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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Europa

ihn in sich trägt und ihn nur auszusprechen braucht. Ja, vielleicht genügt
es auch noch nicht, daß solch ein Mensch komme und ins gebildete, allzu gebildete
Europa hinein seine Botschaft verkünde; vielleicht gehört dazu ein Volk, das vor¬
bereitet ist, diese Botschaft aufzunehmen und ihr eine nationale Resonanz zu
geben.

Die Krisis des europäischen Nihilismus erleben wir Juden mitsamt dem
übrigen Europa. Seine Zweifel sind auch unsere Zweifel, fein Bedürfnis nach
einer neuen Rechtfertigung der Welt -- oder, um ein altes, wenn auch mi߬
verständliches Wort zu gebrauchen: nach einer neuen Religion -- ist auch unser
Bedürfnis. Wenn die Phrase von der Mission eines Volkes einen Sinn haben
soll, so kann es nur der sein: seine Mission, das sind seine Fähigkeiten, seine
latenten Kräfte, seine Entwicklungsmöglichkeiten. Und nach allem, was wir von
der jüdischen Psyche wissen und meinen, glaube ich -- wenn wir nur erst den
nationalen Zusammenschluß wiedergefunden haben, und wenn die Millionen
Kräfte wieder auf ein Ziel hinwirken können -- ich glaube, daß das Volk der
Juden den neuen Sinn der Welt aus sich herausgebären wird, ich glaube, daß
dieser neue Sinn, die Antwort auf eine immer drohender tönende Frage wie
eine elektrische Spannung in ihm liegt und, sobald die äußeren Bedingungen
nationalen Lebens gegeben sind, sich entladen muß.

Seltsamer Kreislauf I Nachdem wir einen und vielleicht den stärksten An¬
stoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben haben, nachdem wir lange Jahr¬
hunderte nur unterirdisch im Strom der europäischen Entwicklung mitgeführt
wurden, nachdem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und aus
ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gesogen haben: stellen wir uns nun,
als letzte Konsequenz europäischer Lehren, entschlossen außerhalb Europas. Wir
werden hypereuropäisch, und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten
geht von Judäa das Heil aus.




Die Juden und Europa

ihn in sich trägt und ihn nur auszusprechen braucht. Ja, vielleicht genügt
es auch noch nicht, daß solch ein Mensch komme und ins gebildete, allzu gebildete
Europa hinein seine Botschaft verkünde; vielleicht gehört dazu ein Volk, das vor¬
bereitet ist, diese Botschaft aufzunehmen und ihr eine nationale Resonanz zu
geben.

Die Krisis des europäischen Nihilismus erleben wir Juden mitsamt dem
übrigen Europa. Seine Zweifel sind auch unsere Zweifel, fein Bedürfnis nach
einer neuen Rechtfertigung der Welt — oder, um ein altes, wenn auch mi߬
verständliches Wort zu gebrauchen: nach einer neuen Religion — ist auch unser
Bedürfnis. Wenn die Phrase von der Mission eines Volkes einen Sinn haben
soll, so kann es nur der sein: seine Mission, das sind seine Fähigkeiten, seine
latenten Kräfte, seine Entwicklungsmöglichkeiten. Und nach allem, was wir von
der jüdischen Psyche wissen und meinen, glaube ich — wenn wir nur erst den
nationalen Zusammenschluß wiedergefunden haben, und wenn die Millionen
Kräfte wieder auf ein Ziel hinwirken können — ich glaube, daß das Volk der
Juden den neuen Sinn der Welt aus sich herausgebären wird, ich glaube, daß
dieser neue Sinn, die Antwort auf eine immer drohender tönende Frage wie
eine elektrische Spannung in ihm liegt und, sobald die äußeren Bedingungen
nationalen Lebens gegeben sind, sich entladen muß.

Seltsamer Kreislauf I Nachdem wir einen und vielleicht den stärksten An¬
stoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben haben, nachdem wir lange Jahr¬
hunderte nur unterirdisch im Strom der europäischen Entwicklung mitgeführt
wurden, nachdem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und aus
ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gesogen haben: stellen wir uns nun,
als letzte Konsequenz europäischer Lehren, entschlossen außerhalb Europas. Wir
werden hypereuropäisch, und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten
geht von Judäa das Heil aus.




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[0566] Die Juden und Europa ihn in sich trägt und ihn nur auszusprechen braucht. Ja, vielleicht genügt es auch noch nicht, daß solch ein Mensch komme und ins gebildete, allzu gebildete Europa hinein seine Botschaft verkünde; vielleicht gehört dazu ein Volk, das vor¬ bereitet ist, diese Botschaft aufzunehmen und ihr eine nationale Resonanz zu geben. Die Krisis des europäischen Nihilismus erleben wir Juden mitsamt dem übrigen Europa. Seine Zweifel sind auch unsere Zweifel, fein Bedürfnis nach einer neuen Rechtfertigung der Welt — oder, um ein altes, wenn auch mi߬ verständliches Wort zu gebrauchen: nach einer neuen Religion — ist auch unser Bedürfnis. Wenn die Phrase von der Mission eines Volkes einen Sinn haben soll, so kann es nur der sein: seine Mission, das sind seine Fähigkeiten, seine latenten Kräfte, seine Entwicklungsmöglichkeiten. Und nach allem, was wir von der jüdischen Psyche wissen und meinen, glaube ich — wenn wir nur erst den nationalen Zusammenschluß wiedergefunden haben, und wenn die Millionen Kräfte wieder auf ein Ziel hinwirken können — ich glaube, daß das Volk der Juden den neuen Sinn der Welt aus sich herausgebären wird, ich glaube, daß dieser neue Sinn, die Antwort auf eine immer drohender tönende Frage wie eine elektrische Spannung in ihm liegt und, sobald die äußeren Bedingungen nationalen Lebens gegeben sind, sich entladen muß. Seltsamer Kreislauf I Nachdem wir einen und vielleicht den stärksten An¬ stoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben haben, nachdem wir lange Jahr¬ hunderte nur unterirdisch im Strom der europäischen Entwicklung mitgeführt wurden, nachdem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und aus ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gesogen haben: stellen wir uns nun, als letzte Konsequenz europäischer Lehren, entschlossen außerhalb Europas. Wir werden hypereuropäisch, und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten geht von Judäa das Heil aus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/566>, abgerufen am 28.12.2024.