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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

keine bürgerliche Parteigemeinschaft gibt, die dasjenige politisch wirklich darstellt,
was ihr Parteischild angibt; selbst die Jungliberalen, die eine Zeitlang rein
politische Ideale zur Schau trugen, beginnen sich an den Wagen der Wirtschaft
spannen zu lassen, während die Altdeutschen ausdrücklich darauf verzichten, eine
Partei sein zu wollen, obwohl ihre große politische Idee als Gegengewicht gegen
Ultramontanismus und Internationalismus sehr wohl die Grundlage für eine
große bürgerlich-nationale Partei abgeben könnte.

Was heißt heute deutsch-konservativ? was freikonservativ? was national¬
liberal oder freisinnig? Wieviel edlen Liberalismus findet man bei Angehörigen der
konservativen Parteien, wieviel rückständigen Konservativismus bei freisinnig organi¬
sierten Männern. Sie alle ernt ein tief wurzelndes, nationales Bewußtsein; der
Monarchie und den Anfordernissen des Staates stehen sie im Innern ihres
Herzens alle mit gleicher Gesinnung gegenüber. Was sie wirklich trennt sind
die verschiedenen wirtschaftlichen Ansprüche. Das Autoritätsdogma wird heute
in liberal organisierten Jndustriekreisen weit rücksichtsloser vertreten, als voni
konservativ verbundenen Großgrundbesitz. Konnte doch jüngst sogar das Wort
von der monarchischen Verfassung der Fabrikbetriebe geprägt werden! Wirklich
liberal im alten doktrinären Sinne sind wohl nur die politisch wenig einflu߬
reichen Gruppen am linken Flügel des Freisinns, wirklich konservativ ist die
klerikale Reichsbotengefolgschaft. Weltanschauungsfragen werden im übrigen
von allen bürgerlichen Parteien mit Ausnahme des Zentrums als unpraktisch
oder als Ausfluß eines hypermodernen Ästhetentums abgelehnt. Die wirt¬
schaftlichen Aufgaben beherrschen das politische Leben und so sind es auch
die wirtschaftlichen Gesichtspunkte allein, die gemeinsame Interessen schaffen,
ohne Ansehen der Weltanschauung. Da nun aber die wirtschaftliche Entwicklung
in einem gesunden Volke, das Landwirtschaft, Industrie und Handel treibt,
niemals still stehen kann, so darf eine gesunde Wirtschaftspolitik auch niemals
konservativ sein, will sie nicht die frei werdenden Kräfte wieder schleunigst
knebeln und mit Hilfe des Privatunternehmens die persönlichen Freiheiten
beseitigen, die wir im neunzehnten Jahrhundert dem Staat abgerungen haben;
sie muß vielmehr zugleich liberal die vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte weiter
kräftigen und sozial die wirtschaftlichen Ergebnisse gerecht auf alle Schichten der
Nation verteilen und so den Aufstieg der mittleren und unteren Schichten ermög¬
lichen, damit die führende Schicht, die durch gewaltige, nervenzerrüttende Arbeit,
Luxus, Kindermangel usw. ständig verbraucht wird, sich immer wieder zum
Heile des Ganzen verjüngen und erneuern kann. Leisten die Parteien bezüglich
der Kräftigung der Wirtschaft -- trotz vieler Fehler -- durchweg das menschen¬
mögliche, so kann man bezüglich der Verteilung der Ergebnisse, des Gewinnes keiner
der bestehenden Gruppen den Vorwurf ersparen, daß sie von Gesichtspunkten aus¬
gehen, die den nationalen gesamtvölkischen Interessen durchgehends nicht gerecht
werden. Der Maßstab wird nicht gebildet durch die berechtigten Ansprüche der
Menschen, sondern durch die Ansprüche des Kapitals; diesen Ansprüchen wird alles


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keine bürgerliche Parteigemeinschaft gibt, die dasjenige politisch wirklich darstellt,
was ihr Parteischild angibt; selbst die Jungliberalen, die eine Zeitlang rein
politische Ideale zur Schau trugen, beginnen sich an den Wagen der Wirtschaft
spannen zu lassen, während die Altdeutschen ausdrücklich darauf verzichten, eine
Partei sein zu wollen, obwohl ihre große politische Idee als Gegengewicht gegen
Ultramontanismus und Internationalismus sehr wohl die Grundlage für eine
große bürgerlich-nationale Partei abgeben könnte.

Was heißt heute deutsch-konservativ? was freikonservativ? was national¬
liberal oder freisinnig? Wieviel edlen Liberalismus findet man bei Angehörigen der
konservativen Parteien, wieviel rückständigen Konservativismus bei freisinnig organi¬
sierten Männern. Sie alle ernt ein tief wurzelndes, nationales Bewußtsein; der
Monarchie und den Anfordernissen des Staates stehen sie im Innern ihres
Herzens alle mit gleicher Gesinnung gegenüber. Was sie wirklich trennt sind
die verschiedenen wirtschaftlichen Ansprüche. Das Autoritätsdogma wird heute
in liberal organisierten Jndustriekreisen weit rücksichtsloser vertreten, als voni
konservativ verbundenen Großgrundbesitz. Konnte doch jüngst sogar das Wort
von der monarchischen Verfassung der Fabrikbetriebe geprägt werden! Wirklich
liberal im alten doktrinären Sinne sind wohl nur die politisch wenig einflu߬
reichen Gruppen am linken Flügel des Freisinns, wirklich konservativ ist die
klerikale Reichsbotengefolgschaft. Weltanschauungsfragen werden im übrigen
von allen bürgerlichen Parteien mit Ausnahme des Zentrums als unpraktisch
oder als Ausfluß eines hypermodernen Ästhetentums abgelehnt. Die wirt¬
schaftlichen Aufgaben beherrschen das politische Leben und so sind es auch
die wirtschaftlichen Gesichtspunkte allein, die gemeinsame Interessen schaffen,
ohne Ansehen der Weltanschauung. Da nun aber die wirtschaftliche Entwicklung
in einem gesunden Volke, das Landwirtschaft, Industrie und Handel treibt,
niemals still stehen kann, so darf eine gesunde Wirtschaftspolitik auch niemals
konservativ sein, will sie nicht die frei werdenden Kräfte wieder schleunigst
knebeln und mit Hilfe des Privatunternehmens die persönlichen Freiheiten
beseitigen, die wir im neunzehnten Jahrhundert dem Staat abgerungen haben;
sie muß vielmehr zugleich liberal die vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte weiter
kräftigen und sozial die wirtschaftlichen Ergebnisse gerecht auf alle Schichten der
Nation verteilen und so den Aufstieg der mittleren und unteren Schichten ermög¬
lichen, damit die führende Schicht, die durch gewaltige, nervenzerrüttende Arbeit,
Luxus, Kindermangel usw. ständig verbraucht wird, sich immer wieder zum
Heile des Ganzen verjüngen und erneuern kann. Leisten die Parteien bezüglich
der Kräftigung der Wirtschaft — trotz vieler Fehler — durchweg das menschen¬
mögliche, so kann man bezüglich der Verteilung der Ergebnisse, des Gewinnes keiner
der bestehenden Gruppen den Vorwurf ersparen, daß sie von Gesichtspunkten aus¬
gehen, die den nationalen gesamtvölkischen Interessen durchgehends nicht gerecht
werden. Der Maßstab wird nicht gebildet durch die berechtigten Ansprüche der
Menschen, sondern durch die Ansprüche des Kapitals; diesen Ansprüchen wird alles


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/100>, abgerufen am 22.07.2024.