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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegol

Es mag, vom Standpunkt der Regierenden aus gesehen, angenehmer sein,
künftig von einem Prätendententum äußerlich unbehelligt zu bleiben; wer aber
die politische Eigenart unseres Volkes etwas genauer studiert, der wird es für
unsere innere nationale Entwicklung ersprießlicher halten, wenn die öffentliche
Aufmerksamkeit von Richtungen, die unseren alten nationalen Schwächen
schmeicheln und unserer politischen Erziehung abträglich sind, nicht abgelenkt wird.
Es ist bei der deutschen politischen und nationalen Indolenz gar nicht nötig und
wünschenswert, daß bei uns im Innern jede Unebenheit schnell zugedeckt wird,
obwohl sie in Wahrheit gar nicht beseitigt ist. Freilich gewinnt man heute den
Eindruck, als ob über das Wesen der von der Welfenpartei drohenden Gefahr
vielfach recht krause Vorstellungen bestehen. Recht zahlreich scheinen die Leute
zu sein, die von der Sorge bewegt sind, es könne eines Tages wirklich der
Versuch gemacht werden, das Königreich Hannover gewaltsam wiederherzustellen.
Wenn eine derartige Sorge begründet sein sollte, so müßten vorher noch viele
andere Voraussetzungen erfüllt sein, an die in absehbarer Zeit gar nicht zu
denken ist. Nein, so einfach und äußerlich läßt sich der vom Welfentum an¬
gestiftete und drohende Schaden nicht umschreiben. Es sind zersetzende Wirkungen
mannigfacher Art, durch die wertvolle Kräfte brachgelegt und in falscher Richtung
entwickelt werden; das Verständnis geschichtlicher Vorgänge wird dadurch unter¬
bunden, unzählige Nebenwirkungen gemeinschädlicher Natur werden gefördert.
Und wenn der Ausgangspunkt der Bewegung ein legitimistischer Idealismus ist,
dem man seine Achtung billigerweise nicht versagen kann, so sind viele ihrer
Ausstrahlungen leider ganz anderer Art, sie werden aber durch den glänzenden
Schild jenes achtungswerten Welfentums ungedeckt und sind eben dadurch um
so wirksamer und gefährlicher als Nährboden der verbohrten und verbissenen
Eigenrichtigkeit, die in der deutschen Geschichte stets eine verhängnisvolle Rolle
gespielt hat. Daß diese ganze Gefahr nicht durch eine dynastische Aussöhnung
beseitigt werden konnte, war vorauszusehen; dann wäre es aber sehr viel besser
gewesen, man hätte die Dinge gelassen, wie sie waren; sie waren dann wenigstens
klar, einfach und für jedermann verständlich.

Nun ist es aber anders gekommen. Die Vermählung des Prinzen Ernst
August hat eine neue Lage geschaffen, und nun steht die Frage im Vordergrunde:
Was soll geschehen? Es ist verständlich, daß viele die Forderung erheben: Vor
allem konsequent bleiben! Will der Prinz nicht in aller Form auf sein Recht
an dem ehemaligen Königreich Hannover verzichten, so bleibt es eben bei dem
bisherigen Zustande; von einer Thronbesteigung in Braunschweig kann dann nicht
die Rede sein. Es ist das ein Standpunkt, dem man auch im Privatleben
häufig begegnet, der Standpunkt des nicht gehörten Warners: "Ihr hättet das
voraussehen sollen, ihr habt aber nicht gehört, nun seht zu, wie ihr heraus¬
kommt!" Da muß doch mit allem Nachdruck gesagt werden, daß man sich in
politischen Dingen ans einen solchen Standpunkt nicht stellen kann. Politik
treiben heißt auf dem Boden der jeweiligen Wirklichkeit die weiteren Ent-


Reichsspiegol

Es mag, vom Standpunkt der Regierenden aus gesehen, angenehmer sein,
künftig von einem Prätendententum äußerlich unbehelligt zu bleiben; wer aber
die politische Eigenart unseres Volkes etwas genauer studiert, der wird es für
unsere innere nationale Entwicklung ersprießlicher halten, wenn die öffentliche
Aufmerksamkeit von Richtungen, die unseren alten nationalen Schwächen
schmeicheln und unserer politischen Erziehung abträglich sind, nicht abgelenkt wird.
Es ist bei der deutschen politischen und nationalen Indolenz gar nicht nötig und
wünschenswert, daß bei uns im Innern jede Unebenheit schnell zugedeckt wird,
obwohl sie in Wahrheit gar nicht beseitigt ist. Freilich gewinnt man heute den
Eindruck, als ob über das Wesen der von der Welfenpartei drohenden Gefahr
vielfach recht krause Vorstellungen bestehen. Recht zahlreich scheinen die Leute
zu sein, die von der Sorge bewegt sind, es könne eines Tages wirklich der
Versuch gemacht werden, das Königreich Hannover gewaltsam wiederherzustellen.
Wenn eine derartige Sorge begründet sein sollte, so müßten vorher noch viele
andere Voraussetzungen erfüllt sein, an die in absehbarer Zeit gar nicht zu
denken ist. Nein, so einfach und äußerlich läßt sich der vom Welfentum an¬
gestiftete und drohende Schaden nicht umschreiben. Es sind zersetzende Wirkungen
mannigfacher Art, durch die wertvolle Kräfte brachgelegt und in falscher Richtung
entwickelt werden; das Verständnis geschichtlicher Vorgänge wird dadurch unter¬
bunden, unzählige Nebenwirkungen gemeinschädlicher Natur werden gefördert.
Und wenn der Ausgangspunkt der Bewegung ein legitimistischer Idealismus ist,
dem man seine Achtung billigerweise nicht versagen kann, so sind viele ihrer
Ausstrahlungen leider ganz anderer Art, sie werden aber durch den glänzenden
Schild jenes achtungswerten Welfentums ungedeckt und sind eben dadurch um
so wirksamer und gefährlicher als Nährboden der verbohrten und verbissenen
Eigenrichtigkeit, die in der deutschen Geschichte stets eine verhängnisvolle Rolle
gespielt hat. Daß diese ganze Gefahr nicht durch eine dynastische Aussöhnung
beseitigt werden konnte, war vorauszusehen; dann wäre es aber sehr viel besser
gewesen, man hätte die Dinge gelassen, wie sie waren; sie waren dann wenigstens
klar, einfach und für jedermann verständlich.

