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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Die mächtige Melodie schallte sieghaft über den Totenacker und riß auch
die Bauern mit sich fort, daß sie in chemischer Sprache hell und laut einfielen.
Wie ein Wasserfall in den Bergen rauschte es zu Tal und wälzte sich strom¬
gleich dahin.

Dem Chorus begegnete der Rhythmus der neuen Weise -- in schriller Dis¬
harmonie prallten die beiden zusammen, aber die Orgelgewalt des Reformations¬
liedes erwies sich stärker als der wilde Sang.

Da hob der Pastor, Schweigen gebietend, seinen Arm. Und so zwingend
war der Ausdruck seines begeisterten Auges, und so bebte seine Stimme von
innerer Gewalt, daß die roten Scharen verstummten und ihn zu Worte kommen
ließen:

"Zwei Freiheitslieder sind eben über dieses Grab hinweggerauscht. Das
alte, mit dem Martin Luther die morschen Mauer" des Papsttums zertrümmerte,
und das neue, in dem das Sehnen der Völker nach Ausdruck ringt. Dort oben
ehrten wir den Opfermut eines chemischen Mannes, der seinem Herrn mehr als
ein Diener, der ihm ein Freund gewesen war. Ihr alle wißt, daß Förster
Sandberg mit derselben Treue zu seinem Volke hielt. Auch der Mann, um
dessen Sarg wir uns hier unten versammelt haben, liebte sein Volk und starb
mit den Worten: Mein Heimatland, mein liebes Heimatland!' War er wirklich
unserer Welt so fern, daß er das Schwert gegen uns ziehen mußte? Wir alle
lieben die Scholle, die uns das Leben gab. Wir alle lieben unser Heimatland.
So mag denn diese Liebe auch das Band werden, das die zerrissenen Teile
unserer Volksseele wieder zusammenknüpft. Vereinigen wir uns deshalb in der
Bitte zu Gott, er möge auch diesem Toten gnädig sein:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und hatte kindische An¬
schläge. Da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einen dunklen Ort, dann aber von
Angesicht zu Angesicht --

Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe -- diese drei, die Liebe aber
ist die größte unter ihnen!"

Die letzten Worte hatte Pastor Tannebaum mit weithin schallender Stimme
gesprochen. Dann gab er das Zeichen, den Sarg in die Grube hinabzulassen.
Ohne Zwischenfall wurde die Zeremonie zu Ende geführt.

Erst außerhalb des Friedhofs schien sich die rote Schar bewußt zu werden,
daß ihre Absicht, die Kirche und ihren Vertreter zu verhöhnen, vereitelt war.
Schon hörte man wieder vereinzelt den Kampfgesang erklingen. Aber die Dorf¬
jugend, die neugierig über die Mauer gelugt hatte, wurde an diesem heiteren
Wintertag von gleicher Sangesfreudigkeit ergriffen. Sie hatten den Pastor in
seiner chemischen Ansprache zitieren hören: "Nu isamaa!" Das chemische Heimath-


Sturm

Die mächtige Melodie schallte sieghaft über den Totenacker und riß auch
die Bauern mit sich fort, daß sie in chemischer Sprache hell und laut einfielen.
Wie ein Wasserfall in den Bergen rauschte es zu Tal und wälzte sich strom¬
gleich dahin.

Dem Chorus begegnete der Rhythmus der neuen Weise — in schriller Dis¬
harmonie prallten die beiden zusammen, aber die Orgelgewalt des Reformations¬
liedes erwies sich stärker als der wilde Sang.

Da hob der Pastor, Schweigen gebietend, seinen Arm. Und so zwingend
war der Ausdruck seines begeisterten Auges, und so bebte seine Stimme von
innerer Gewalt, daß die roten Scharen verstummten und ihn zu Worte kommen
ließen:

„Zwei Freiheitslieder sind eben über dieses Grab hinweggerauscht. Das
alte, mit dem Martin Luther die morschen Mauer» des Papsttums zertrümmerte,
und das neue, in dem das Sehnen der Völker nach Ausdruck ringt. Dort oben
ehrten wir den Opfermut eines chemischen Mannes, der seinem Herrn mehr als
ein Diener, der ihm ein Freund gewesen war. Ihr alle wißt, daß Förster
Sandberg mit derselben Treue zu seinem Volke hielt. Auch der Mann, um
dessen Sarg wir uns hier unten versammelt haben, liebte sein Volk und starb
mit den Worten: Mein Heimatland, mein liebes Heimatland!' War er wirklich
unserer Welt so fern, daß er das Schwert gegen uns ziehen mußte? Wir alle
lieben die Scholle, die uns das Leben gab. Wir alle lieben unser Heimatland.
So mag denn diese Liebe auch das Band werden, das die zerrissenen Teile
unserer Volksseele wieder zusammenknüpft. Vereinigen wir uns deshalb in der
Bitte zu Gott, er möge auch diesem Toten gnädig sein:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und hatte kindische An¬
schläge. Da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einen dunklen Ort, dann aber von
Angesicht zu Angesicht —

Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe — diese drei, die Liebe aber
ist die größte unter ihnen!"

Die letzten Worte hatte Pastor Tannebaum mit weithin schallender Stimme
gesprochen. Dann gab er das Zeichen, den Sarg in die Grube hinabzulassen.
Ohne Zwischenfall wurde die Zeremonie zu Ende geführt.

Erst außerhalb des Friedhofs schien sich die rote Schar bewußt zu werden,
daß ihre Absicht, die Kirche und ihren Vertreter zu verhöhnen, vereitelt war.
Schon hörte man wieder vereinzelt den Kampfgesang erklingen. Aber die Dorf¬
jugend, die neugierig über die Mauer gelugt hatte, wurde an diesem heiteren
Wintertag von gleicher Sangesfreudigkeit ergriffen. Sie hatten den Pastor in
seiner chemischen Ansprache zitieren hören: „Nu isamaa!" Das chemische Heimath-


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[0579] Sturm Die mächtige Melodie schallte sieghaft über den Totenacker und riß auch die Bauern mit sich fort, daß sie in chemischer Sprache hell und laut einfielen. Wie ein Wasserfall in den Bergen rauschte es zu Tal und wälzte sich strom¬ gleich dahin. Dem Chorus begegnete der Rhythmus der neuen Weise — in schriller Dis¬ harmonie prallten die beiden zusammen, aber die Orgelgewalt des Reformations¬ liedes erwies sich stärker als der wilde Sang. Da hob der Pastor, Schweigen gebietend, seinen Arm. Und so zwingend war der Ausdruck seines begeisterten Auges, und so bebte seine Stimme von innerer Gewalt, daß die roten Scharen verstummten und ihn zu Worte kommen ließen: „Zwei Freiheitslieder sind eben über dieses Grab hinweggerauscht. Das alte, mit dem Martin Luther die morschen Mauer» des Papsttums zertrümmerte, und das neue, in dem das Sehnen der Völker nach Ausdruck ringt. Dort oben ehrten wir den Opfermut eines chemischen Mannes, der seinem Herrn mehr als ein Diener, der ihm ein Freund gewesen war. Ihr alle wißt, daß Förster Sandberg mit derselben Treue zu seinem Volke hielt. Auch der Mann, um dessen Sarg wir uns hier unten versammelt haben, liebte sein Volk und starb mit den Worten: Mein Heimatland, mein liebes Heimatland!' War er wirklich unserer Welt so fern, daß er das Schwert gegen uns ziehen mußte? Wir alle lieben die Scholle, die uns das Leben gab. Wir alle lieben unser Heimatland. So mag denn diese Liebe auch das Band werden, das die zerrissenen Teile unserer Volksseele wieder zusammenknüpft. Vereinigen wir uns deshalb in der Bitte zu Gott, er möge auch diesem Toten gnädig sein: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und hatte kindische An¬ schläge. Da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einen dunklen Ort, dann aber von Angesicht zu Angesicht — Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe — diese drei, die Liebe aber ist die größte unter ihnen!" Die letzten Worte hatte Pastor Tannebaum mit weithin schallender Stimme gesprochen. Dann gab er das Zeichen, den Sarg in die Grube hinabzulassen. Ohne Zwischenfall wurde die Zeremonie zu Ende geführt. Erst außerhalb des Friedhofs schien sich die rote Schar bewußt zu werden, daß ihre Absicht, die Kirche und ihren Vertreter zu verhöhnen, vereitelt war. Schon hörte man wieder vereinzelt den Kampfgesang erklingen. Aber die Dorf¬ jugend, die neugierig über die Mauer gelugt hatte, wurde an diesem heiteren Wintertag von gleicher Sangesfreudigkeit ergriffen. Sie hatten den Pastor in seiner chemischen Ansprache zitieren hören: „Nu isamaa!" Das chemische Heimath-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/579>, abgerufen am 19.10.2024.