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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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einschlägige Literatur nicht oder sie mißachten die Ergebnisse ernster Forschungen.
Mag von einzelnen Polen noch so oft gegen diesen oder jenen Politiker und Publi¬
zisten beteuert werden, daß sie alle Hoffnungen auf Selbständigkeit aufgegeben
haben, so ist doch die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, daß die Polen,
und zwar nicht etwa nur die preußischen, sondern die Polen in Preußen, Ru߬
land und Österreich zusammen als eine sich einig fühlende Nation das Ziel haben,
sich einen eigenen Staat zu schaffen. Wir achten sie darum nicht weniger als Menschen,
-- als Deutsche und Preußen müssen wir ihr Streben bekämpfen. Man erwarte
nicht, daß die Polen für die territoriale Unverletzlichkeit Deutschlands in Preußen
eintreten würden, wenn etwa in einem europäischen Kriege Rußland siegreich
in Posen und Schlesien einmarschierte. Die Geschichte seit 1808 zeigt uns die
Polen überall dort, wo sie glauben, daß siegreiche Kraft gegen die Teilungs¬
mächte vorhanden ist: bei Napoleon, trotz allen Entgegenkommens von seiten des
ersten Alexander, -- bei Frankreich, Österreich und der Türkei, trotz Alexanders des
Zweiten wohlmeinender Gesinnung; -- zwischendurch gehen sie auf die
Versöhnungsanträge von russischer Seite scheinbar ein, aber nur um unter dem
Schutz einer milden Regierung und einer irregeführten öffentlichen Meinung
ihre staatsgefährlichen Organisationen um so sicherer ausbauen zu können und
dann in kritischen Augenblicken dem Gutgläubigen in den Rücken zu fallen.

Von den drei Teilungsmächten ist Preußen die einzige, die mit Erfolg
eine Politik verfolgt, die es verhindern kann, daß der künftige Polenstaat auf
ihrem Territorium errichtet werde. Diese Politik aber besteht in innerer
Kolonisation, in der Ansiedlung deutscher evangelischer Bauern vor allem in
der Ostmark. Herr von Bethmann hat die innere Kolonisation als die wich¬
tigste Aufgabe der preußischen inneren Politik bezeichnet. Darum wollen wir
auch noch nicht die Hoffnung verlieren, daß er in der Polenfrage das Werk
Bismarcks und Bülows fortsetzt.




Wenn es Herrn von Bethmann gelingen sollte, die öffentliche Meinung
wegen seiner Ostmarkenpolitik zu beruhigen, dürfte er auch in einer anderen
Frage, die gerade in den letzten Tagen die Gemüter erregte, seine eigne Position
im Lande und die der Regierung überhaupt wesentlich verbessern, in der
Welsen frage. Trügen nicht alle Zeichen, so enthalten die letzten Veröffent¬
lichungen von ivelfischer und nationaler Seite neben starken Übertreibungen
auch manches Wahre. Richtig scheint nach allem was die Tagespresse erzählt,
zu sein, und das ist der Kernpunkt, daß seit der Verlobung unserer Kaisertochter
mit dem Wels viel mehr unverantwortliche Kreise in der Sache mitgewirkt haben,
als wie sie es vertragen kann. Menschliche, allzu menschliche Regungen scheinen
die Vorsicht gehindert zu haben, stets auf dem Platze zu sein, und der Wunsch scheint
manches als vollzogene Tatsache hingenommen zu haben, was in Wirklichkeit
nicht bestand. Das nächste was wir von der Regierung in diesem Zusammen-


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einschlägige Literatur nicht oder sie mißachten die Ergebnisse ernster Forschungen.
Mag von einzelnen Polen noch so oft gegen diesen oder jenen Politiker und Publi¬
zisten beteuert werden, daß sie alle Hoffnungen auf Selbständigkeit aufgegeben
haben, so ist doch die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, daß die Polen,
und zwar nicht etwa nur die preußischen, sondern die Polen in Preußen, Ru߬
land und Österreich zusammen als eine sich einig fühlende Nation das Ziel haben,
sich einen eigenen Staat zu schaffen. Wir achten sie darum nicht weniger als Menschen,
— als Deutsche und Preußen müssen wir ihr Streben bekämpfen. Man erwarte
nicht, daß die Polen für die territoriale Unverletzlichkeit Deutschlands in Preußen
eintreten würden, wenn etwa in einem europäischen Kriege Rußland siegreich
in Posen und Schlesien einmarschierte. Die Geschichte seit 1808 zeigt uns die
Polen überall dort, wo sie glauben, daß siegreiche Kraft gegen die Teilungs¬
mächte vorhanden ist: bei Napoleon, trotz allen Entgegenkommens von seiten des
ersten Alexander, — bei Frankreich, Österreich und der Türkei, trotz Alexanders des
Zweiten wohlmeinender Gesinnung; — zwischendurch gehen sie auf die
Versöhnungsanträge von russischer Seite scheinbar ein, aber nur um unter dem
Schutz einer milden Regierung und einer irregeführten öffentlichen Meinung
ihre staatsgefährlichen Organisationen um so sicherer ausbauen zu können und
dann in kritischen Augenblicken dem Gutgläubigen in den Rücken zu fallen.

