Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Juden und Europa

Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch gehalten, trotz¬
dem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen, trotzdem der Tempel in
Flammen aufging, das Volk in alle Winde zerstreut wurde und durch das
Martyrium der tiefsten Demütigung hindurchmußte. Es war eher bereit, sich
selbst die schwersten Sünden zuzuschreiben, als sein Schicksal für unverdient und
Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört zu glauben, daß es
ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der Einfall, dieses kleine, verachtete
und getretene Völklein, diese Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte
Volk Gottes und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen,
dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, erschütternd in seiner
grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, was der Geist über
den Leib vermag; es verrät auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der
Idee liegt. Denn die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen,
hat die Juden jahrtausendelang beherrscht und buchstäblich erhalten; ohne
diesen Glauben wäre die jüdische Nation verschwunden wie so manche andere
und größere.

Die Idee in ihrer Reinheit ist aber immer nur sür wenige. Die vielen
bedürfen der Symbole und Zeichen; sie veräußerlichen und materialisieren die
Idee, entfremden sie dem Leben und nehmen ihr den Sinn. Der einfache Ge¬
danke, das Volk Gottes zu sein, genügt nicht; man verlangt nach sinnfälligen
Ausdruck. Man setzt also die Idee in bestimmte Einzelvorschriften für das
tägliche Leben um; oder man legt alle Regeln der Sitte, des Rechtes, der
Hygiene als göttliche Gebote aus, in deren Beobachtung die Gottkindheit besteht,
durch deren Übertretung man sich der göttlichen Auserwähltheit unwürdig macht,
Es entsteht der Pharisäismus: die Popularisierung und Materialisierung einer
Idee bei einem Volke von Spiritualisten und Ideologen. In den peinlichen
Umständlichkeiten der Speisegesetze und den Erschwerungen der Sabbatruhe liegt
deshalb Größe, weil man ohne praktische Rücksichten sich tausend Mühseligkeiten
auferlegt, um der Idee zu dienen; wer diese Lasten auf sich nimmt, beweist
ein fanatisches Verhältnis zur Idee -- die Idee mag immerhin klein und leer
geworden sein.

Pharisäismus ist eine Volkskrankheit, die nicht erst mit dem Untergang des
Tempels entstand, sondern bis auf die Zeiten Esras zurückgeht. Sie hat die
Lebenskraft des jüdischen Staates aufgesogen; denn eine Nation, die am Sabbat
nicht kämpfen darf oder es nur mit bösem Gewissen tut, ist in dieser Welt nicht
existenzfähig. Aber die Krankheit war zugleich unsere Rettung. Wäre nur ein¬
fach ein Volk von den Röniern unterworfen und ihre Hauptstadt zerstört worden,
so gäbe es dieses Volk heute nicht mehr; es wäre von ihm, wie von den Kar¬
thagern, nichts übrig als der Name. Hier aber hatte die Versteinerung den
Baum so weit ergriffen, daß er den Verlust des Bodens ertrug. Was für
jeden anderen Organismus tödlich gewesen wäre: diesem in seinen Panzer
starrer Ideologie eingeschlossenen vermochte es nicht mehr zu schaden. Er


Die Juden und Europa

Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch gehalten, trotz¬
dem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen, trotzdem der Tempel in
Flammen aufging, das Volk in alle Winde zerstreut wurde und durch das
Martyrium der tiefsten Demütigung hindurchmußte. Es war eher bereit, sich
selbst die schwersten Sünden zuzuschreiben, als sein Schicksal für unverdient und
Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört zu glauben, daß es
ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der Einfall, dieses kleine, verachtete
und getretene Völklein, diese Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte
Volk Gottes und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen,
dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, erschütternd in seiner
grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, was der Geist über
den Leib vermag; es verrät auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der
Idee liegt. Denn die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen,
hat die Juden jahrtausendelang beherrscht und buchstäblich erhalten; ohne
diesen Glauben wäre die jüdische Nation verschwunden wie so manche andere
und größere.

