Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.Der blaue Brief eine Sorgfalt in der Auswahl, die auch derjenige kaum noch verstehe, der für Wenn sich schon die Beamten gegen die bei ihnen einreißende Gewohnheit, Der Offizierberuf verlangt neben körperlicher Eignung und gewissen fach- Man braucht nur die Zukunftsaussichten des im Staatsdienst nicht an¬ Der blaue Brief eine Sorgfalt in der Auswahl, die auch derjenige kaum noch verstehe, der für Wenn sich schon die Beamten gegen die bei ihnen einreißende Gewohnheit, Der Offizierberuf verlangt neben körperlicher Eignung und gewissen fach- Man braucht nur die Zukunftsaussichten des im Staatsdienst nicht an¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326925"/> <fw type="header" place="top"> Der blaue Brief</fw><lb/> <p xml:id="ID_424" prev="#ID_423"> eine Sorgfalt in der Auswahl, die auch derjenige kaum noch verstehe, der für<lb/> den Richterstand nur gutqualifizierte Leute angenommen zu sehen wünsche. Da¬<lb/> mit sei Anlaß zu begründeten Beschwerden gegeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_425"> Wenn sich schon die Beamten gegen die bei ihnen einreißende Gewohnheit,<lb/> die Entscheidung über die Brauchbarkeit der Anwärter auf Staatsstellen zu<lb/> lange hinauszuschieben, wehren zu müssen glauben, dann dürfte es angesichts<lb/> unseres stark vermehrten Offiziersbedarfs und des seitherigen anhaltenden<lb/> Offiziersmangel doppelt nötig sein, die Aufmerksamkeit auf die in dieser Be¬<lb/> ziehung in der Armee herrschenden ungleich schlimmeren Verhältnisse zu lenken,<lb/> welche den Hauptgrund des geringen Andrangs zur militärischen Laufbahn<lb/> bilden.</p><lb/> <p xml:id="ID_426"> Der Offizierberuf verlangt neben körperlicher Eignung und gewissen fach-<lb/> wissenschaftlichen Kenntnissen, deren Erwerbung das bestandene Offizierexamen<lb/> nachweist, bestimmte, im Laufe der Dienstzeit auszubildende Eigenschaften des<lb/> Charakters. Da die Charakterbildung Mitte der Dreißig abgeschlossen ist.<lb/> könnte somit die Ausmerzung der für ihren Beruf weniger oder gar nicht ge¬<lb/> eigneten Offiziere nach Ablauf der üblichen sechzehn Subalternosfizierjahre, aller-<lb/> spätestens der ersten Hauptmannsjahre, beendet sein. Tatsächlich findet aber<lb/> die eigentliche Siebung der Offiziere erst unter den Kompagniechefs statt, also<lb/> in einem Alter, in dem nicht nur der Jurist, sondern jeder Beamte seit Jahren<lb/> fest angestellt und nur noch disziplinarisch zu verabschieden ist. So sind nach<lb/> einer in Ur. 36 Bd. 1911 der Gegenwart wiedergegebenen Zusammenstellung<lb/> der von 1889 bis 1902 bei der Infanterie vorgekommenen Verabschiedungen<lb/> in den sechzehn Leutnantsjahren nur 37 Prozent der Subalternoffiziere, in den<lb/> zwölf Kompagniechefjahren dagegen nicht weniger als 63 Prozent der Haupt¬<lb/> leute — diese letzteren zweifellos nur zum Teil wegen körperlicher Defekte —<lb/> verabschiedet worden. Die Jahre 1889 und 1890, in denen zuerst die erhöhte<lb/> Bewertung der Schießleistung Platz griff, bilden mit 110 7,4 °/g) respek.<lb/> 101 (-^ 6,7 °/g) verabschiedeten Hauptleuten bei der Linieninfanterie und<lb/> 3 2,7 °/<,) respek. 1 0,9 °/g) bei der Garde einen Rekord. Die meisten<lb/> Hanptniannsverabschiedungen fanden zwischen dem fünften und zwölften<lb/> Kompagniechef-, etwa dem 40. bis 47. Lebensjahre statt.</p><lb/> <p xml:id="ID_427" next="#ID_428"> Man braucht nur die Zukunftsaussichten des im Staatsdienst nicht an¬<lb/> kommenden Assessors mit denen des verabschiedeten erheblich älteren Hauptmanns<lb/> zu vergleichen, um einzusehen, daß die Verschiebung der unerläßlichen<lb/> Pensionierungen bis in die Hauptmannsjahre ihre stärksten Bedenken hat. Was<lb/> kann der verabschiedete Offizier dann noch anfangen, der dem Staat bereits<lb/> seine besten Jahre geopfert hat? Seine militärischen Kenntnisse sind im Gegen¬<lb/> satz zu den Kenntnissen der meisten Beamten im bürgerlichen Leben wertlos.<lb/> Im Hauptmannsalter (37 bis 49 Jahre) ist die Aneignung eines neuen Wissens<lb/> unmöglich, da die geistige Aufnahmefähigkeit aus physiologischen Gründen in<lb/> den vierziger Jahren nur noch gering ist. So bezeichneten die vor einigen Jahren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0113]
Der blaue Brief
eine Sorgfalt in der Auswahl, die auch derjenige kaum noch verstehe, der für
den Richterstand nur gutqualifizierte Leute angenommen zu sehen wünsche. Da¬
mit sei Anlaß zu begründeten Beschwerden gegeben.
