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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Briefe und Memoiren

lieb kam ihnen in den Sinn. Und da heut schon soviel gesungen war, wollten
sie sich auch hören lassen. Aus jungen Kehlen hallte es frisch über den Schnee,
das Lied vom Heimatland:

Kein Widerspruch wurde laut. Nach dem Ernst der Stunde behielt die
zukunftfrohe Jugend das Wort. Und durch die verkohlten Sparren des Pfarr¬
hofdachs, durch die Fensterhöhlen der Kirche leuchtete tröstlich der blaue
Himmel. . . .




Briefe und Memoiren
Beda prilipp v on in

le letzten Monate haben uns eine reiche Auslese von Memoiren
und Briefen gebracht. Eine bunte Reihe von Bildnissen, in
täuschendem Schein noch durchströmt und durchwärmt von dem
roten Quell des Lebens, der den Augen Glanz und Ausdruck,
den Gliedern ihre charakteristische Beweglichkeit lieh, schaut uns
aus diesen Blättern an. Denn wenn in allem, was uns das Lebenswerk eines
bedeutenden Menschen überliefert, sein vergeistigtes Selbst fortleben kann, so
scheint sich dieses Erbe doch sehr bald nach dem Scheiden einzugliedern in ein
Ganzes, das wiederum nur einen Arbeitsteil in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit bedeutet. Wie groß oder wie klein dieser Teil mit seinen hundert
Gliedern, hängt vom Standpunkte des Schauenden ab, ein Standpunkt, den die
Jahrhunderte in wechselnder Höhe und mit ebenso wechselndem Ausblick fest¬
legen.

Wie dem auch sei -- das einzelne Individuum erscheint in solcher Be"
trachtung nur wie eine rasch aufkräuselnde und ebenso rasch wieder zerfließende
Welle in einem unaufhaltsam flutenden Strom. In bewußtem oder unbewußten
Erkennen dieser Wahrheit sammeln wir heut so manches Blättchen, das sonst
wohl achtlos verflatterte, in dem Bemühen, in solchen flüchtigen Aspekten zu
haschen, was uns sonst unwiederbringlich entschlüpft: das Individuelle, das Per¬
sönliche. Das aber spiegelt sich nirgends so unmittelbar wieder als in ungezwun¬
genen Briefen. Auch die Selbstbiographie kommt ihnen nicht gleich. Es fehlt
ihr oft das Emporquellen aus dem Unbewußten, das der temperamentvollen



*) Mein Heimatland, mein Stolz und Freude.
Briefe und Memoiren

lieb kam ihnen in den Sinn. Und da heut schon soviel gesungen war, wollten
sie sich auch hören lassen. Aus jungen Kehlen hallte es frisch über den Schnee,
das Lied vom Heimatland:

Kein Widerspruch wurde laut. Nach dem Ernst der Stunde behielt die
zukunftfrohe Jugend das Wort. Und durch die verkohlten Sparren des Pfarr¬
hofdachs, durch die Fensterhöhlen der Kirche leuchtete tröstlich der blaue
Himmel. . . .




Briefe und Memoiren
Beda prilipp v on in

le letzten Monate haben uns eine reiche Auslese von Memoiren
und Briefen gebracht. Eine bunte Reihe von Bildnissen, in
täuschendem Schein noch durchströmt und durchwärmt von dem
roten Quell des Lebens, der den Augen Glanz und Ausdruck,
den Gliedern ihre charakteristische Beweglichkeit lieh, schaut uns
aus diesen Blättern an. Denn wenn in allem, was uns das Lebenswerk eines
bedeutenden Menschen überliefert, sein vergeistigtes Selbst fortleben kann, so
scheint sich dieses Erbe doch sehr bald nach dem Scheiden einzugliedern in ein
Ganzes, das wiederum nur einen Arbeitsteil in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit bedeutet. Wie groß oder wie klein dieser Teil mit seinen hundert
Gliedern, hängt vom Standpunkte des Schauenden ab, ein Standpunkt, den die
Jahrhunderte in wechselnder Höhe und mit ebenso wechselndem Ausblick fest¬
legen.

Wie dem auch sei — das einzelne Individuum erscheint in solcher Be»
trachtung nur wie eine rasch aufkräuselnde und ebenso rasch wieder zerfließende
Welle in einem unaufhaltsam flutenden Strom. In bewußtem oder unbewußten
Erkennen dieser Wahrheit sammeln wir heut so manches Blättchen, das sonst
wohl achtlos verflatterte, in dem Bemühen, in solchen flüchtigen Aspekten zu
haschen, was uns sonst unwiederbringlich entschlüpft: das Individuelle, das Per¬
sönliche. Das aber spiegelt sich nirgends so unmittelbar wieder als in ungezwun¬
genen Briefen. Auch die Selbstbiographie kommt ihnen nicht gleich. Es fehlt
ihr oft das Emporquellen aus dem Unbewußten, das der temperamentvollen



*) Mein Heimatland, mein Stolz und Freude.
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[0580] Briefe und Memoiren lieb kam ihnen in den Sinn. Und da heut schon soviel gesungen war, wollten sie sich auch hören lassen. Aus jungen Kehlen hallte es frisch über den Schnee, das Lied vom Heimatland: Kein Widerspruch wurde laut. Nach dem Ernst der Stunde behielt die zukunftfrohe Jugend das Wort. Und durch die verkohlten Sparren des Pfarr¬ hofdachs, durch die Fensterhöhlen der Kirche leuchtete tröstlich der blaue Himmel. . . . Briefe und Memoiren Beda prilipp v on in le letzten Monate haben uns eine reiche Auslese von Memoiren und Briefen gebracht. Eine bunte Reihe von Bildnissen, in täuschendem Schein noch durchströmt und durchwärmt von dem roten Quell des Lebens, der den Augen Glanz und Ausdruck, den Gliedern ihre charakteristische Beweglichkeit lieh, schaut uns aus diesen Blättern an. Denn wenn in allem, was uns das Lebenswerk eines bedeutenden Menschen überliefert, sein vergeistigtes Selbst fortleben kann, so scheint sich dieses Erbe doch sehr bald nach dem Scheiden einzugliedern in ein Ganzes, das wiederum nur einen Arbeitsteil in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit bedeutet. Wie groß oder wie klein dieser Teil mit seinen hundert Gliedern, hängt vom Standpunkte des Schauenden ab, ein Standpunkt, den die Jahrhunderte in wechselnder Höhe und mit ebenso wechselndem Ausblick fest¬ legen. Wie dem auch sei — das einzelne Individuum erscheint in solcher Be» trachtung nur wie eine rasch aufkräuselnde und ebenso rasch wieder zerfließende Welle in einem unaufhaltsam flutenden Strom. In bewußtem oder unbewußten Erkennen dieser Wahrheit sammeln wir heut so manches Blättchen, das sonst wohl achtlos verflatterte, in dem Bemühen, in solchen flüchtigen Aspekten zu haschen, was uns sonst unwiederbringlich entschlüpft: das Individuelle, das Per¬ sönliche. Das aber spiegelt sich nirgends so unmittelbar wieder als in ungezwun¬ genen Briefen. Auch die Selbstbiographie kommt ihnen nicht gleich. Es fehlt ihr oft das Emporquellen aus dem Unbewußten, das der temperamentvollen *) Mein Heimatland, mein Stolz und Freude.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/580>, abgerufen am 19.10.2024.