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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Luropa

fehlen würde: diese Bedingung ist, daß die Welt überhaupt einen Sinn oder
einen Zweck habe. Mußten wir annehmen, daß die Welt absolut sinnlos wäre,
daß sie nicht wenigstens eine Aufwärts- und Vorwärtsbewegung darstellte, so
hätte auch die sittliche Forderung keine Berechtigung, und jeder Maßstab einer
Beurteilung des Sittlichen würde fehlen. In der jüdisch-christlichen Ethik ist
jener Sinn gewährleistet durch den Glauben an einen persönlichen Gott, in dem
das Gutsein sich rechtfertigt. Nun ist aber gerade dieser Glaube in der Auf¬
lösung begriffen; die wachsende Naturerkenntnis, vor allem die Entwicklungstheorie
hat dahin geführt, daß wir mehr und mehr uns von der Vorstellung eines
persönlichen Gottes emanzipieren. Namentlich ein Gott, der Gebote erläßt und
Lohn und Strafe spendet, ist uns ein unmöglicher Glaube geworden. Friedrich
Nietzsche hat am entschiedensten auf den Zustand hingewiesen, der entstehen muß,
wenn wir Gott, auf den wir jahrtausendelang all unsere Wertungen bezogen
haben und instinktiv noch beziehen, aus dieser Welt herausnehmen. Er nennt
ihn europäischen Nihilismus: ein Zustand der Verzweiflung, der völligen Rat-
und Ziellosigkeit. Nun könnte es ja einen Sinn und Zweck der Welt auch
außerhalb des persönlichen Gottes geben, z. B. im beständigen Fortschritt zum
Vollkommenerer. Allein wir stehen augenblicklich mindestens vor der Möglichkeit,
daß bewiesen werde, die Welt habe kein Ziel und keinen Zweck, sondern sei
blinde Kausalität und durchlaufe einen Kreislauf aus dem Chaos in das Chaos.
Genug, wir sehen uns heute gegenüber der Schwierigkeit, daß die einzige
Bedingung, unter der Kants Sittengesetz und die jüdisch-christliche Ethik gilt,
verloren zu gehen droht oder schon verloren ist; die Gefahr der europäischen
Geisteslage ist groß, und Nietzsche, der sie erkannt und ausgesprochen, hat auch
gleich das Mittel angegeben, ihr zu begegnen -- ein höchst geniales Mittel:
wenn die Welt keinen Sinn hat und wenn wir doch ohne diesen Sinn nicht
leben können, so muß der Mensch, vermöge seiner Fähigkeit des Werte¬
setzens, ihr einen Sinn geben. Dieser neue Sinn ist, in Nietzsches Formel,
bekanntlich der Übermensch.

Man darf heute, glaube ich, getrost behaupten, daß -- trotz des wachsenden
Einflusses Nietzsches -- sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert ist. Mit
aller Anstrengung eines heroischen Geisteslebens wird, neben der künstlerischen
und tausend anderen Anregungen, wie so oft am Ende nichts erreicht sein, als
daß Werte, die früher unterschätzt, wurden, künftig die rechte Geltung haben.
Aber den neuen Wert hat uns Nietzsche nicht gegeben, den Sinn der Welt nicht
wiedergefunden, die Gefahr des europäischen Nihilismus nicht beseitigt.

Und das kann nicht anders sein. Zwar hat Nietzsche ganz recht: der
Mensch selbst muß die Tat einer neuen Wertsetzung vollbringen. Aber nicht
der Mensch wird das tun, der die Notwendigkeit mit Hellem Verstände einsieht,
nicht der allzu gescheite, durch theoretisches Denken dahin gelangte Philosoph,
sondern die dumpfe, ihrer selbst nicht bewußte Genialität einer tief religiösen
Natur, einer, der nicht den Sinn der Welt sucht, sondern der ihn besitzt, der


Die Juden und Luropa

fehlen würde: diese Bedingung ist, daß die Welt überhaupt einen Sinn oder
einen Zweck habe. Mußten wir annehmen, daß die Welt absolut sinnlos wäre,
daß sie nicht wenigstens eine Aufwärts- und Vorwärtsbewegung darstellte, so
hätte auch die sittliche Forderung keine Berechtigung, und jeder Maßstab einer
Beurteilung des Sittlichen würde fehlen. In der jüdisch-christlichen Ethik ist
jener Sinn gewährleistet durch den Glauben an einen persönlichen Gott, in dem
das Gutsein sich rechtfertigt. Nun ist aber gerade dieser Glaube in der Auf¬
lösung begriffen; die wachsende Naturerkenntnis, vor allem die Entwicklungstheorie
hat dahin geführt, daß wir mehr und mehr uns von der Vorstellung eines
persönlichen Gottes emanzipieren. Namentlich ein Gott, der Gebote erläßt und
Lohn und Strafe spendet, ist uns ein unmöglicher Glaube geworden. Friedrich
Nietzsche hat am entschiedensten auf den Zustand hingewiesen, der entstehen muß,
wenn wir Gott, auf den wir jahrtausendelang all unsere Wertungen bezogen
haben und instinktiv noch beziehen, aus dieser Welt herausnehmen. Er nennt
ihn europäischen Nihilismus: ein Zustand der Verzweiflung, der völligen Rat-
und Ziellosigkeit. Nun könnte es ja einen Sinn und Zweck der Welt auch
außerhalb des persönlichen Gottes geben, z. B. im beständigen Fortschritt zum
Vollkommenerer. Allein wir stehen augenblicklich mindestens vor der Möglichkeit,
daß bewiesen werde, die Welt habe kein Ziel und keinen Zweck, sondern sei
blinde Kausalität und durchlaufe einen Kreislauf aus dem Chaos in das Chaos.
Genug, wir sehen uns heute gegenüber der Schwierigkeit, daß die einzige
Bedingung, unter der Kants Sittengesetz und die jüdisch-christliche Ethik gilt,
verloren zu gehen droht oder schon verloren ist; die Gefahr der europäischen
Geisteslage ist groß, und Nietzsche, der sie erkannt und ausgesprochen, hat auch
gleich das Mittel angegeben, ihr zu begegnen — ein höchst geniales Mittel:
wenn die Welt keinen Sinn hat und wenn wir doch ohne diesen Sinn nicht
leben können, so muß der Mensch, vermöge seiner Fähigkeit des Werte¬
setzens, ihr einen Sinn geben. Dieser neue Sinn ist, in Nietzsches Formel,
bekanntlich der Übermensch.

