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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Unsere Zeit, deren fortschreitende Mecha¬
nisierung und Materialisierung zu beklagen
schon fast trivial geworden ist, hat eine selt¬
same, halb sentimentale und halb ironische
Vorliebe für die stillen Jahre von 1815 bis
1847, die man Wohl auch mit dem -- eigent¬
lich satirisch gemeinten -- Namen "Bieder¬
meier" bezeichnet. Man kann nicht genau
sagen, wann diese Vorliebe sich zuerst weitere
Kreise gewann, ob dies durch den starken
Einfluß der Jahrhundertausstellung und der
kulturgeschichtlichen Romane aus der Bieder¬
meierzeit geschah, oder ob diese schon ein
gleichgestimmtes Publikum fanden -- jeden¬
falls ist diese "Mode" ebenso charakteristisch
wie ihr leise beginnendes Verschwinden, das
sich in mancherlei Zeichen ankündigt. Man
beginnt allgemach zu entdecken, das; die Vor¬
stellung, die wir uns von jener Zeit gemacht
hatten, doch eine recht einseitige sei, daß sie
viel reicher, viel komplizierter, viel bewegter
war, als wir zuerst glaubten -- und so wird
auch das vorliegende Buch, in dem eine fast
überreiche Fülle von charakteristischen und
meinen Zeitdokumenten gesammelt ist, manchem

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Leser eine große Überraschung bereiten. Es
ist nun freilich einer der besten Kenner, der
uns in diese bunte, lebensvolle und doch so
fremdartige Welt einführt, uns mit ihrem
häuslichen Leben, ihren Festen, ihren künst¬
lerischen, sozialen, ihren wissenschaftlichen und
Politischen Bestrebungen vertraut macht. Cha¬
rakteristischerweise nehmen die Kapitel, die
sich mit sozialen und politischen Dingen be¬
sassen, nur einen verhältnismäßig geringen
Teil des Buches ein -- trotz der starken po¬
litischen Unterströmung hemmte die Behörde
durch alle ihr zu Gebote stehenden Macht¬
mittel, nicht zum letzten durch die Zensur,
alle Beschäftigung mit diesen Fragen, unter¬
stützte aber gern das Interesse für Kunst --
das sie als ein ungefährliches Ventil be¬
trachten mochte --, vor allem die über-
schwängliche Begeisterung für Theater und
Ballett, von der uns hier einige recht be¬
zeichnende Beweise mitgeteilt werden. Aber
es wäre unmöglich, im Rahmen eines kurzen
Referates all die Dinge zu berühren, die den
Leser fesseln werden. Dazu ist der
Inhalt des Buches zu reich, zu vielgestaltig,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Unsere Zeit, deren fortschreitende Mecha¬
nisierung und Materialisierung zu beklagen
schon fast trivial geworden ist, hat eine selt¬
same, halb sentimentale und halb ironische
Vorliebe für die stillen Jahre von 1815 bis
1847, die man Wohl auch mit dem — eigent¬
lich satirisch gemeinten — Namen „Bieder¬
meier" bezeichnet. Man kann nicht genau
sagen, wann diese Vorliebe sich zuerst weitere
Kreise gewann, ob dies durch den starken
Einfluß der Jahrhundertausstellung und der
kulturgeschichtlichen Romane aus der Bieder¬
meierzeit geschah, oder ob diese schon ein
gleichgestimmtes Publikum fanden — jeden¬
falls ist diese „Mode" ebenso charakteristisch
wie ihr leise beginnendes Verschwinden, das
sich in mancherlei Zeichen ankündigt. Man
beginnt allgemach zu entdecken, das; die Vor¬
stellung, die wir uns von jener Zeit gemacht
hatten, doch eine recht einseitige sei, daß sie
viel reicher, viel komplizierter, viel bewegter
war, als wir zuerst glaubten — und so wird
auch das vorliegende Buch, in dem eine fast
überreiche Fülle von charakteristischen und
meinen Zeitdokumenten gesammelt ist, manchem

