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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Wicklungen und Lösungen suchen, die wir für unser Volk und Vaterland am
nützlichsten halten, nicht aber sich in Vorstellungen festbeißen, die einmal viel¬
leicht berechtigt und richtig waren, jetzt aber nicht mehr die Grundlage unserer
Meinungen bilden können, weil sich in der Wirklichkeit die Verhältnisse eben
verschoben haben. Manche sagen jetzt: das Geschehene war ein Fehler, zu
dem sich der Kaiser durch sein väterliches Gefühl, durch seinen ritterlichen Sinn
und vielleicht noch durch andere Erwägungen und Einflüsse drängen liesz, aber
das sind dynastische Angelegenheiten, und was gehen die das deutsche Volk an?
Die Verhältnisse liegen jetzt noch genau so wie zur Zeit des letzten Bundes¬
ratsbeschlusses, und dementsprechend muß auch jetzt der Bundesrat handeln.

Eine solche Auffassung ist meiner Ansicht nach unhaltbar. Dynastische
Vorgänge und Interessen entscheiden heute nicht mehr allem über Völker¬
schicksale, aber sie einfach eliminieren zu wollen, noch dazu in einer Thronfolze-
fwge, ist eine Unmöglichkeit. Der Kaiser hatte ein unbestreitbares Recht, über
die Hand seiner Tochter und über die Beziehungen seines Hauses zum
Weifenhause zu verfügen, soweit nicht staatliche Rechte und Verträge in
Frage kamen. Gab es eine verfassungsmäßige Handhabe zum Widerspruch,
so konnte sie natürlich gebraucht werden. Ist dergleichen aber nicht möglich
oder nicht geschehen, so fehlt vollends jede Möglichkeit, hier einen Unter¬
schied zu machen zwischen dem Kaiser und dem deutschen Volke. Man
kann also nicht sagen, wie man es jetzt von verschiedenen Seiten hört: die
Grundlage sei ein förmlicher Verzicht des Herzogs von Cumberland auf Han¬
nover für sich und seine Nachkommen; so lange diese Grundlage nicht geschaffen
sei, komme alles, was zwischen Berlin und Gmunden in letzter Zeit verhandelt
und erklärt worden sei, gar nicht in Betracht, und der Bundesratsbeschluß vom
28. Februar 1907 könne nicht abgeändert werden. In Wahrheit sind die
letzten Erklärungen, die von Gmunden aus abgegeben worden sind, von sehr
wesentlichem Einfluß auf die Lage.

Um dies näher zu erläutern, müssen wir kurz auf die Bundesratsbeschlüsse
zur braunschweigischen Frage zurückgehen. Nach dem Tode des Herzogs Wilhelm
von Braunschweig am 18. Oktober 1884 hatte der Herzog von Cumberland
durch ein "Besitzergreifungspatent" sein Recht auf die Thronbesteigung in
Braunschweig modifiziert. Dieses Recht auszuüben, sah er sich jedoch durch die
Schritte der braunschweigischen und preußischen Regierung behindert. Den
vorläufigen Abschluß der nun anschließenden Erörterungen der braunschweigischen
Frage bildeten die auf preußischen Antrag gepflogenen Verhandlungen des
Bundesrath, die am 2. Juli 1885 in dem Beschluß endeten: "die Über¬
zeugung der verbündeten Regierungen dahin auszusprechen, daß die Regierung
des Herzogs von Cumberland in Braunschweig, da derselbe sich in einem dem
reichsverfassungsgemäß gewährleisteten Frieden unter Bundesgliedern wider¬
streitenden Verhältnisse zu dem Bundesstaate Preußen befindet und im Hinblick
auf die von ihm geltend gemachten Ansprüche auf Gebietsteile dieses Bundes-


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Wicklungen und Lösungen suchen, die wir für unser Volk und Vaterland am
nützlichsten halten, nicht aber sich in Vorstellungen festbeißen, die einmal viel¬
leicht berechtigt und richtig waren, jetzt aber nicht mehr die Grundlage unserer
Meinungen bilden können, weil sich in der Wirklichkeit die Verhältnisse eben
verschoben haben. Manche sagen jetzt: das Geschehene war ein Fehler, zu
dem sich der Kaiser durch sein väterliches Gefühl, durch seinen ritterlichen Sinn
und vielleicht noch durch andere Erwägungen und Einflüsse drängen liesz, aber
das sind dynastische Angelegenheiten, und was gehen die das deutsche Volk an?
Die Verhältnisse liegen jetzt noch genau so wie zur Zeit des letzten Bundes¬
ratsbeschlusses, und dementsprechend muß auch jetzt der Bundesrat handeln.

Eine solche Auffassung ist meiner Ansicht nach unhaltbar. Dynastische
Vorgänge und Interessen entscheiden heute nicht mehr allem über Völker¬
schicksale, aber sie einfach eliminieren zu wollen, noch dazu in einer Thronfolze-
fwge, ist eine Unmöglichkeit. Der Kaiser hatte ein unbestreitbares Recht, über
die Hand seiner Tochter und über die Beziehungen seines Hauses zum
Weifenhause zu verfügen, soweit nicht staatliche Rechte und Verträge in
Frage kamen. Gab es eine verfassungsmäßige Handhabe zum Widerspruch,
so konnte sie natürlich gebraucht werden. Ist dergleichen aber nicht möglich
oder nicht geschehen, so fehlt vollends jede Möglichkeit, hier einen Unter¬
schied zu machen zwischen dem Kaiser und dem deutschen Volke. Man
kann also nicht sagen, wie man es jetzt von verschiedenen Seiten hört: die
Grundlage sei ein förmlicher Verzicht des Herzogs von Cumberland auf Han¬
nover für sich und seine Nachkommen; so lange diese Grundlage nicht geschaffen
sei, komme alles, was zwischen Berlin und Gmunden in letzter Zeit verhandelt
und erklärt worden sei, gar nicht in Betracht, und der Bundesratsbeschluß vom
28. Februar 1907 könne nicht abgeändert werden. In Wahrheit sind die
letzten Erklärungen, die von Gmunden aus abgegeben worden sind, von sehr
wesentlichem Einfluß auf die Lage.

Um dies näher zu erläutern, müssen wir kurz auf die Bundesratsbeschlüsse
zur braunschweigischen Frage zurückgehen. Nach dem Tode des Herzogs Wilhelm
von Braunschweig am 18. Oktober 1884 hatte der Herzog von Cumberland
durch ein „Besitzergreifungspatent" sein Recht auf die Thronbesteigung in
Braunschweig modifiziert. Dieses Recht auszuüben, sah er sich jedoch durch die
Schritte der braunschweigischen und preußischen Regierung behindert. Den
vorläufigen Abschluß der nun anschließenden Erörterungen der braunschweigischen
Frage bildeten die auf preußischen Antrag gepflogenen Verhandlungen des
Bundesrath, die am 2. Juli 1885 in dem Beschluß endeten: „die Über¬
zeugung der verbündeten Regierungen dahin auszusprechen, daß die Regierung
des Herzogs von Cumberland in Braunschweig, da derselbe sich in einem dem
reichsverfassungsgemäß gewährleisteten Frieden unter Bundesgliedern wider¬
streitenden Verhältnisse zu dem Bundesstaate Preußen befindet und im Hinblick
auf die von ihm geltend gemachten Ansprüche auf Gebietsteile dieses Bundes-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/147>, abgerufen am 27.07.2024.