Wenn sich schon die Beamten gegen die bei ihnen einreißende Gewohnheit,
die Entscheidung über die Brauchbarkeit der Anwärter auf Staatsstellen zu
lange hinauszuschieben, wehren zu müssen glauben, dann dürfte es angesichts
unseres stark vermehrten Offiziersbedarfs und des seitherigen anhaltenden
Offiziersmangel doppelt nötig sein, die Aufmerksamkeit auf die in dieser Be¬
ziehung in der Armee herrschenden ungleich schlimmeren Verhältnisse zu lenken,
welche den Hauptgrund des geringen Andrangs zur militärischen Laufbahn
bilden.
Der Offizierberuf verlangt neben körperlicher Eignung und gewissen fach-
wissenschaftlichen Kenntnissen, deren Erwerbung das bestandene Offizierexamen
nachweist, bestimmte, im Laufe der Dienstzeit auszubildende Eigenschaften des
Charakters. Da die Charakterbildung Mitte der Dreißig abgeschlossen ist.
könnte somit die Ausmerzung der für ihren Beruf weniger oder gar nicht ge¬
eigneten Offiziere nach Ablauf der üblichen sechzehn Subalternosfizierjahre, aller-
spätestens der ersten Hauptmannsjahre, beendet sein. Tatsächlich findet aber
die eigentliche Siebung der Offiziere erst unter den Kompagniechefs statt, also
in einem Alter, in dem nicht nur der Jurist, sondern jeder Beamte seit Jahren
fest angestellt und nur noch disziplinarisch zu verabschieden ist. So sind nach
einer in Ur. 36 Bd. 1911 der Gegenwart wiedergegebenen Zusammenstellung
der von 1889 bis 1902 bei der Infanterie vorgekommenen Verabschiedungen
in den sechzehn Leutnantsjahren nur 37 Prozent der Subalternoffiziere, in den
zwölf Kompagniechefjahren dagegen nicht weniger als 63 Prozent der Haupt¬
leute — diese letzteren zweifellos nur zum Teil wegen körperlicher Defekte —
verabschiedet worden. Die Jahre 1889 und 1890, in denen zuerst die erhöhte
Bewertung der Schießleistung Platz griff, bilden mit 110 7,4 °/g) respek.
101 (-^ 6,7 °/g) verabschiedeten Hauptleuten bei der Linieninfanterie und
3 2,7 °/<,) respek. 1 0,9 °/g) bei der Garde einen Rekord. Die meisten
Hanptniannsverabschiedungen fanden zwischen dem fünften und zwölften
Kompagniechef-, etwa dem 40. bis 47. Lebensjahre statt.
Man braucht nur die Zukunftsaussichten des im Staatsdienst nicht an¬
kommenden Assessors mit denen des verabschiedeten erheblich älteren Hauptmanns
zu vergleichen, um einzusehen, daß die Verschiebung der unerläßlichen
Pensionierungen bis in die Hauptmannsjahre ihre stärksten Bedenken hat. Was
kann der verabschiedete Offizier dann noch anfangen, der dem Staat bereits
seine besten Jahre geopfert hat? Seine militärischen Kenntnisse sind im Gegen¬
satz zu den Kenntnissen der meisten Beamten im bürgerlichen Leben wertlos.
Im Hauptmannsalter (37 bis 49 Jahre) ist die Aneignung eines neuen Wissens
unmöglich, da die geistige Aufnahmefähigkeit aus physiologischen Gründen in
den vierziger Jahren nur noch gering ist. So bezeichneten die vor einigen Jahren
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