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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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für uns der wichtigste." Daher betrachten
wir Welt und Leben immer wieder aus der
menschlichen Perspektive, wir beziehen die
Welt auf uns, wir erklären sie aus uns.
"Die Natur ist uns fremd, und soll sie uns
näher gebracht werden, so muß es dadurch
geschehen, daß sie sozusagen vermenschlicht
wird." Der Mensch, diese "Quintessenz vom
Staube" ist uns alles, ist uns die Welt selbst.

Wer nun aber die naturwissenschaftliche
Weltanschauung in Wahrheit und Vollständig¬
keit durchführen und verwirklichen wollte, der
müßte sich von diesem "menschlichen Sub¬
jektivismus" losreißen, er müßte den Menschen
einreihen in den großen Zusammenhang, in
die große Einheit der Natur und ihre kalt
unpersönlichen Gesetze. Das versuchen die
Monisten. Sie betrachten den Menschen nicht
von seiner Besonderheit als Mensch her, nicht
von seiner Eigenart aus, sondern sie betrachten
ihn von dem aus, was er mit der Natur
gemeinsam hat. Das menschlich Besondere
wird beiseite geschoben und nur das allgemein
Natürliche im Menschen für seine Einordnung
in den großen Zusammenhang der Natur als
maßgebend betrachtet.

Das menschlich Besondere tritt aber trotz
dieses Versuches immer wieder hervor. Nicht
nur, daß auch die Häupter der Monisten,
selbst Häckel, der Vater des Monismus, nach
ihren Wanderungen in den kalten Sphären
der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sich
in: praktischen Leben zurückflüchten in den ge¬
sunden anthropozentrischen Dualismus, der
Natur und Mensch als zwei Gegensätze
empfindet -- der Mensch aber ist das Wichtigere
unter ihnen (man vergleiche die scherz¬
haften Ausführungen Ibsens über Häckels
Vortrag "Der Monismus als Band zwi¬
schen Religion und Wissenschaft", Seite
21 ff-) -- sondern selbst die grundlegende
Frage für jede naturwissenschaftliche Weltan¬
schauung: "Was ist die Natur?" ist nur sub¬
jektiv, ist nur vom menschlichen Standpunkte
zu beantworten. Die Natur ist für uns das,
was wir, mit Hilfe unserer beschränkten Sinne
von ihr erkennen, das Naturgesetz eine mensch¬
liche Abstraktion aus einer durch die UnVoll¬
kommenheit unserer Sinne, unserer Instru¬
mente, kurz unserer Beobachtung beschränkten
Gruppe von Tatsachen. "Fortschritt" und

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"Zweckmäßigkeit", die wir in der Natur zu
finden glauben, sind menschliche Begriffe, die
wir in die Natur hineinlegen. Selbst die be¬
rühmte Auslesetheorie Darwins verbürgt für
die Natur eine lediglich relative Zweckmäßig¬
keit, keinen absoluten Fortschritt im menschlichen
Sinne. Die Natur ist sinnlos, vom Zufall
regiert; der Mensch allein ist derjenige, der
die Zweckmäßigkeit denkt, der sich Ziele setzt
und sie Planmäßig verfolgt, der Planmäßig¬
keit und Zielbewußtsein auch da verlangt und
da sucht, wo nichts derartiges in der Natur
vorhanden ist.

Die Natur ist Passiv, der Mensch ist aktiv;
das ist der absolute Gegensatz, auf dem der
Dualismus: Natur--Mensch beruht und der die
Praktische Durchführung der naturwissenschaft¬
lichen Weltanschauung für den Menschen immer
zu einem Dinge machen muß, das ihm gegen
die Natur geht und wogegen er sich mit allen
Fasern seines Wesens wehren muß. Der
Monismus als wissenschaftliche Hypothese kann
anerkannt werden, er kann von demselben
Menschen anerkannt werden, der ihn als Welt¬
anschauung ganz und gar verwirft.

Eine Weltanschauung, die für den Men¬
schen von Positivem, Praktischen Werte sein
soll, darf ihn nicht zur Unterdrückung seiner
Eigenart veranlassen wollen, sie muß ihm
vielmehr volle Entwicklung dieser Eigenart
gewährleisten. Mit Recht betont Ibsen, daß
die Philosophie unserer Tage zu viel Kraft
aufgewendet hat für den Nachweis der Hinein-
gehörigkeit des Menschen in die Natur, dafür
aber verabsäumt hat, die Tragweite jener
Entwicklung richtig einzuschätzen, vermöge
deren der Mensch in einer Art von Differen¬
zierungsprozeß sich und seine zweckbewußte
Wesenheit aus der Natur herausgesetzt, ja zu
ihr in Gegensatz gestellt hat.

Die Natur ist Passiv, insofern sich die na¬
türliche Entwicklung der Organismen an die
gegebenen Verhältnisse anpaßt. Der Mensch
dagegen ist aktiv, insofern er durch ziel¬
bewußte Wirksamkeit die Verhältnisse sich und
seinen Bedürfnissen anpaßt. Auf dieser Ak¬
tivität als der Grundlage menschlichen Wesens
baut Ibsen eine Weltanschauung auf, die in
eine Kulturphilosophie mündet und als deren
Schlußstein die hochentwickelte Persönlichkeit
als die Quintessenz des Menschlichen steht.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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für uns der wichtigste." Daher betrachten
wir Welt und Leben immer wieder aus der
menschlichen Perspektive, wir beziehen die
Welt auf uns, wir erklären sie aus uns.
„Die Natur ist uns fremd, und soll sie uns
näher gebracht werden, so muß es dadurch
geschehen, daß sie sozusagen vermenschlicht
wird." Der Mensch, diese „Quintessenz vom
Staube" ist uns alles, ist uns die Welt selbst.

Wer nun aber die naturwissenschaftliche
Weltanschauung in Wahrheit und Vollständig¬
keit durchführen und verwirklichen wollte, der
müßte sich von diesem „menschlichen Sub¬
jektivismus" losreißen, er müßte den Menschen
einreihen in den großen Zusammenhang, in
die große Einheit der Natur und ihre kalt
unpersönlichen Gesetze. Das versuchen die
Monisten. Sie betrachten den Menschen nicht
von seiner Besonderheit als Mensch her, nicht
von seiner Eigenart aus, sondern sie betrachten
ihn von dem aus, was er mit der Natur
gemeinsam hat. Das menschlich Besondere
wird beiseite geschoben und nur das allgemein
Natürliche im Menschen für seine Einordnung
in den großen Zusammenhang der Natur als
maßgebend betrachtet.

Das menschlich Besondere tritt aber trotz
dieses Versuches immer wieder hervor. Nicht
nur, daß auch die Häupter der Monisten,
selbst Häckel, der Vater des Monismus, nach
ihren Wanderungen in den kalten Sphären
der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sich
in: praktischen Leben zurückflüchten in den ge¬
sunden anthropozentrischen Dualismus, der
Natur und Mensch als zwei Gegensätze
empfindet — der Mensch aber ist das Wichtigere
unter ihnen (man vergleiche die scherz¬
haften Ausführungen Ibsens über Häckels
Vortrag „Der Monismus als Band zwi¬
schen Religion und Wissenschaft", Seite
21 ff-) — sondern selbst die grundlegende
Frage für jede naturwissenschaftliche Weltan¬
schauung: „Was ist die Natur?" ist nur sub¬
jektiv, ist nur vom menschlichen Standpunkte
zu beantworten. Die Natur ist für uns das,
was wir, mit Hilfe unserer beschränkten Sinne
von ihr erkennen, das Naturgesetz eine mensch¬
liche Abstraktion aus einer durch die UnVoll¬
kommenheit unserer Sinne, unserer Instru¬
mente, kurz unserer Beobachtung beschränkten
Gruppe von Tatsachen. „Fortschritt" und

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„Zweckmäßigkeit", die wir in der Natur zu
finden glauben, sind menschliche Begriffe, die
wir in die Natur hineinlegen. Selbst die be¬
rühmte Auslesetheorie Darwins verbürgt für
die Natur eine lediglich relative Zweckmäßig¬
keit, keinen absoluten Fortschritt im menschlichen
Sinne. Die Natur ist sinnlos, vom Zufall
regiert; der Mensch allein ist derjenige, der
die Zweckmäßigkeit denkt, der sich Ziele setzt
und sie Planmäßig verfolgt, der Planmäßig¬
keit und Zielbewußtsein auch da verlangt und
da sucht, wo nichts derartiges in der Natur
vorhanden ist.

Die Natur ist Passiv, der Mensch ist aktiv;
das ist der absolute Gegensatz, auf dem der
Dualismus: Natur—Mensch beruht und der die
Praktische Durchführung der naturwissenschaft¬
lichen Weltanschauung für den Menschen immer
zu einem Dinge machen muß, das ihm gegen
die Natur geht und wogegen er sich mit allen
Fasern seines Wesens wehren muß. Der
Monismus als wissenschaftliche Hypothese kann
anerkannt werden, er kann von demselben
Menschen anerkannt werden, der ihn als Welt¬
anschauung ganz und gar verwirft.

Eine Weltanschauung, die für den Men¬
schen von Positivem, Praktischen Werte sein
soll, darf ihn nicht zur Unterdrückung seiner
Eigenart veranlassen wollen, sie muß ihm
vielmehr volle Entwicklung dieser Eigenart
gewährleisten. Mit Recht betont Ibsen, daß
die Philosophie unserer Tage zu viel Kraft
aufgewendet hat für den Nachweis der Hinein-
gehörigkeit des Menschen in die Natur, dafür
aber verabsäumt hat, die Tragweite jener
Entwicklung richtig einzuschätzen, vermöge
deren der Mensch in einer Art von Differen¬
zierungsprozeß sich und seine zweckbewußte
Wesenheit aus der Natur herausgesetzt, ja zu
ihr in Gegensatz gestellt hat.

Die Natur ist Passiv, insofern sich die na¬
türliche Entwicklung der Organismen an die
gegebenen Verhältnisse anpaßt. Der Mensch
dagegen ist aktiv, insofern er durch ziel¬
bewußte Wirksamkeit die Verhältnisse sich und
seinen Bedürfnissen anpaßt. Auf dieser Ak¬
tivität als der Grundlage menschlichen Wesens
baut Ibsen eine Weltanschauung auf, die in
eine Kulturphilosophie mündet und als deren
Schlußstein die hochentwickelte Persönlichkeit
als die Quintessenz des Menschlichen steht.

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[0633] Maßgebliches und Unmaßgebliches für uns der wichtigste." Daher betrachten wir Welt und Leben immer wieder aus der menschlichen Perspektive, wir beziehen die Welt auf uns, wir erklären sie aus uns. „Die Natur ist uns fremd, und soll sie uns näher gebracht werden, so muß es dadurch geschehen, daß sie sozusagen vermenschlicht wird." Der Mensch, diese „Quintessenz vom Staube" ist uns alles, ist uns die Welt selbst. Wer nun aber die naturwissenschaftliche Weltanschauung in Wahrheit und Vollständig¬ keit durchführen und verwirklichen wollte, der müßte sich von diesem „menschlichen Sub¬ jektivismus" losreißen, er müßte den Menschen einreihen in den großen Zusammenhang, in die große Einheit der Natur und ihre kalt unpersönlichen Gesetze. Das versuchen die Monisten. Sie betrachten den Menschen nicht von seiner Besonderheit als Mensch her, nicht von seiner Eigenart aus, sondern sie betrachten ihn von dem aus, was er mit der Natur gemeinsam hat. Das menschlich Besondere wird beiseite geschoben und nur das allgemein Natürliche im Menschen für seine Einordnung in den großen Zusammenhang der Natur als maßgebend betrachtet. Das menschlich Besondere tritt aber trotz dieses Versuches immer wieder hervor. Nicht nur, daß auch die Häupter der Monisten, selbst Häckel, der Vater des Monismus, nach ihren Wanderungen in den kalten Sphären der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sich in: praktischen Leben zurückflüchten in den ge¬ sunden anthropozentrischen Dualismus, der Natur und Mensch als zwei Gegensätze empfindet — der Mensch aber ist das Wichtigere unter ihnen (man vergleiche die scherz¬ haften Ausführungen Ibsens über Häckels Vortrag „Der Monismus als Band zwi¬ schen Religion und Wissenschaft", Seite 21 ff-) — sondern selbst die grundlegende Frage für jede naturwissenschaftliche Weltan¬ schauung: „Was ist die Natur?" ist nur sub¬ jektiv, ist nur vom menschlichen Standpunkte zu beantworten. Die Natur ist für uns das, was wir, mit Hilfe unserer beschränkten Sinne von ihr erkennen, das Naturgesetz eine mensch¬ liche Abstraktion aus einer durch die UnVoll¬ kommenheit unserer Sinne, unserer Instru¬ mente, kurz unserer Beobachtung beschränkten Gruppe von Tatsachen. „Fortschritt" und „Zweckmäßigkeit", die wir in der Natur zu finden glauben, sind menschliche Begriffe, die wir in die Natur hineinlegen. Selbst die be¬ rühmte Auslesetheorie Darwins verbürgt für die Natur eine lediglich relative Zweckmäßig¬ keit, keinen absoluten Fortschritt im menschlichen Sinne. Die Natur ist sinnlos, vom Zufall regiert; der Mensch allein ist derjenige, der die Zweckmäßigkeit denkt, der sich Ziele setzt und sie Planmäßig verfolgt, der Planmäßig¬ keit und Zielbewußtsein auch da verlangt und da sucht, wo nichts derartiges in der Natur vorhanden ist. Die Natur ist Passiv, der Mensch ist aktiv; das ist der absolute Gegensatz, auf dem der Dualismus: Natur—Mensch beruht und der die Praktische Durchführung der naturwissenschaft¬ lichen Weltanschauung für den Menschen immer zu einem Dinge machen muß, das ihm gegen die Natur geht und wogegen er sich mit allen Fasern seines Wesens wehren muß. Der Monismus als wissenschaftliche Hypothese kann anerkannt werden, er kann von demselben Menschen anerkannt werden, der ihn als Welt¬ anschauung ganz und gar verwirft. Eine Weltanschauung, die für den Men¬ schen von Positivem, Praktischen Werte sein soll, darf ihn nicht zur Unterdrückung seiner Eigenart veranlassen wollen, sie muß ihm vielmehr volle Entwicklung dieser Eigenart gewährleisten. Mit Recht betont Ibsen, daß die Philosophie unserer Tage zu viel Kraft aufgewendet hat für den Nachweis der Hinein- gehörigkeit des Menschen in die Natur, dafür aber verabsäumt hat, die Tragweite jener Entwicklung richtig einzuschätzen, vermöge deren der Mensch in einer Art von Differen¬ zierungsprozeß sich und seine zweckbewußte Wesenheit aus der Natur herausgesetzt, ja zu ihr in Gegensatz gestellt hat. Die Natur ist Passiv, insofern sich die na¬ türliche Entwicklung der Organismen an die gegebenen Verhältnisse anpaßt. Der Mensch dagegen ist aktiv, insofern er durch ziel¬ bewußte Wirksamkeit die Verhältnisse sich und seinen Bedürfnissen anpaßt. Auf dieser Ak¬ tivität als der Grundlage menschlichen Wesens baut Ibsen eine Weltanschauung auf, die in eine Kulturphilosophie mündet und als deren Schlußstein die hochentwickelte Persönlichkeit als die Quintessenz des Menschlichen steht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/633>, abgerufen am 19.10.2024.