Von den drei Teilungsmächten ist Preußen die einzige, die mit Erfolg
eine Politik verfolgt, die es verhindern kann, daß der künftige Polenstaat auf
ihrem Territorium errichtet werde. Diese Politik aber besteht in innerer
Kolonisation, in der Ansiedlung deutscher evangelischer Bauern vor allem in
der Ostmark. Herr von Bethmann hat die innere Kolonisation als die wich¬
tigste Aufgabe der preußischen inneren Politik bezeichnet. Darum wollen wir
auch noch nicht die Hoffnung verlieren, daß er in der Polenfrage das Werk
Bismarcks und Bülows fortsetzt.




Wenn es Herrn von Bethmann gelingen sollte, die öffentliche Meinung
wegen seiner Ostmarkenpolitik zu beruhigen, dürfte er auch in einer anderen
Frage, die gerade in den letzten Tagen die Gemüter erregte, seine eigne Position
im Lande und die der Regierung überhaupt wesentlich verbessern, in der
Welsen frage. Trügen nicht alle Zeichen, so enthalten die letzten Veröffent¬
lichungen von ivelfischer und nationaler Seite neben starken Übertreibungen
auch manches Wahre. Richtig scheint nach allem was die Tagespresse erzählt,
zu sein, und das ist der Kernpunkt, daß seit der Verlobung unserer Kaisertochter
mit dem Wels viel mehr unverantwortliche Kreise in der Sache mitgewirkt haben,
als wie sie es vertragen kann. Menschliche, allzu menschliche Regungen scheinen
die Vorsicht gehindert zu haben, stets auf dem Platze zu sein, und der Wunsch scheint
manches als vollzogene Tatsache hingenommen zu haben, was in Wirklichkeit
nicht bestand. Das nächste was wir von der Regierung in diesem Zusammen-


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[0104] Reichsspiegel einschlägige Literatur nicht oder sie mißachten die Ergebnisse ernster Forschungen. Mag von einzelnen Polen noch so oft gegen diesen oder jenen Politiker und Publi¬ zisten beteuert werden, daß sie alle Hoffnungen auf Selbständigkeit aufgegeben haben, so ist doch die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, daß die Polen, und zwar nicht etwa nur die preußischen, sondern die Polen in Preußen, Ru߬ land und Österreich zusammen als eine sich einig fühlende Nation das Ziel haben, sich einen eigenen Staat zu schaffen. Wir achten sie darum nicht weniger als Menschen, — als Deutsche und Preußen müssen wir ihr Streben bekämpfen. Man erwarte nicht, daß die Polen für die territoriale Unverletzlichkeit Deutschlands in Preußen eintreten würden, wenn etwa in einem europäischen Kriege Rußland siegreich in Posen und Schlesien einmarschierte. Die Geschichte seit 1808 zeigt uns die Polen überall dort, wo sie glauben, daß siegreiche Kraft gegen die Teilungs¬ mächte vorhanden ist: bei Napoleon, trotz allen Entgegenkommens von seiten des ersten Alexander, — bei Frankreich, Österreich und der Türkei, trotz Alexanders des Zweiten wohlmeinender Gesinnung; — zwischendurch gehen sie auf die Versöhnungsanträge von russischer Seite scheinbar ein, aber nur um unter dem Schutz einer milden Regierung und einer irregeführten öffentlichen Meinung ihre staatsgefährlichen Organisationen um so sicherer ausbauen zu können und dann in kritischen Augenblicken dem Gutgläubigen in den Rücken zu fallen. Von den drei Teilungsmächten ist Preußen die einzige, die mit Erfolg eine Politik verfolgt, die es verhindern kann, daß der künftige Polenstaat auf ihrem Territorium errichtet werde. Diese Politik aber besteht in innerer Kolonisation, in der Ansiedlung deutscher evangelischer Bauern vor allem in der Ostmark. Herr von Bethmann hat die innere Kolonisation als die wich¬ tigste Aufgabe der preußischen inneren Politik bezeichnet. Darum wollen wir auch noch nicht die Hoffnung verlieren, daß er in der Polenfrage das Werk Bismarcks und Bülows fortsetzt. Wenn es Herrn von Bethmann gelingen sollte, die öffentliche Meinung wegen seiner Ostmarkenpolitik zu beruhigen, dürfte er auch in einer anderen Frage, die gerade in den letzten Tagen die Gemüter erregte, seine eigne Position im Lande und die der Regierung überhaupt wesentlich verbessern, in der Welsen frage. Trügen nicht alle Zeichen, so enthalten die letzten Veröffent¬ lichungen von ivelfischer und nationaler Seite neben starken Übertreibungen auch manches Wahre. Richtig scheint nach allem was die Tagespresse erzählt, zu sein, und das ist der Kernpunkt, daß seit der Verlobung unserer Kaisertochter mit dem Wels viel mehr unverantwortliche Kreise in der Sache mitgewirkt haben, als wie sie es vertragen kann. Menschliche, allzu menschliche Regungen scheinen die Vorsicht gehindert zu haben, stets auf dem Platze zu sein, und der Wunsch scheint manches als vollzogene Tatsache hingenommen zu haben, was in Wirklichkeit nicht bestand. Das nächste was wir von der Regierung in diesem Zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/104>, abgerufen am 23.07.2024.