwungen, sich durch rohe Faustschläge das rettende Blut aus
der Nase entlocken zu lassen, sich über das Bett des Behexten zu legen und das
Blut in seinen aufgesperrten Mund fließen zu lassen. Die Behexung schien denn
auch zu weichen, denn der Behexte äußerte bald nach dieser Labung: „Nu wart
mi beeter I" Das noch fließende Blut wurde für etwaige Rückfälle in einer
Tasse aufbewahrt. Die Schuldigen wurden von dem Kreisgericht Berent zu
drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein ganz analoger Fall fand am
13. Juni 1904 vor dem Landgericht zu Thorn seine Sühne. Diese wenigen, aus
der unendlichen Fülle der Literatur aufs geratewohl herausgegriffenen Fälle mögen
genügen, um darzutun, daß der Glaube an die Heil- und Zauberkraft des Blutes
keineswegs nur vergangenen Kulturepochen angehört.

Der zweite Gedankengang, der bei der Blutbeschuldigung gegen die Juden
zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt hat, ist gleichfalls auf uralte, primitive
Anschauungen zurückzuführen, nämlich auf die Scheu und Furcht vor allem
Fremden, die gleichfalls mit dem Zauberglauben, der das ganze soziale Leben
der Naturvölker durchsetzt, aufs innigste zusammenhängt. Man glaubte nämlich
ursprünglich allgemein, daß der Fremde, der Nichtstammesangehörige, insbeson¬
dere, wenn er einer anderen, dem Volke vielleicht sogar durch Äußerlichkeiten
oder Charaltereigentümlichkeiten unsympathischen Nasse angehörte, und wenn er
nicht den religiösen Glauben des betreffenden Volkes teilte, aller Schandtaten
fähig und vielfach durch besondere Zauberkräfte oder besondere ihm bekannte
Zauberprozeduren im höchsten Grade gemeingefährlich sei. Die am Anfang der
Entwicklung stehende allgemeine Rechtlosigkeit des Fremden, die Gleichstellung
von fremd und feindlich, die Abschließung gegen jede Berührung mit anderen
Völkern ist zum größten Teil auf diese abergläubischen Vorstellungen zurückzu¬
führen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß unsere großen Forscher auf ihren
Entdeckungsreisen in der Regel entweder feindlich empfangen wurden, oder daß
ihnen mit einer aus abergläubischer Scheu vor der überlegenen Zauberkraft des
Weißen entsprungenen Furcht begegnet wurde.

Wenn wir von modernen Volksforschern hören, daß beispielsweise katholische
Priester bei der protestantischen Landbevölkerung vielfach in dein Gerüche stehen,
daß sie besonderer Zauberkräfte teilhaftig seien, wenn man weiß, daß auch die
Zigeuner vielfach als Zauberer gelten, so kann man schon daraus entnehmen,
daß der Glaube an die Zauberkraft des Andersgläubigen oder des Angehörigen
einer anderen Rasse, eines anderen Volkes, auch im modernen Volksbewußtsein
noch keineswegs verschwunden ist. Es läßt sich noch eine ganze Reihe weiterer
Tatsachen anführen. Ganz besonders interessant ist die Feststellung, daß ganz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326978"/>
          <fw type="header" place="top"> Ritualmord und Blntaberglaube</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_619" prev="#ID_618"> kranken Bauern in Jaschhütte eingeredet, er sei von einer ihm gegenüber<lb/>
wohnenden Verwandten behext. Die Hexe wurde veranlaßt, in die Wohnung<lb/>
des Besessenen zu gehen und ihm von ihrem Blute zu trinken zu geben. Sie<lb/>
erbot sich, mit einer Nadel am Arm zu ritzen. Das genügte aber nicht,<lb/>
da das herausquellende Blut kein &#x201E;natürliches" war. Die angebliche Hexe<lb/>
wurde daher gezwungen, sich durch rohe Faustschläge das rettende Blut aus<lb/>
der Nase entlocken zu lassen, sich über das Bett des Behexten zu legen und das<lb/>
Blut in seinen aufgesperrten Mund fließen zu lassen. Die Behexung schien denn<lb/>
auch zu weichen, denn der Behexte äußerte bald nach dieser Labung: &#x201E;Nu wart<lb/>
mi beeter I" Das noch fließende Blut wurde für etwaige Rückfälle in einer<lb/>
Tasse aufbewahrt. Die Schuldigen wurden von dem Kreisgericht Berent zu<lb/>
drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein ganz analoger Fall fand am<lb/>
13. Juni 1904 vor dem Landgericht zu Thorn seine Sühne. Diese wenigen, aus<lb/>
der unendlichen Fülle der Literatur aufs geratewohl herausgegriffenen Fälle mögen<lb/>
genügen, um darzutun, daß der Glaube an die Heil- und Zauberkraft des Blutes<lb/>
keineswegs nur vergangenen Kulturepochen angehört.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_620"> Der zweite Gedankengang, der bei der Blutbeschuldigung gegen die Juden<lb/>
zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt hat, ist gleichfalls auf uralte, primitive<lb/>
Anschauungen zurückzuführen, nämlich auf die Scheu und Furcht vor allem<lb/>
Fremden, die gleichfalls mit dem Zauberglauben, der das ganze soziale Leben<lb/>
der Naturvölker durchsetzt, aufs innigste zusammenhängt. Man glaubte nämlich<lb/>
ursprünglich allgemein, daß der Fremde, der Nichtstammesangehörige, insbeson¬<lb/>
dere, wenn er einer anderen, dem Volke vielleicht sogar durch Äußerlichkeiten<lb/>