Die Idee in ihrer Reinheit ist aber immer nur sür wenige. Die vielen
bedürfen der Symbole und Zeichen; sie veräußerlichen und materialisieren die
Idee, entfremden sie dem Leben und nehmen ihr den Sinn. Der einfache Ge¬
danke, das Volk Gottes zu sein, genügt nicht; man verlangt nach sinnfälligen
Ausdruck. Man setzt also die Idee in bestimmte Einzelvorschriften für das
tägliche Leben um; oder man legt alle Regeln der Sitte, des Rechtes, der
Hygiene als göttliche Gebote aus, in deren Beobachtung die Gottkindheit besteht,
durch deren Übertretung man sich der göttlichen Auserwähltheit unwürdig macht,
Es entsteht der Pharisäismus: die Popularisierung und Materialisierung einer
Idee bei einem Volke von Spiritualisten und Ideologen. In den peinlichen
Umständlichkeiten der Speisegesetze und den Erschwerungen der Sabbatruhe liegt
deshalb Größe, weil man ohne praktische Rücksichten sich tausend Mühseligkeiten
auferlegt, um der Idee zu dienen; wer diese Lasten auf sich nimmt, beweist
ein fanatisches Verhältnis zur Idee — die Idee mag immerhin klein und leer
geworden sein.

Pharisäismus ist eine Volkskrankheit, die nicht erst mit dem Untergang des
Tempels entstand, sondern bis auf die Zeiten Esras zurückgeht. Sie hat die
Lebenskraft des jüdischen Staates aufgesogen; denn eine Nation, die am Sabbat
nicht kämpfen darf oder es nur mit bösem Gewissen tut, ist in dieser Welt nicht
existenzfähig. Aber die Krankheit war zugleich unsere Rettung. Wäre nur ein¬
fach ein Volk von den Röniern unterworfen und ihre Hauptstadt zerstört worden,
so gäbe es dieses Volk heute nicht mehr; es wäre von ihm, wie von den Kar¬
thagern, nichts übrig als der Name. Hier aber hatte die Versteinerung den
Baum so weit ergriffen, daß er den Verlust des Bodens ertrug. Was für
jeden anderen Organismus tödlich gewesen wäre: diesem in seinen Panzer
starrer Ideologie eingeschlossenen vermochte es nicht mehr zu schaden. Er


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0561" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326731"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Juden und Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2703"> Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch gehalten, trotz¬<lb/>
dem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen, trotzdem der Tempel in<lb/>
Flammen aufging, das Volk in alle Winde zerstreut wurde und durch das<lb/>
Martyrium der tiefsten Demütigung hindurchmußte. Es war eher bereit, sich<lb/>
selbst die schwersten Sünden zuzuschreiben, als sein Schicksal für unverdient und<lb/>
Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört zu glauben, daß es<lb/>
ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der Einfall, dieses kleine, verachtete<lb/>
und getretene Völklein, diese Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte<lb/>
Volk Gottes und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen,<lb/>
dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, erschütternd in seiner<lb/>
grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, was der Geist über<lb/>
den Leib vermag; es verrät auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der<lb/>
Idee liegt. Denn die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen,<lb/>
hat die Juden jahrtausendelang beherrscht und buchstäblich erhalten; ohne<lb/>
diesen Glauben wäre die jüdische Nation verschwunden wie so manche andere<lb/>
und größere.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2704"> Die Idee in ihrer Reinheit ist aber immer nur sür wenige. Die vielen<lb/>
bedürfen der Symbole und Zeichen; sie veräußerlichen und materialisieren die<lb/>
Idee, entfremden sie dem Leben und nehmen ihr den Sinn. Der einfache Ge¬<lb/>
danke, das Volk Gottes zu sein, genügt nicht; man verlangt nach sinnfälligen<lb/>
Ausdruck. Man setzt also die Idee in bestimmte Einzelvorschriften für das<lb/>
tägliche Leben um; oder man legt alle Regeln der Sitte, des Rechtes, der<lb/>
Hygiene als göttliche Gebote aus, in deren Beobachtung die Gottkindheit besteht,<lb/>
durch deren Übertretung man sich der göttlichen Auserwähltheit unwürdig macht,<lb/>
Es entsteht der Pharisäismus: die Popularisierung und Materialisierung einer<lb/>
Idee bei einem Volke von Spiritualisten und Ideologen. In den peinlichen<lb/>
Umständlichkeiten der Speisegesetze und den Erschwerungen der Sabbatruhe liegt<lb/>
deshalb Größe, weil man ohne praktische Rücksichten sich tausend Mühseligkeiten<lb/>
auferlegt, um der Idee zu dienen; wer diese Lasten auf sich nimmt, beweist<lb/>
ein fanatisches Verhältnis zur Idee &#x2014; die Idee mag immerhin klein und leer<lb/>
geworden sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2705" next="#ID_2706"> Pharisäismus ist eine Volkskrankheit, die nicht erst mit dem Untergang des<lb/>
Tempels entstand, sondern bis auf die Zeiten Esras zurückgeht. Sie hat die<lb/>
Lebenskraft des jüdischen Staates aufgesogen; denn eine Nation, die am Sabbat<lb/>
nicht kämpfen darf oder es nur mit bösem Gewissen tut, ist in dieser Welt nicht<lb/>
existenzfähig. Aber die Krankheit war zugleich unsere Rettung. Wäre nur ein¬<lb/>
fach ein Volk von den Röniern unterworfen und ihre Hauptstadt zerstört worden,<lb/>
so gäbe es dieses Volk heute nicht mehr; es wäre von ihm, wie von den Kar¬<lb/>
thagern, nichts übrig als der Name. Hier aber hatte die Versteinerung den<lb/>
Baum so weit ergriffen, daß er den Verlust des Bodens ertrug. Was für<lb/>
jeden anderen Organismus tödlich gewesen wäre: diesem in seinen Panzer<lb/>
starrer Ideologie eingeschlossenen vermochte es nicht mehr zu schaden. Er</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0561] Die Juden und Europa Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch gehalten, trotz¬ dem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen, trotzdem der Tempel in Flammen aufging, das Volk in alle Winde zerstreut wurde und durch das Martyrium der tiefsten Demütigung hindurchmußte. Es war eher bereit, sich selbst die schwersten Sünden zuzuschreiben, als sein Schicksal für unverdient und Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört zu glauben, daß es ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der Einfall, dieses kleine, verachtete und getretene Völklein, diese Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte Volk Gottes und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen, dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, erschütternd in seiner grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, was der Geist über den Leib vermag; es verrät auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der Idee liegt. Denn die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen, hat die Juden jahrtausendelang beherrscht und buchstäblich erhalten; ohne diesen Glauben wäre die jüdische Nation verschwunden wie so manche andere und größere. Die Idee in ihrer Reinheit ist aber immer nur sür wenige. Die vielen bedürfen der Symbole und Zeichen; sie veräußerlichen und materialisieren die Idee, entfremden sie dem Leben und nehmen ihr den Sinn. Der einfache Ge¬ danke, das Volk Gottes zu sein, genügt nicht; man verlangt nach sinnfälligen Ausdruck. Man setzt also die Idee in bestimmte Einzelvorschriften für das tägliche Leben um; oder man legt alle Regeln der Sitte, des Rechtes, der Hygiene als göttliche Gebote aus, in deren Beobachtung die Gottkindheit besteht, durch deren Übertretung man sich der göttlichen Auserwähltheit unwürdig macht, Es entsteht der Pharisäismus: die Popularisierung und Materialisierung einer Idee bei einem Volke von Spiritualisten und Ideologen. In den peinlichen Umständlichkeiten der Speisegesetze und den Erschwerungen der Sabbatruhe liegt deshalb Größe, weil man ohne praktische Rücksichten sich tausend Mühseligkeiten auferlegt, um der Idee zu dienen; wer diese Lasten auf sich nimmt, beweist ein fanatisches Verhältnis zur Idee — die Idee mag immerhin klein und leer geworden sein. Pharisäismus ist eine Volkskrankheit, die nicht erst mit dem Untergang des Tempels entstand, sondern bis auf die Zeiten Esras zurückgeht. Sie hat die Lebenskraft des jüdischen Staates aufgesogen; denn eine Nation, die am Sabbat nicht kämpfen darf oder es nur mit bösem Gewissen tut, ist in dieser Welt nicht existenzfähig. Aber die Krankheit war zugleich unsere Rettung. Wäre nur ein¬ fach ein Volk von den Röniern unterworfen und ihre Hauptstadt zerstört worden, so gäbe es dieses Volk heute nicht mehr; es wäre von ihm, wie von den Kar¬ thagern, nichts übrig als der Name. Hier aber hatte die Versteinerung den Baum so weit ergriffen, daß er den Verlust des Bodens ertrug. Was für jeden anderen Organismus tödlich gewesen wäre: diesem in seinen Panzer starrer Ideologie eingeschlossenen vermochte es nicht mehr zu schaden. Er

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/561
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/561>, abgerufen am 20.10.2024.