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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur

dann alles zum Entzücken. Wir hatten die Teile in der Hand: "fehlt leider!
nur das geistige Band". Der Versuch, den Max Heynacher*) in seinem Sammcl-
band: "Goethes Philosophie aus seineu Werken" unternommen, schlug trotz seiner
Abwendung von solcher Einseitigkeit fehl. Die historische Ableitung der sich
widersprechenden Gedankeninhalte aus den verschiedenen Philosophien hilft doch
nichtweg über die bestehende inhaltliche Diskrepanz. DieErklärung aber, dem Dichter
und namentlich Goethen komme es nicht an auf den Gedankeninhalt, bloß auf
die Gedankenform, kann uns nicht beruhigen. Das ist eine Oberflächlichkeit, die
uns nicht allein den Weg zu Goethe verfehlen macht, sondern im schalsten
Artistentum mündet. Auch geht die Stellenauswahl Heynachers, die er dann
seiner Abstraktion zugrunde legt, von einem falschen Prinzip aus. Es sollen
die "philosophischen" Stellen sein. Das ist nun so goethewidrig wie nur
denkbar, denn wohl nie war ein Dichter bei aller Erdenhaftigkeit seines Seins,
bei aller Unersättlichkeit seiner Sinne so ununterbrochen auf das Transzendente,
auf die Idee eingestellt wie Goethe, kaum hat außer Plato noch bei einem
anderen die Idee so vollkommen die Erfahrung antizipiert wie bei Goethe. Bei
einem solchen Dichter sind alle Stellen philosophisch und jede Auswahl ist an
sich schon Fälschung.

Mit diesen Wegen hat die formale Denkkraft Simmels, die Überstofflichkeit
seiner Auffassung Goethescher Äußerung gebrochen. Nur eine formale Idee
konnte über die philosophische Kluft hinweghelfen. Sie war in tausend Aus¬
sprüchen über Goethe schon vorher vorhanden. Simmel aber hat sie begrifflich
rein ausgestaltet und an den einzelnen Widersetzlichkeiten der Goethescher In¬
halte dargestellt. Die begrifflich reine und vollständige Polarität des Goethescher
Geistesmechanismus ist diese Idee; sie involviert den Grundsatz des beweglichen
Gesetzes, der lebendigen Einheit, die frei in sich ruhend dennoch alle Mannig¬
faltigkeit der Erscheinung einschließt. "Geprägte Form, die lebend sich ent¬
wickelt -- darin liegt das ganze Problem. Denn das ist ja eben die Frage,
die diese Formulierung gar nicht als Frage anerkennt: wie die Form leben
kann, wie das schon Geprägte sich noch entwickeln kann, oder ob überhaupt
Geprägtheit und Entwicklung nicht eine Unvereinbarkeit sind (S. 81). Gewiß
wird die tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig lebendigem Werden und
der Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht verneint, daß diese Gestalten
ReihenMden" (S. 82). Aber Simmel will diese Fremdheit, eben die unversöhn¬
liche logische Diskrepanz in dem Goethescher Denken weder leugnen, noch weg¬
denken, noch auch erklären was unerklärbar ist.

Im Gegenteil: aufs schärfste, klarste arbeitet er den Gegensatz mit dem
Nebeneinander der widerspruchsvollsten Stellen heraus -- dies ist aber Vorarbeit.
Wo die anderen aufhören, da fängt er an. Das gesamte Gebiet Goethescher



^Philosophische Bibliothek, Bd. 109. Goethes Philosophie aus seinen Werken. Mit
Einlage herausgegeben von Max Heynacher, Leipzig 1906. Verlag der Dürrschen Buch¬
handlung. 3,60 Mark.
Neuere Goethe-Literatur

dann alles zum Entzücken. Wir hatten die Teile in der Hand: „fehlt leider!
nur das geistige Band". Der Versuch, den Max Heynacher*) in seinem Sammcl-
band: „Goethes Philosophie aus seineu Werken" unternommen, schlug trotz seiner
Abwendung von solcher Einseitigkeit fehl. Die historische Ableitung der sich
widersprechenden Gedankeninhalte aus den verschiedenen Philosophien hilft doch
nichtweg über die bestehende inhaltliche Diskrepanz. DieErklärung aber, dem Dichter
und namentlich Goethen komme es nicht an auf den Gedankeninhalt, bloß auf
die Gedankenform, kann uns nicht beruhigen. Das ist eine Oberflächlichkeit, die
uns nicht allein den Weg zu Goethe verfehlen macht, sondern im schalsten
Artistentum mündet. Auch geht die Stellenauswahl Heynachers, die er dann
seiner Abstraktion zugrunde legt, von einem falschen Prinzip aus. Es sollen
die „philosophischen" Stellen sein. Das ist nun so goethewidrig wie nur
denkbar, denn wohl nie war ein Dichter bei aller Erdenhaftigkeit seines Seins,
bei aller Unersättlichkeit seiner Sinne so ununterbrochen auf das Transzendente,
auf die Idee eingestellt wie Goethe, kaum hat außer Plato noch bei einem
anderen die Idee so vollkommen die Erfahrung antizipiert wie bei Goethe. Bei
einem solchen Dichter sind alle Stellen philosophisch und jede Auswahl ist an
sich schon Fälschung.

Mit diesen Wegen hat die formale Denkkraft Simmels, die Überstofflichkeit
seiner Auffassung Goethescher Äußerung gebrochen. Nur eine formale Idee
konnte über die philosophische Kluft hinweghelfen. Sie war in tausend Aus¬
sprüchen über Goethe schon vorher vorhanden. Simmel aber hat sie begrifflich
rein ausgestaltet und an den einzelnen Widersetzlichkeiten der Goethescher In¬
halte dargestellt. Die begrifflich reine und vollständige Polarität des Goethescher
Geistesmechanismus ist diese Idee; sie involviert den Grundsatz des beweglichen
Gesetzes, der lebendigen Einheit, die frei in sich ruhend dennoch alle Mannig¬
faltigkeit der Erscheinung einschließt. „Geprägte Form, die lebend sich ent¬
wickelt — darin liegt das ganze Problem. Denn das ist ja eben die Frage,
die diese Formulierung gar nicht als Frage anerkennt: wie die Form leben
kann, wie das schon Geprägte sich noch entwickeln kann, oder ob überhaupt
Geprägtheit und Entwicklung nicht eine Unvereinbarkeit sind (S. 81). Gewiß
wird die tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig lebendigem Werden und
der Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht verneint, daß diese Gestalten
ReihenMden" (S. 82). Aber Simmel will diese Fremdheit, eben die unversöhn¬
liche logische Diskrepanz in dem Goethescher Denken weder leugnen, noch weg¬
denken, noch auch erklären was unerklärbar ist.

Im Gegenteil: aufs schärfste, klarste arbeitet er den Gegensatz mit dem
Nebeneinander der widerspruchsvollsten Stellen heraus — dies ist aber Vorarbeit.
Wo die anderen aufhören, da fängt er an. Das gesamte Gebiet Goethescher



^Philosophische Bibliothek, Bd. 109. Goethes Philosophie aus seinen Werken. Mit
Einlage herausgegeben von Max Heynacher, Leipzig 1906. Verlag der Dürrschen Buch¬
handlung. 3,60 Mark.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/617>, abgerufen am 19.10.2024.