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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur

Goethe zum erstenmal ermöglicht, und in Zukunft wird es die bisher so beliebte
Art der Auswahl-Weltanschauungen des Dichters wenigstens der maßgebenden
Goethe-Literatur ersparen. Simmeis Goethe-Werk ist nicht zum Einmal-lesen,
sondern zum Gebrauch. Dem Goethe-Freunde stellt es im Urwald der Offen¬
barungen orientierende Gesichtspunkte auf, und der im Historisch-Äußerlichen so
sehr befangenen Goethe-Forschung kann dieses Buch gerade das bieten, was sie
am nötigsten braucht: Ideen. Ich wüßte nicht, wie ich die hohe Kulturwertigkeit
des Simmelschen Werkes mit Worten tieferen Dankes und größerer Bewunderung
zum Ausdruck bringen sollte.

Das andere Werk, das Goethes Gesamtpersönlichkeit umfassend dieses Jahr
erschien, ist eigentlich nur ein Neudruck oder Neuübersetzung, denn die Goethe-
Aufsätze von Thomas Carlvle, die Paul Friedrich*) neu herausgegeben, gehören
längst zum Bekanntesten in der Forschung so gut wie bei der Goethe-Gemeinde,
und in den Einleitungen ist weder über Goethe noch über Carlvle irgendwie
Erhebliches gesagt.

Einzelnen Goethe-Werken sind drei ansehnliche Deutungsarbeiten gewidmet,
zwei davon gelten Faust und eines dem nunmehr in seiner Gesamtheit über¬
sehbaren Wilhelm-Meister-Problem. Alle drei führen uns weg von der philo¬
sophischen Betrachtung in's streng genommen literarhistorische Getriebe. Das
sehr brauchbare wenn auch in seiner Grundtendenz zu einseitige Werk Günther
Jacobi's "Herder als Faust" wurde hier bereits besprochen. (Grenzboten 1913
Ur.15.) Ernst Traumann**) legt vorerst den ersten Band eines Faustkommentars
vor. Die erste Hälfte des Bandes enthält eine Darstellung, der Faustsage und der
Entstehungsgeschichte, die zweite Hälfte die Erklärung des ersten Teiles. Im wesent¬
lichen steht Traumann auf Kuno Fischers und Minors Schultern, nicht ohne das
seither Gesicherte der neueren Spezialforschung in der besten Weise zu benutzen
und im einzelnen gelegentlich auch Neues zu bieten. Die Abweichung von Minor
ist in einem Punkt grundsätzlich bemerkbar, doch kann ich nicht umhin, die
Neuerung als wenig glücklich zu bezeichnen. Minor behandelt Urfaust und
Fragment in eigenen, diesen Phasen besonders gewidmeten Erklärungen. Trau¬
mann behandelt sie bloß als Entwicklungsstufen und "erklärt" eigentlich nur
den fertigen ersten Teil. Im Wesen der drei oder wenigstens der zwei Werke
liegt dieses Verfahren nicht begründet. Mag man immerhin das Fragment von
1790 nur als Zwischenstufe gelten lassen, der Urfaust ist ein Werk für sich, das
ganz andere Erklärungen erheischt als der erste Teil und das mit der entwick¬
lungsgeschichtlichen Betrachtung nur von der einen Seite erhellt wird. Das
Minorsche Verfahren der Fausterklärung dürfte schon als das klassische bezeichnet




") "Goethe" von Thomas Carlyle. Berlin im Verlag Neues Leben, Wilhelm Born-
gröber.
**) "Goethes Faust." Nach Entstehung und Inhalt erklärt von Ernst Traumann. Zwei
Bände. I. Band: Der Tragödie erster Teil. C. H. Bccksche Verlagsbuchhandlung München,
1913. 4S9 Seiten.
Neuere Goethe-Literatur

Goethe zum erstenmal ermöglicht, und in Zukunft wird es die bisher so beliebte
Art der Auswahl-Weltanschauungen des Dichters wenigstens der maßgebenden
Goethe-Literatur ersparen. Simmeis Goethe-Werk ist nicht zum Einmal-lesen,
sondern zum Gebrauch. Dem Goethe-Freunde stellt es im Urwald der Offen¬
barungen orientierende Gesichtspunkte auf, und der im Historisch-Äußerlichen so
sehr befangenen Goethe-Forschung kann dieses Buch gerade das bieten, was sie
am nötigsten braucht: Ideen. Ich wüßte nicht, wie ich die hohe Kulturwertigkeit
des Simmelschen Werkes mit Worten tieferen Dankes und größerer Bewunderung
zum Ausdruck bringen sollte.

Das andere Werk, das Goethes Gesamtpersönlichkeit umfassend dieses Jahr
erschien, ist eigentlich nur ein Neudruck oder Neuübersetzung, denn die Goethe-
Aufsätze von Thomas Carlvle, die Paul Friedrich*) neu herausgegeben, gehören
längst zum Bekanntesten in der Forschung so gut wie bei der Goethe-Gemeinde,
und in den Einleitungen ist weder über Goethe noch über Carlvle irgendwie
Erhebliches gesagt.

Einzelnen Goethe-Werken sind drei ansehnliche Deutungsarbeiten gewidmet,
zwei davon gelten Faust und eines dem nunmehr in seiner Gesamtheit über¬
sehbaren Wilhelm-Meister-Problem. Alle drei führen uns weg von der philo¬
sophischen Betrachtung in's streng genommen literarhistorische Getriebe. Das
sehr brauchbare wenn auch in seiner Grundtendenz zu einseitige Werk Günther
Jacobi's „Herder als Faust" wurde hier bereits besprochen. (Grenzboten 1913
Ur.15.) Ernst Traumann**) legt vorerst den ersten Band eines Faustkommentars
vor. Die erste Hälfte des Bandes enthält eine Darstellung, der Faustsage und der
Entstehungsgeschichte, die zweite Hälfte die Erklärung des ersten Teiles. Im wesent¬
lichen steht Traumann auf Kuno Fischers und Minors Schultern, nicht ohne das
seither Gesicherte der neueren Spezialforschung in der besten Weise zu benutzen
und im einzelnen gelegentlich auch Neues zu bieten. Die Abweichung von Minor
ist in einem Punkt grundsätzlich bemerkbar, doch kann ich nicht umhin, die
Neuerung als wenig glücklich zu bezeichnen. Minor behandelt Urfaust und
Fragment in eigenen, diesen Phasen besonders gewidmeten Erklärungen. Trau¬
mann behandelt sie bloß als Entwicklungsstufen und „erklärt" eigentlich nur
den fertigen ersten Teil. Im Wesen der drei oder wenigstens der zwei Werke
liegt dieses Verfahren nicht begründet. Mag man immerhin das Fragment von
1790 nur als Zwischenstufe gelten lassen, der Urfaust ist ein Werk für sich, das
ganz andere Erklärungen erheischt als der erste Teil und das mit der entwick¬
lungsgeschichtlichen Betrachtung nur von der einen Seite erhellt wird. Das
Minorsche Verfahren der Fausterklärung dürfte schon als das klassische bezeichnet




") „Goethe" von Thomas Carlyle. Berlin im Verlag Neues Leben, Wilhelm Born-
gröber.
**) „Goethes Faust." Nach Entstehung und Inhalt erklärt von Ernst Traumann. Zwei
Bände. I. Band: Der Tragödie erster Teil. C. H. Bccksche Verlagsbuchhandlung München,
1913. 4S9 Seiten.
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[0619] Neuere Goethe-Literatur Goethe zum erstenmal ermöglicht, und in Zukunft wird es die bisher so beliebte Art der Auswahl-Weltanschauungen des Dichters wenigstens der maßgebenden Goethe-Literatur ersparen. Simmeis Goethe-Werk ist nicht zum Einmal-lesen, sondern zum Gebrauch. Dem Goethe-Freunde stellt es im Urwald der Offen¬ barungen orientierende Gesichtspunkte auf, und der im Historisch-Äußerlichen so sehr befangenen Goethe-Forschung kann dieses Buch gerade das bieten, was sie am nötigsten braucht: Ideen. Ich wüßte nicht, wie ich die hohe Kulturwertigkeit des Simmelschen Werkes mit Worten tieferen Dankes und größerer Bewunderung zum Ausdruck bringen sollte. Das andere Werk, das Goethes Gesamtpersönlichkeit umfassend dieses Jahr erschien, ist eigentlich nur ein Neudruck oder Neuübersetzung, denn die Goethe- Aufsätze von Thomas Carlvle, die Paul Friedrich*) neu herausgegeben, gehören längst zum Bekanntesten in der Forschung so gut wie bei der Goethe-Gemeinde, und in den Einleitungen ist weder über Goethe noch über Carlvle irgendwie Erhebliches gesagt. Einzelnen Goethe-Werken sind drei ansehnliche Deutungsarbeiten gewidmet, zwei davon gelten Faust und eines dem nunmehr in seiner Gesamtheit über¬ sehbaren Wilhelm-Meister-Problem. Alle drei führen uns weg von der philo¬ sophischen Betrachtung in's streng genommen literarhistorische Getriebe. Das sehr brauchbare wenn auch in seiner Grundtendenz zu einseitige Werk Günther Jacobi's „Herder als Faust" wurde hier bereits besprochen. (Grenzboten 1913 Ur.15.) Ernst Traumann**) legt vorerst den ersten Band eines Faustkommentars vor. Die erste Hälfte des Bandes enthält eine Darstellung, der Faustsage und der Entstehungsgeschichte, die zweite Hälfte die Erklärung des ersten Teiles. Im wesent¬ lichen steht Traumann auf Kuno Fischers und Minors Schultern, nicht ohne das seither Gesicherte der neueren Spezialforschung in der besten Weise zu benutzen und im einzelnen gelegentlich auch Neues zu bieten. Die Abweichung von Minor ist in einem Punkt grundsätzlich bemerkbar, doch kann ich nicht umhin, die Neuerung als wenig glücklich zu bezeichnen. Minor behandelt Urfaust und Fragment in eigenen, diesen Phasen besonders gewidmeten Erklärungen. Trau¬ mann behandelt sie bloß als Entwicklungsstufen und „erklärt" eigentlich nur den fertigen ersten Teil. Im Wesen der drei oder wenigstens der zwei Werke liegt dieses Verfahren nicht begründet. Mag man immerhin das Fragment von 1790 nur als Zwischenstufe gelten lassen, der Urfaust ist ein Werk für sich, das ganz andere Erklärungen erheischt als der erste Teil und das mit der entwick¬ lungsgeschichtlichen Betrachtung nur von der einen Seite erhellt wird. Das Minorsche Verfahren der Fausterklärung dürfte schon als das klassische bezeichnet ") „Goethe" von Thomas Carlyle. Berlin im Verlag Neues Leben, Wilhelm Born- gröber. **) „Goethes Faust." Nach Entstehung und Inhalt erklärt von Ernst Traumann. Zwei Bände. I. Band: Der Tragödie erster Teil. C. H. Bccksche Verlagsbuchhandlung München, 1913. 4S9 Seiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/619>, abgerufen am 20.10.2024.