Man darf heute, glaube ich, getrost behaupten, daß — trotz des wachsenden
Einflusses Nietzsches — sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert ist. Mit
aller Anstrengung eines heroischen Geisteslebens wird, neben der künstlerischen
und tausend anderen Anregungen, wie so oft am Ende nichts erreicht sein, als
daß Werte, die früher unterschätzt, wurden, künftig die rechte Geltung haben.
Aber den neuen Wert hat uns Nietzsche nicht gegeben, den Sinn der Welt nicht
wiedergefunden, die Gefahr des europäischen Nihilismus nicht beseitigt.

Und das kann nicht anders sein. Zwar hat Nietzsche ganz recht: der
Mensch selbst muß die Tat einer neuen Wertsetzung vollbringen. Aber nicht
der Mensch wird das tun, der die Notwendigkeit mit Hellem Verstände einsieht,
nicht der allzu gescheite, durch theoretisches Denken dahin gelangte Philosoph,
sondern die dumpfe, ihrer selbst nicht bewußte Genialität einer tief religiösen
Natur, einer, der nicht den Sinn der Welt sucht, sondern der ihn besitzt, der


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[0565] Die Juden und Luropa fehlen würde: diese Bedingung ist, daß die Welt überhaupt einen Sinn oder einen Zweck habe. Mußten wir annehmen, daß die Welt absolut sinnlos wäre, daß sie nicht wenigstens eine Aufwärts- und Vorwärtsbewegung darstellte, so hätte auch die sittliche Forderung keine Berechtigung, und jeder Maßstab einer Beurteilung des Sittlichen würde fehlen. In der jüdisch-christlichen Ethik ist jener Sinn gewährleistet durch den Glauben an einen persönlichen Gott, in dem das Gutsein sich rechtfertigt. Nun ist aber gerade dieser Glaube in der Auf¬ lösung begriffen; die wachsende Naturerkenntnis, vor allem die Entwicklungstheorie hat dahin geführt, daß wir mehr und mehr uns von der Vorstellung eines persönlichen Gottes emanzipieren. Namentlich ein Gott, der Gebote erläßt und Lohn und Strafe spendet, ist uns ein unmöglicher Glaube geworden. Friedrich Nietzsche hat am entschiedensten auf den Zustand hingewiesen, der entstehen muß, wenn wir Gott, auf den wir jahrtausendelang all unsere Wertungen bezogen haben und instinktiv noch beziehen, aus dieser Welt herausnehmen. Er nennt ihn europäischen Nihilismus: ein Zustand der Verzweiflung, der völligen Rat- und Ziellosigkeit. Nun könnte es ja einen Sinn und Zweck der Welt auch außerhalb des persönlichen Gottes geben, z. B. im beständigen Fortschritt zum Vollkommenerer. Allein wir stehen augenblicklich mindestens vor der Möglichkeit, daß bewiesen werde, die Welt habe kein Ziel und keinen Zweck, sondern sei blinde Kausalität und durchlaufe einen Kreislauf aus dem Chaos in das Chaos. Genug, wir sehen uns heute gegenüber der Schwierigkeit, daß die einzige Bedingung, unter der Kants Sittengesetz und die jüdisch-christliche Ethik gilt, verloren zu gehen droht oder schon verloren ist; die Gefahr der europäischen Geisteslage ist groß, und Nietzsche, der sie erkannt und ausgesprochen, hat auch gleich das Mittel angegeben, ihr zu begegnen — ein höchst geniales Mittel: wenn die Welt keinen Sinn hat und wenn wir doch ohne diesen Sinn nicht leben können, so muß der Mensch, vermöge seiner Fähigkeit des Werte¬ setzens, ihr einen Sinn geben. Dieser neue Sinn ist, in Nietzsches Formel, bekanntlich der Übermensch. Man darf heute, glaube ich, getrost behaupten, daß — trotz des wachsenden Einflusses Nietzsches — sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert ist. Mit aller Anstrengung eines heroischen Geisteslebens wird, neben der künstlerischen und tausend anderen Anregungen, wie so oft am Ende nichts erreicht sein, als daß Werte, die früher unterschätzt, wurden, künftig die rechte Geltung haben. Aber den neuen Wert hat uns Nietzsche nicht gegeben, den Sinn der Welt nicht wiedergefunden, die Gefahr des europäischen Nihilismus nicht beseitigt. Und das kann nicht anders sein. Zwar hat Nietzsche ganz recht: der Mensch selbst muß die Tat einer neuen Wertsetzung vollbringen. Aber nicht der Mensch wird das tun, der die Notwendigkeit mit Hellem Verstände einsieht, nicht der allzu gescheite, durch theoretisches Denken dahin gelangte Philosoph, sondern die dumpfe, ihrer selbst nicht bewußte Genialität einer tief religiösen Natur, einer, der nicht den Sinn der Welt sucht, sondern der ihn besitzt, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/565>, abgerufen am 19.10.2024.