Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.Reisebriefe Als ich neulich hier in ein einfaches Kino ging, fand ich nach dem üblichen New Dorr ist mehr als eine Siedelung von drei oder vier Millionen Neben mir auf dem schmalen Fußgängerpfad flutet der Strom des Lebens Reisebriefe Als ich neulich hier in ein einfaches Kino ging, fand ich nach dem üblichen New Dorr ist mehr als eine Siedelung von drei oder vier Millionen Neben mir auf dem schmalen Fußgängerpfad flutet der Strom des Lebens <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326956"/> <fw type="header" place="top"> Reisebriefe</fw><lb/> <p xml:id="ID_543" prev="#ID_542"> Als ich neulich hier in ein einfaches Kino ging, fand ich nach dem üblichen<lb/> süßlich-sentimentalen Zeug Bilder aus — Dantes Inferno. In der fünften<lb/> Straße (in der Newyorks Millionäre nicht, wie man sich denkt, in Palästen<lb/> oder Cottagevillen, sondern der Sparsamkeit wegen in hohen, schmalen Häusern<lb/> mit Dreifensterfronten wohnen), sah ich neulich das Heim irgendeines Groß«<lb/> Händlers. Es war ganz und gar gotisch, außen und innen: die Fassade, das<lb/> Portal, der Türdrücker und das Treppengeländer. Selbst der Fahrstuhl war<lb/> gotisch und ich vermute, daß auch alles weitere gotisch war (die Menschen<lb/> freilich ausgenommen). Lacht, bitte, nicht. Liegt darin nicht bei aller Komik<lb/> ein rührendes Verlangen nach einer Welt, die man einst selbst verbannte? Ein<lb/> amerikanischer Journalist vom World sprach einmal mit mir über diese Dinge.<lb/> Und was ich ahnend mir selbst gesagt hatte, hat mir dieser Mann ehrlich be¬<lb/> stätigt: daß über Amerika leise, leise die große Ermüdung kommt, der Überdruß<lb/> an der einseitigen Gestaltung des Lebens, das neben dem Dollar keinen anderen<lb/> Gott duldet, daß in diesem Volk, das seine biologische Kraft in dem tollen<lb/> Hetzen und Jagen nicht völlig verzehrte, nach allen zivilisatorischer Erfolgen<lb/> der Wunsch mächtiger und mächtiger wird, im engeren Sinne ein Kulturvolk zu<lb/> werden, wie die dort drüben.</p><lb/> <p xml:id="ID_544"> New Dorr ist mehr als eine Siedelung von drei oder vier Millionen<lb/> Menschen. New Uork ist ein Prinzip. Das Prinzip der Zivilisation ohne<lb/> Kultur. Und nun der Amerikaner das Experiment in diesem Sinne eine neue<lb/> Welt zu schaffen durchgeführt hat, sieht man seine Verkehrtheit ein. Das<lb/> Experiment war auf neuem Boden unternommen, auf dem keine überkommenen<lb/> Kulturschätze zu verwüsten waren. Der Amerikaner hatte, als er es begann,<lb/> nichts zu verlieren. Wir aber in Europa verwalten noch alten Kulturbesttz.<lb/> Kein moderner, vorwärtsstrebender Mensch wird an eine Mumienkonservierung<lb/> denken, wird verschmähen, was in Organisation, in Verkehr, in Technik geleistet<lb/> wird. Aber vor dem sinnlosen, unnötigen Vergeuden alter, unersetzlicher Schätze<lb/> sollten wir uns hüten. Amerika gibt zu denken!</p><lb/> <p xml:id="ID_545"> Neben mir auf dem schmalen Fußgängerpfad flutet der Strom des Lebens<lb/> stärker und stärker. New Uork ist müde, New Uork kehrt von der Arbeit heim.<lb/> Nur die Fähren tuten noch unermüdlich. Dort hinten, wo sich am Wolworth-<lb/> building eben die erste Lampenreihe entzündet, wo die Flußdampfer im Hudson¬<lb/> nebel verschwinden, liegt Hoboken, liegt das Schiff, das mich nach Europa<lb/> zurücktragen wird. Das Schiff, das mir der erste Gruß von der Heimat ist.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0144]
Reisebriefe
Als ich neulich hier in ein einfaches Kino ging, fand ich nach dem üblichen
süßlich-sentimentalen Zeug Bilder aus — Dantes Inferno. In der fünften
Straße (in der Newyorks Millionäre nicht, wie man sich denkt, in Palästen
oder Cottagevillen, sondern der Sparsamkeit wegen in hohen, schmalen Häusern
mit Dreifensterfronten wohnen), sah ich neulich das Heim irgendeines Groß«
Händlers. Es war ganz und gar gotisch, außen und innen: die Fassade, das
Portal, der Türdrücker und das Treppengeländer. Selbst der Fahrstuhl war
gotisch und ich vermute, daß auch alles weitere gotisch war (die Menschen
freilich ausgenommen). Lacht, bitte, nicht. Liegt darin nicht bei aller Komik
ein rührendes Verlangen nach einer Welt, die man einst selbst verbannte? Ein
amerikanischer Journalist vom World sprach einmal mit mir über diese Dinge.
Und was ich ahnend mir selbst gesagt hatte, hat mir dieser Mann ehrlich be¬
stätigt: daß über Amerika leise, leise die große Ermüdung kommt, der Überdruß
an der einseitigen Gestaltung des Lebens, das neben dem Dollar keinen anderen
Gott duldet, daß in diesem Volk, das seine biologische Kraft in dem tollen
Hetzen und Jagen nicht völlig verzehrte, nach allen zivilisatorischer Erfolgen
der Wunsch mächtiger und mächtiger wird, im engeren Sinne ein Kulturvolk zu
werden, wie die dort drüben.
New Dorr ist mehr als eine Siedelung von drei oder vier Millionen
Menschen. New Uork ist ein Prinzip. Das Prinzip der Zivilisation ohne
Kultur. Und nun der Amerikaner das Experiment in diesem Sinne eine neue
Welt zu schaffen durchgeführt hat, sieht man seine Verkehrtheit ein. Das
Experiment war auf neuem Boden unternommen, auf dem keine überkommenen
Kulturschätze zu verwüsten waren. Der Amerikaner hatte, als er es begann,
nichts zu verlieren. Wir aber in Europa verwalten noch alten Kulturbesttz.
Kein moderner, vorwärtsstrebender Mensch wird an eine Mumienkonservierung
denken, wird verschmähen, was in Organisation, in Verkehr, in Technik geleistet
wird. Aber vor dem sinnlosen, unnötigen Vergeuden alter, unersetzlicher Schätze
sollten wir uns hüten. Amerika gibt zu denken!
Neben mir auf dem schmalen Fußgängerpfad flutet der Strom des Lebens
stärker und stärker. New Uork ist müde, New Uork kehrt von der Arbeit heim.
Nur die Fähren tuten noch unermüdlich. Dort hinten, wo sich am Wolworth-
building eben die erste Lampenreihe entzündet, wo die Flußdampfer im Hudson¬
nebel verschwinden, liegt Hoboken, liegt das Schiff, das mich nach Europa
zurücktragen wird. Das Schiff, das mir der erste Gruß von der Heimat ist.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |