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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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"leise ein Klassiker?

Mit diesem Erfolge hängt dann letzters die große literarische Nachwirkung
zusammen, die alle Klassiker gefunden haben. Nicht nur ziehen sie einen riesigen
Schweif bewußter und unbewußter Nachahmer nach sich, sondern regen auf die
mannigfachste Weise an, helfen den Tendenzen, die durch ihre Hand laufen
weiter, beleben und befruchten alle, die in gleicher Bahn mit ihnen vorwärts¬
streben, bestimmen die Anschauungen und Empfindungen der Gesamtheit auf
Jahrzehnte hinaus. Und nicht nur wegen ihrer abschließenden Formgestaltung,
sondern eben wegen dieser weiten und tiefen Allgemeinwirkung, wegen ihrer Be¬
deutung für die Herausbildung des gegenwärtigen Lebens halten wir die Klassiker
für geeignet, auch unsere Jugend zu bilden.

Was also, um es zusammenzufassen, den Klassiker von dem gewöhnlichen
Dichter unterscheidet, ist die Breite der Auffassungsgabe, die Fülle allgemein
wertvoller Motive, die abschließende Gestaltung und die Breite und Tiefe der
Nachwirkung.

Wenden wir uns nun zu Kleist und sehen wir wie weit er dem oben be¬
stimmten Begriff des Klassikers entspricht, so machen wir die überraschende Ent¬
deckung, daß er sich in nahezu allen aufgeführten Punkten von den Klassikern
aufs schärfste unterscheidet. Was schon dem Laien beim Lesen irgendwelcher
Kleist-Biographien auffällt, ist der Umstand, daß bei jedem Werk die Quellen
und Einflüsse ganz kurz, im Vergleich mit andern Dichtern verschwindend kurz
abgetan werden können. Bei Moliöre, Shakespeare, Schiller Seiten um Seiten,
Titel auf Titel, bei Kleist, mit Ausnahme der stark veränderten Kohlhaaschronik,
kurze Notizen bei Montaigne, bei einem Historiker oder Chronisten, von Einflüssen
einige allgemeine philosophische Gedankengänge, das ist alles. Von Vorbildung
einzelner Motive ist nirgends die Rede, kann es auch nicht sein, weil eben alles
dem Dichter angehört. Noch dazu sind all diese anregenden Chronisten keines¬
wegs aktuell und Rosseau, der philosophische Lieblingsschriftsteller Kleists, der
einzige, von dem sich Einflüsse herleiten lassen, galt als längst überholt. Natür¬
lich kann bei solcher Lage der Dinge auch nicht von Abschließendem, von krönenden
Gestalten gesprochen werden. Und, um das hier gleich vorweg zu nehmen,
auch eine Nachwirkung hat Kleist nicht gehabt, er wurde, kaum bekannt, schon
wieder vergessen.

Bis sich ein großes Publikum in einem neuen Stoffe zurechtfindet, ver¬
gehen Jahrzehnte. Wie lange hat die germanische Mythologie gebraucht, um
soweit ins Allgemeinbewußtsein zu dringen, daß Hebbel, Wagner und Jordan
sie mit Aussicht auf Erfolg behandeln durften. Alles was im achtzehnten Jahr¬
hundert Klopstock, im neunzehnten die Romantiker darin versucht hatten, blieb
ohne Echo im Publikum. Es ist also kein Wunder, daß auch Kleists neue Stoffe
keinen Widerhall fanden und alle wohlfeilen Beschimpfungen des zeitgenössischen
Publikums von unserer Seite sind wenig am Platze, weil eben die rasche all¬
gemeine Aufnahme einer stofflich fremden Dichtung zu den Unmöglichkeiten
gehört. Und es möge als Gegenbeweis dienen, das daß einzige Werk Kleists,


«leise ein Klassiker?

Mit diesem Erfolge hängt dann letzters die große literarische Nachwirkung
zusammen, die alle Klassiker gefunden haben. Nicht nur ziehen sie einen riesigen
Schweif bewußter und unbewußter Nachahmer nach sich, sondern regen auf die
mannigfachste Weise an, helfen den Tendenzen, die durch ihre Hand laufen
weiter, beleben und befruchten alle, die in gleicher Bahn mit ihnen vorwärts¬
streben, bestimmen die Anschauungen und Empfindungen der Gesamtheit auf
Jahrzehnte hinaus. Und nicht nur wegen ihrer abschließenden Formgestaltung,
sondern eben wegen dieser weiten und tiefen Allgemeinwirkung, wegen ihrer Be¬
deutung für die Herausbildung des gegenwärtigen Lebens halten wir die Klassiker
für geeignet, auch unsere Jugend zu bilden.

Was also, um es zusammenzufassen, den Klassiker von dem gewöhnlichen
Dichter unterscheidet, ist die Breite der Auffassungsgabe, die Fülle allgemein
wertvoller Motive, die abschließende Gestaltung und die Breite und Tiefe der
Nachwirkung.

Wenden wir uns nun zu Kleist und sehen wir wie weit er dem oben be¬
stimmten Begriff des Klassikers entspricht, so machen wir die überraschende Ent¬
deckung, daß er sich in nahezu allen aufgeführten Punkten von den Klassikern
aufs schärfste unterscheidet. Was schon dem Laien beim Lesen irgendwelcher
Kleist-Biographien auffällt, ist der Umstand, daß bei jedem Werk die Quellen
und Einflüsse ganz kurz, im Vergleich mit andern Dichtern verschwindend kurz
abgetan werden können. Bei Moliöre, Shakespeare, Schiller Seiten um Seiten,
Titel auf Titel, bei Kleist, mit Ausnahme der stark veränderten Kohlhaaschronik,
kurze Notizen bei Montaigne, bei einem Historiker oder Chronisten, von Einflüssen
einige allgemeine philosophische Gedankengänge, das ist alles. Von Vorbildung
einzelner Motive ist nirgends die Rede, kann es auch nicht sein, weil eben alles
dem Dichter angehört. Noch dazu sind all diese anregenden Chronisten keines¬
wegs aktuell und Rosseau, der philosophische Lieblingsschriftsteller Kleists, der
einzige, von dem sich Einflüsse herleiten lassen, galt als längst überholt. Natür¬
lich kann bei solcher Lage der Dinge auch nicht von Abschließendem, von krönenden
Gestalten gesprochen werden. Und, um das hier gleich vorweg zu nehmen,
auch eine Nachwirkung hat Kleist nicht gehabt, er wurde, kaum bekannt, schon
wieder vergessen.

Bis sich ein großes Publikum in einem neuen Stoffe zurechtfindet, ver¬
gehen Jahrzehnte. Wie lange hat die germanische Mythologie gebraucht, um
soweit ins Allgemeinbewußtsein zu dringen, daß Hebbel, Wagner und Jordan
sie mit Aussicht auf Erfolg behandeln durften. Alles was im achtzehnten Jahr¬
hundert Klopstock, im neunzehnten die Romantiker darin versucht hatten, blieb
ohne Echo im Publikum. Es ist also kein Wunder, daß auch Kleists neue Stoffe
keinen Widerhall fanden und alle wohlfeilen Beschimpfungen des zeitgenössischen
Publikums von unserer Seite sind wenig am Platze, weil eben die rasche all¬
gemeine Aufnahme einer stofflich fremden Dichtung zu den Unmöglichkeiten
gehört. Und es möge als Gegenbeweis dienen, das daß einzige Werk Kleists,


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[0131] «leise ein Klassiker? Mit diesem Erfolge hängt dann letzters die große literarische Nachwirkung zusammen, die alle Klassiker gefunden haben. Nicht nur ziehen sie einen riesigen Schweif bewußter und unbewußter Nachahmer nach sich, sondern regen auf die mannigfachste Weise an, helfen den Tendenzen, die durch ihre Hand laufen weiter, beleben und befruchten alle, die in gleicher Bahn mit ihnen vorwärts¬ streben, bestimmen die Anschauungen und Empfindungen der Gesamtheit auf Jahrzehnte hinaus. Und nicht nur wegen ihrer abschließenden Formgestaltung, sondern eben wegen dieser weiten und tiefen Allgemeinwirkung, wegen ihrer Be¬ deutung für die Herausbildung des gegenwärtigen Lebens halten wir die Klassiker für geeignet, auch unsere Jugend zu bilden. Was also, um es zusammenzufassen, den Klassiker von dem gewöhnlichen Dichter unterscheidet, ist die Breite der Auffassungsgabe, die Fülle allgemein wertvoller Motive, die abschließende Gestaltung und die Breite und Tiefe der Nachwirkung. Wenden wir uns nun zu Kleist und sehen wir wie weit er dem oben be¬ stimmten Begriff des Klassikers entspricht, so machen wir die überraschende Ent¬ deckung, daß er sich in nahezu allen aufgeführten Punkten von den Klassikern aufs schärfste unterscheidet. Was schon dem Laien beim Lesen irgendwelcher Kleist-Biographien auffällt, ist der Umstand, daß bei jedem Werk die Quellen und Einflüsse ganz kurz, im Vergleich mit andern Dichtern verschwindend kurz abgetan werden können. Bei Moliöre, Shakespeare, Schiller Seiten um Seiten, Titel auf Titel, bei Kleist, mit Ausnahme der stark veränderten Kohlhaaschronik, kurze Notizen bei Montaigne, bei einem Historiker oder Chronisten, von Einflüssen einige allgemeine philosophische Gedankengänge, das ist alles. Von Vorbildung einzelner Motive ist nirgends die Rede, kann es auch nicht sein, weil eben alles dem Dichter angehört. Noch dazu sind all diese anregenden Chronisten keines¬ wegs aktuell und Rosseau, der philosophische Lieblingsschriftsteller Kleists, der einzige, von dem sich Einflüsse herleiten lassen, galt als längst überholt. Natür¬ lich kann bei solcher Lage der Dinge auch nicht von Abschließendem, von krönenden Gestalten gesprochen werden. Und, um das hier gleich vorweg zu nehmen, auch eine Nachwirkung hat Kleist nicht gehabt, er wurde, kaum bekannt, schon wieder vergessen. Bis sich ein großes Publikum in einem neuen Stoffe zurechtfindet, ver¬ gehen Jahrzehnte. Wie lange hat die germanische Mythologie gebraucht, um soweit ins Allgemeinbewußtsein zu dringen, daß Hebbel, Wagner und Jordan sie mit Aussicht auf Erfolg behandeln durften. Alles was im achtzehnten Jahr¬ hundert Klopstock, im neunzehnten die Romantiker darin versucht hatten, blieb ohne Echo im Publikum. Es ist also kein Wunder, daß auch Kleists neue Stoffe keinen Widerhall fanden und alle wohlfeilen Beschimpfungen des zeitgenössischen Publikums von unserer Seite sind wenig am Platze, weil eben die rasche all¬ gemeine Aufnahme einer stofflich fremden Dichtung zu den Unmöglichkeiten gehört. Und es möge als Gegenbeweis dienen, das daß einzige Werk Kleists,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/131>, abgerufen am 22.07.2024.