[Spaltenumbruch]

Leser eine große Überraschung bereiten. Es
ist nun freilich einer der besten Kenner, der
uns in diese bunte, lebensvolle und doch so
fremdartige Welt einführt, uns mit ihrem
häuslichen Leben, ihren Festen, ihren künst¬
lerischen, sozialen, ihren wissenschaftlichen und
Politischen Bestrebungen vertraut macht. Cha¬
rakteristischerweise nehmen die Kapitel, die
sich mit sozialen und politischen Dingen be¬
sassen, nur einen verhältnismäßig geringen
Teil des Buches ein — trotz der starken po¬
litischen Unterströmung hemmte die Behörde
durch alle ihr zu Gebote stehenden Macht¬
mittel, nicht zum letzten durch die Zensur,
alle Beschäftigung mit diesen Fragen, unter¬
stützte aber gern das Interesse für Kunst —
das sie als ein ungefährliches Ventil be¬
trachten mochte —, vor allem die über-
schwängliche Begeisterung für Theater und
Ballett, von der uns hier einige recht be¬
zeichnende Beweise mitgeteilt werden. Aber
es wäre unmöglich, im Rahmen eines kurzen
Referates all die Dinge zu berühren, die den
Leser fesseln werden. Dazu ist der
Inhalt des Buches zu reich, zu vielgestaltig,

[Ende Spaltensatz]


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[0155] Maßgebliches und Unmaßgebliches Unsere Zeit, deren fortschreitende Mecha¬ nisierung und Materialisierung zu beklagen schon fast trivial geworden ist, hat eine selt¬ same, halb sentimentale und halb ironische Vorliebe für die stillen Jahre von 1815 bis 1847, die man Wohl auch mit dem — eigent¬ lich satirisch gemeinten — Namen „Bieder¬ meier" bezeichnet. Man kann nicht genau sagen, wann diese Vorliebe sich zuerst weitere Kreise gewann, ob dies durch den starken Einfluß der Jahrhundertausstellung und der kulturgeschichtlichen Romane aus der Bieder¬ meierzeit geschah, oder ob diese schon ein gleichgestimmtes Publikum fanden — jeden¬ falls ist diese „Mode" ebenso charakteristisch wie ihr leise beginnendes Verschwinden, das sich in mancherlei Zeichen ankündigt. Man beginnt allgemach zu entdecken, das; die Vor¬ stellung, die wir uns von jener Zeit gemacht hatten, doch eine recht einseitige sei, daß sie viel reicher, viel komplizierter, viel bewegter war, als wir zuerst glaubten — und so wird auch das vorliegende Buch, in dem eine fast überreiche Fülle von charakteristischen und meinen Zeitdokumenten gesammelt ist, manchem Leser eine große Überraschung bereiten. Es ist nun freilich einer der besten Kenner, der uns in diese bunte, lebensvolle und doch so fremdartige Welt einführt, uns mit ihrem häuslichen Leben, ihren Festen, ihren künst¬ lerischen, sozialen, ihren wissenschaftlichen und Politischen Bestrebungen vertraut macht. Cha¬ rakteristischerweise nehmen die Kapitel, die sich mit sozialen und politischen Dingen be¬ sassen, nur einen verhältnismäßig geringen Teil des Buches ein — trotz der starken po¬ litischen Unterströmung hemmte die Behörde durch alle ihr zu Gebote stehenden Macht¬ mittel, nicht zum letzten durch die Zensur, alle Beschäftigung mit diesen Fragen, unter¬ stützte aber gern das Interesse für Kunst — das sie als ein ungefährliches Ventil be¬ trachten mochte —, vor allem die über- schwängliche Begeisterung für Theater und Ballett, von der uns hier einige recht be¬ zeichnende Beweise mitgeteilt werden. Aber es wäre unmöglich, im Rahmen eines kurzen Referates all die Dinge zu berühren, die den Leser fesseln werden. Dazu ist der Inhalt des Buches zu reich, zu vielgestaltig,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/155>, abgerufen am 28.07.2024.