oder Charaltereigentümlichkeiten unsympathischen Nasse angehörte, und wenn er<lb/>
nicht den religiösen Glauben des betreffenden Volkes teilte, aller Schandtaten<lb/>
fähig und vielfach durch besondere Zauberkräfte oder besondere ihm bekannte<lb/>
Zauberprozeduren im höchsten Grade gemeingefährlich sei. Die am Anfang der<lb/>
Entwicklung stehende allgemeine Rechtlosigkeit des Fremden, die Gleichstellung<lb/>
von fremd und feindlich, die Abschließung gegen jede Berührung mit anderen<lb/>
Völkern ist zum größten Teil auf diese abergläubischen Vorstellungen zurückzu¬<lb/>
führen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß unsere großen Forscher auf ihren<lb/>
Entdeckungsreisen in der Regel entweder feindlich empfangen wurden, oder daß<lb/>
ihnen mit einer aus abergläubischer Scheu vor der überlegenen Zauberkraft des<lb/>
Weißen entsprungenen Furcht begegnet wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621" next="#ID_622"> Wenn wir von modernen Volksforschern hören, daß beispielsweise katholische<lb/>
Priester bei der protestantischen Landbevölkerung vielfach in dein Gerüche stehen,<lb/>
daß sie besonderer Zauberkräfte teilhaftig seien, wenn man weiß, daß auch die<lb/>
Zigeuner vielfach als Zauberer gelten, so kann man schon daraus entnehmen,<lb/>
daß der Glaube an die Zauberkraft des Andersgläubigen oder des Angehörigen<lb/>
einer anderen Rasse, eines anderen Volkes, auch im modernen Volksbewußtsein<lb/>
noch keineswegs verschwunden ist. Es läßt sich noch eine ganze Reihe weiterer<lb/>
Tatsachen anführen. Ganz besonders interessant ist die Feststellung, daß ganz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0166] Ritualmord und Blntaberglaube kranken Bauern in Jaschhütte eingeredet, er sei von einer ihm gegenüber wohnenden Verwandten behext. Die Hexe wurde veranlaßt, in die Wohnung des Besessenen zu gehen und ihm von ihrem Blute zu trinken zu geben. Sie erbot sich, mit einer Nadel am Arm zu ritzen. Das genügte aber nicht, da das herausquellende Blut kein „natürliches" war. Die angebliche Hexe wurde daher gezwungen, sich durch rohe Faustschläge das rettende Blut aus der Nase entlocken zu lassen, sich über das Bett des Behexten zu legen und das Blut in seinen aufgesperrten Mund fließen zu lassen. Die Behexung schien denn auch zu weichen, denn der Behexte äußerte bald nach dieser Labung: „Nu wart mi beeter I" Das noch fließende Blut wurde für etwaige Rückfälle in einer Tasse aufbewahrt. Die Schuldigen wurden von dem Kreisgericht Berent zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein ganz analoger Fall fand am 13. Juni 1904 vor dem Landgericht zu Thorn seine Sühne. Diese wenigen, aus der unendlichen Fülle der Literatur aufs geratewohl herausgegriffenen Fälle mögen genügen, um darzutun, daß der Glaube an die Heil- und Zauberkraft des Blutes keineswegs nur vergangenen Kulturepochen angehört. Der zweite Gedankengang, der bei der Blutbeschuldigung gegen die Juden zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt hat, ist gleichfalls auf uralte, primitive Anschauungen zurückzuführen, nämlich auf die Scheu und Furcht vor allem Fremden, die gleichfalls mit dem Zauberglauben, der das ganze soziale Leben der Naturvölker durchsetzt, aufs innigste zusammenhängt. Man glaubte nämlich ursprünglich allgemein, daß der Fremde, der Nichtstammesangehörige, insbeson¬ dere, wenn er einer anderen, dem Volke vielleicht sogar durch Äußerlichkeiten oder Charaltereigentümlichkeiten unsympathischen Nasse angehörte, und wenn er nicht den religiösen Glauben des betreffenden Volkes teilte, aller Schandtaten fähig und vielfach durch besondere Zauberkräfte oder besondere ihm bekannte Zauberprozeduren im höchsten Grade gemeingefährlich sei. Die am Anfang der Entwicklung stehende allgemeine Rechtlosigkeit des Fremden, die Gleichstellung von fremd und feindlich, die Abschließung gegen jede Berührung mit anderen Völkern ist zum größten Teil auf diese abergläubischen Vorstellungen zurückzu¬ führen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß unsere großen Forscher auf ihren Entdeckungsreisen in der Regel entweder feindlich empfangen wurden, oder daß ihnen mit einer aus abergläubischer Scheu vor der überlegenen Zauberkraft des Weißen entsprungenen Furcht begegnet wurde. Wenn wir von modernen Volksforschern hören, daß beispielsweise katholische Priester bei der protestantischen Landbevölkerung vielfach in dein Gerüche stehen, daß sie besonderer Zauberkräfte teilhaftig seien, wenn man weiß, daß auch die Zigeuner vielfach als Zauberer gelten, so kann man schon daraus entnehmen, daß der Glaube an die Zauberkraft des Andersgläubigen oder des Angehörigen einer anderen Rasse, eines anderen Volkes, auch im modernen Volksbewußtsein noch keineswegs verschwunden ist. Es läßt sich noch eine ganze Reihe weiterer Tatsachen anführen. Ganz besonders interessant ist die Feststellung, daß ganz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/166
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/166>, abgerufen am 29.07.2024.