Nun ist es aber anders gekommen. Die Vermählung des Prinzen Ernst
August hat eine neue Lage geschaffen, und nun steht die Frage im Vordergrunde:
Was soll geschehen? Es ist verständlich, daß viele die Forderung erheben: Vor
allem konsequent bleiben! Will der Prinz nicht in aller Form auf sein Recht
an dem ehemaligen Königreich Hannover verzichten, so bleibt es eben bei dem
bisherigen Zustande; von einer Thronbesteigung in Braunschweig kann dann nicht
die Rede sein. Es ist das ein Standpunkt, dem man auch im Privatleben
häufig begegnet, der Standpunkt des nicht gehörten Warners: „Ihr hättet das
voraussehen sollen, ihr habt aber nicht gehört, nun seht zu, wie ihr heraus¬
kommt!" Da muß doch mit allem Nachdruck gesagt werden, daß man sich in
politischen Dingen ans einen solchen Standpunkt nicht stellen kann. Politik
treiben heißt auf dem Boden der jeweiligen Wirklichkeit die weiteren Ent-


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[0146] Reichsspiegol Es mag, vom Standpunkt der Regierenden aus gesehen, angenehmer sein, künftig von einem Prätendententum äußerlich unbehelligt zu bleiben; wer aber die politische Eigenart unseres Volkes etwas genauer studiert, der wird es für unsere innere nationale Entwicklung ersprießlicher halten, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit von Richtungen, die unseren alten nationalen Schwächen schmeicheln und unserer politischen Erziehung abträglich sind, nicht abgelenkt wird. Es ist bei der deutschen politischen und nationalen Indolenz gar nicht nötig und wünschenswert, daß bei uns im Innern jede Unebenheit schnell zugedeckt wird, obwohl sie in Wahrheit gar nicht beseitigt ist. Freilich gewinnt man heute den Eindruck, als ob über das Wesen der von der Welfenpartei drohenden Gefahr vielfach recht krause Vorstellungen bestehen. Recht zahlreich scheinen die Leute zu sein, die von der Sorge bewegt sind, es könne eines Tages wirklich der Versuch gemacht werden, das Königreich Hannover gewaltsam wiederherzustellen. Wenn eine derartige Sorge begründet sein sollte, so müßten vorher noch viele andere Voraussetzungen erfüllt sein, an die in absehbarer Zeit gar nicht zu denken ist. Nein, so einfach und äußerlich läßt sich der vom Welfentum an¬ gestiftete und drohende Schaden nicht umschreiben. Es sind zersetzende Wirkungen mannigfacher Art, durch die wertvolle Kräfte brachgelegt und in falscher Richtung entwickelt werden; das Verständnis geschichtlicher Vorgänge wird dadurch unter¬ bunden, unzählige Nebenwirkungen gemeinschädlicher Natur werden gefördert. Und wenn der Ausgangspunkt der Bewegung ein legitimistischer Idealismus ist, dem man seine Achtung billigerweise nicht versagen kann, so sind viele ihrer Ausstrahlungen leider ganz anderer Art, sie werden aber durch den glänzenden Schild jenes achtungswerten Welfentums ungedeckt und sind eben dadurch um so wirksamer und gefährlicher als Nährboden der verbohrten und verbissenen Eigenrichtigkeit, die in der deutschen Geschichte stets eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Daß diese ganze Gefahr nicht durch eine dynastische Aussöhnung beseitigt werden konnte, war vorauszusehen; dann wäre es aber sehr viel besser gewesen, man hätte die Dinge gelassen, wie sie waren; sie waren dann wenigstens klar, einfach und für jedermann verständlich. Nun ist es aber anders gekommen. Die Vermählung des Prinzen Ernst August hat eine neue Lage geschaffen, und nun steht die Frage im Vordergrunde: Was soll geschehen? Es ist verständlich, daß viele die Forderung erheben: Vor allem konsequent bleiben! Will der Prinz nicht in aller Form auf sein Recht an dem ehemaligen Königreich Hannover verzichten, so bleibt es eben bei dem bisherigen Zustande; von einer Thronbesteigung in Braunschweig kann dann nicht die Rede sein. Es ist das ein Standpunkt, dem man auch im Privatleben häufig begegnet, der Standpunkt des nicht gehörten Warners: „Ihr hättet das voraussehen sollen, ihr habt aber nicht gehört, nun seht zu, wie ihr heraus¬ kommt!" Da muß doch mit allem Nachdruck gesagt werden, daß man sich in politischen Dingen ans einen solchen Standpunkt nicht stellen kann. Politik treiben heißt auf dem Boden der jeweiligen Wirklichkeit die weiteren Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/146>, abgerufen am 27.07.2024.